eJournals Frühförderung interdisziplinär 38/4

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2019
384

Stichwort: Partizipation

101
2019
Markus Spreer
Astrid Fink
Britta Gebhard
Der Begriff Partizipation lässt sich zunächst dem lateinischen Ursprung nach mit „Teilhabe“ übersetzen. Für eine Verwendung des Begriffs im Kontext von Menschen mit Beeinträchtigungen/Unterstützungsbedarfen/Behinderungen kann auf den gesetzlichen Anspruch der uneingeschränkten Teilhabe hingewiesen werden, wie er in der UN-BRK formuliert ist (United Nations 2006). [...]
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214 Frühförderung interdisziplinär, 38.-Jg., S.-214 - 217 (2019) DOI 10.2378/ fi2019.art27d © Ernst Reinhardt Verlag STICHWOR T Partizipation Markus Spreer, Astrid Fink, Britta Gebhard Der Begriff Partizipation lässt sich zunächst dem lateinischen Ursprung nach mit „Teilhabe“ übersetzen. Für eine Verwendung des Begriffs im Kontext von Menschen mit Beeinträchtigungen/ Unterstützungsbedarfen/ Behinderungen kann auf den gesetzlichen Anspruch der uneingeschränkten Teilhabe hingewiesen werden, wie er in der UN-BRK formuliert ist (United Nations 2006). Im englischsprachigen Originaltext ist von „participation“ die Rede, vielfach in Verbindung mit dem Zusatz „full“, also „umfassend“. Bei der Übersetzung ins Deutsche wurde participation allerdings durchgängig mit „Teilhabe“ übersetzt. Hierbei wird kritisiert, dass mit dieser Übersetzung wesentliche Aspekte, die die Konvention mit dem Begriff ,Partizipation‘ verbindet, etwa der Aspekt der Mitbestimmung, verloren gehen. In der Diskussion und Wahrnehmung der UN-BRK steht allerdings eher der Terminus „Inklusion“ im Vordergrund. Neben diesem gesetzlichen Anspruch verdeutlicht auch die bereits 2001 durch die WHO eingeführte International Classification of Functioning, Disabilities and Health (ICF) die Zielstellung der uneingeschränkten Teilhabe/ der vollständigen Partizipation eines Menschen. Hier werden die beiden Begriffe stets gekoppelt verwendet „Partizipation [Teilhabe]“ (DIMDI 2005). Definitorische Abgrenzungen von Partizipation stellen in der Regel die Beteiligung und Mitsprache in den Fokus (u. a. Booth et al. 2006, 13). Die Deutungen der unterschiedlich verwendeten und semantisch besetzten Formulierung zwischen „teilnehmen an“, „teilhaben an“ oder „beschäftigt sein in“, „anerkannt werden“ oder „Zugang haben“ (DIMDI 2005, 20) verweisen auf notwendige Anstrengungen zur Konzeptualisierung des Konstrukts Partizipation. Weitere Ausführungen zur definitorischen Einordnung finden sich beispielsweise bei Weiß (in diesem Heft). ICF-CY als Rahmen einer Operationalisierung In den meisten Fällen wird sich bei der Konzeptualisierung von Partizipation auf die ICF bzw. ICF-CY bezogen, wobei das biopsychosoziale Modell der WHO, das der ICF zugrunde liegt, natürlich eine wesentliche Rolle spielt. Die ICF ermöglicht, die Aktivitäten - gemeinsam mit Partizipation [Teilhabe], in den Mittelpunkt der Betrachtungen eines Gesundheitsproblems zu stellen. Dies entspricht nicht zuletzt beispielsweise auch der Realität in der Frühförderung, in der der Anlass zur Kontaktaufnahme durch die Eltern, deren Sorge, sich zumeist auf eine beobachtbare Auffälligkeit/ Störung der kindlichen Aktivitäten meist im Kontext mit der Partizipation [Teilhabe] in der Familie oder einer relevanten Umwelt (z. B. Peergroup, Kindergarten) bezieht (Wolf et al. 2016, 130). Die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen „Aktivitäten“ und „Partizipation [Teilhabe]“ hinsichtlich der formulierten Domänen sollen die Anwender der ICF-CY nach eigenen operationalen Regeln differenziert vornehmen. Die Domänen der ICF-CY zur Beschreibung von Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe] stecken den Rahmen relevanter Aspekte und Kontexte für Partizipationsbestrebungen ab, den Konzeptualisierungen abdecken können müssen (Hollenweger/ Kraus de Camargo 2017, 49): d1 Lernen und Wissensaneignung d2 Allgemeine Aufgaben und Anforderungen d3 Kommunikation d4 Mobilität d5 Selbstversorgung d6 Häusliches Leben d7 Interpersonelle Interaktion und Beziehungen d8 Bedeutende Lebensbereiche d9 Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben 215 FI 4/ 2019 Stichwort Partizipation - Modelle und Konzepte Als ein grundlegendes Modell für die Partizipation als Konstrukt wurde bereits 1969 von der USamerikanischen Planungstheoretikerin Sherry R. Arnstein die „ladder of participation“, ursprünglich für den Bereich der Stadtentwicklung, konzipiert (Arnstein 1969). In dieser Konzeption finden sich acht Stufen der „Partizipation“, beginnend mit Stufen der „Nicht-Partizipation“ (in Form von Fremdbestimmung bis hin zu Alibi- Teilhabe) und stufenweiser Zunahme der „Entscheidungsmacht“. Dieses Stufen-Modell ist in adaptierter Form auch heute noch im Kontext der partizipativen Gesundheitsforschung als Instrument für eine kritische Reflexion der Partizipation von Patient*innen in der Anwendung (Wright 2012). Die Autor*innen argumentieren, dass je mehr Einfluss eine Person auf einen Entscheidungsprozess einnimmt, umso größer seine/ ihre realisierte Partizipation ist (Wright et al. 2007). Für die Berücksichtigung der Komplexität des Konstrukts von Partizipation, das nicht nur Kontextvariablen, sondern auch persönliche Eigenschaften einbeziehen muss, lässt statt einer hierarchischen, unidimensionalen eine multidimensionale Konzeption sinnvoller erscheinen. Ausgehend von einem systematischen Review zur Verwendung und zum Verständnis des Terminus „participation“ hat eine internationale Arbeitsgruppe um die australische Forscherin Christine Imms die Konzeptionalisierung und damit die Operationalisierung des Konstrukts „Partizipation“ befördert (Granlund 2013; vgl. Imms et al. 2016, 2017). Was sich dabei in vielen Arbeiten herausgestellt hat, ist die grundlegende Einteilung von Partizipation in zwei Komponenten: So muss zwischen der reinen Anwesenheit einer Person „Attendance“, definiert als „Dabei-sein“ (gemessen als Häufigkeit der Teilnahme und/ oder Reichweite oder Unterschiedlichkeit von Aktivitäten) und der Beteiligung, des „Eingebunden-seins“, dem „Involvement“ (Erfahrungen während der „Anwesenheit“ - umfasst Elemente wie Engage- Abb. 1: Die Familie der partizipationszugehörigen Konstrukte mit person- und umweltzentrierten Prozessen (in Anlehnung an Imms et al. 2017, 19) ermöglicht/ reguliert beeinflusst/ re-agiert Bewältigen Auswählen Wahrnehmen Engagieren Lernen Handeln Interpretation Erfahrungen Präferenzen (Interessen, bedeutungsvolle Aktivitäten) Selbst-Verständnis (Selbstvertrauen, Zufriedenheit, Selbstwertgefühl, Selbstbestimmung) Handlungskompetenz (kognitive, physische und affektive Fähigkeiten/ Fertigkeiten) Partizipation Dabei-sein (Anwesenheit) Eingebunden-sein UMWELT KONTEXT 216 FI 4/ 2019 Stichwort ment, Motivation, Ausdauer, soziale Verbindung und die Ebene des Affekts) unterschieden werden (Imms et al. 2016, 2017). Die konkrete Beziehung zwischen beiden Komponenten ist nach wie vor nicht völlig geklärt. Neben diesen beiden Komponenten konnten weitere relevante Konstrukte identifiziert werden, sodass insgesamt fünf Konstrukte/ Elemente als zur Familie der partizipationszugehörigen Konstrukte („family of participation-related constructs, fPRC“) zugehörig markiert werden (s. Abbildung 1). Die hier formierten Konstrukte und der entsprechende Rahmen sind geeignet, die Beziehungen zwischen intrapersonellen Faktoren zu beschreiben. Diese Konstrukte, die individuellen „Präferenzen“, das „Selbst-Verständnis“ und die „Kompetenz zur Ausführung von Aktivitäten“ (Handlungskompetenz) sind durch bisherige individuelle Partizipationserfahrungen geprägt und beeinflussen wiederum gegenwärtige und zukünftige Partizipations-Situationen. Bisherige Forschungsprojekte konnten sehr gut die Bedeutung von Umgebungsbedingungen (Umwelt) für die Partizipation zeigen. Die Beschreibung/ Gestaltung und Wahrnehmung der Partizipation kann dabei von Situation zu Situation sehr unterschiedlich sein. Dies unterstreicht die Bedeutung des spezifischen Kontexts (Batorowicz et al. 2016) für die Gestaltung und Beurteilung von Partizipation. Im Gegenzug re-agiert die Person im jeweiligen Kontext und beeinflusst somit das entsprechende Setting auch mit. Die bidirektionalen Pfeile in Abbildung 1 verdeutlichen hypothetische aktive Prozesse zwischen den einzelnen Konstrukten oder Faktoren (in Anlehnung an Imms et al. 2017, 19): Hinsichtlich des Verhältnisses von Präferenz und Partizipation lässt sich konstatieren: Die Kinder wählen aus, an was sie teilnehmen werden (z. B. eine bevorzugte Spielaktivität), oder sie befolgen (oder bewältigen; halten ein) die Entscheidungen anderer (z. B. Turnstunde im Kindergarten), basierend auf früheren Beteiligungserfahrungen und den Erwartungen an eine zukünftige Teilnahme. Das Selbst-Verständnis entwickelt sich als Ergebnis der Partizipation und der Wahrnehmung des Selbst und kann die zukünftige Teilnahme vorhersagen. Engagieren kann dabei als ein innerer Zustand angesehen werden und Wahrnehmen meint, sich die eigene Fähigkeit oder Gelegenheit zur Teilnahme vorzustellen. Zwischen Partizipation und Handlungskompetenz liegen die Prozesse des Handelns und Lernens. Auch zwischen den intrinsischen Konstrukten (Präferenz, Selbst- Verständnis und Handlungskompetenz) finden Prozesse statt. Das Individuum erlebt ein Gefühl von Handlungskompetenz (oder auch nicht), das sein Selbst-Verständnis beeinflusst. Das Selbst- Verständnis ist dabei eng mit zielgerichteter Aktivität und Zielerreichung verbunden. Zwischen Selbst-Verständnis und den individuellen Präferenzen beeinflusst die Interpretation vergangener oder aktueller Erfahrungen im Bezug zum Selbst und zu den eigenen Kompetenzen die Entwicklung von Präferenzen. In der praktischen Umsetzung wird deutlich, dass das Interesse eines Kindes und seiner Eltern an Lebensbereichen und Aktivitäten, an denen es/ sie teilnehmen möchte(n), im Fokus steht (Kraus de Camargo und Simon 2013). Dies verändert die gesamte Prozessgestaltung, vom diagnostischen Vorgehen über die Formulierung von Förder- und Behandlungszielen, von weiteren Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen bis zu deren Evaluation. Die Qualität der Förderarbeit zeigt sich letztlich darin, in wieweit mögliche Teilhabebeeinträchtigungen verhindert (Pretis 2019) und/ oder die aktiven Teilhabemöglichkeiten des Kindes und seiner Familie erweitert werden (Kron 2016). Als herausfordernd für die Umsetzung von Partizipation in der Praxis der Förderung bzw. Therapie wird beschrieben, dass ein von Fachkräften diagnostizierter Förderbedarf nicht mit dem gefühlten bzw. beschriebenen Förderbedürfnis (Partizipationsziel) eines Einzelnen übereinstimmen muss (vgl. Kraus de Carmago/ Simon 2013, 25). Dies markiert Forschungsdesiderata hinsichtlich der Entwicklung und Evaluation diagnostischer Instrumente (vgl. Gebhard et al. in diesem Heft) sowie der Zielsetzung von Förder- und Behandlungsprozessen, die das Konstrukt Partizipation und die fPRC differenziert berücksichtigen. 217 FI 4/ 2019 Stichwort Literatur Arnstein, S. R. (1969): A Ladder of Citizen Participation. JAIP 35 (4), 216 - 224 Batorowicz, B., King, G., Mishra, L., Missiuna, C. (2016): An integrated model of social environment and social context for pediatric rehabilitation. Disability and rehabilitation 38 (12), 1204 - 1215, https: / / doi.org/ 10.3109/ 09638288. 2015.1076070 Booth, T., Ainscow, M., Kingston, D., Hermann, T. (2006): Index für Inklusion: (Tageseinrichtungen für Kinder); Lernen, Partizipation und Spiel in der inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW ) DIMDI (2005): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit (ICF), Behinderung und Gesundheit. 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(2017): Participation, both a means and an end: a conceptual analysis of processes and outcomes in childhood disability. Developmental medicine and child neurology 59 (1), 16 - 25, https: / / doi.org/ 10.1111/ dmcn.13237 Kraus de Carmago, O., Simon, L. (2013): Die ICF-CY in der Praxis. Huber, Bern Kron, M. (2016): Außerfamiliär, inklusiv, partizipativ - Frühförderung im Kontext aktueller Entwicklungen in der Kindertagesbetreuung. In: Gebhard, B., Seidel, A., Sohns, A., Möller-Dreischer, S. (Hrsg.): Frühförderung mittendrin - in Familie und Gesellschaft, 153 - 161, Stuttgart, Kohlhammer, https: / / doi.org/ 10.2378/ fi2013.art05d Pretis, M. (2019): ICF-basiertes Arbeiten in der Frühförderung. 2., überarbeitete Auflage, revidierte Ausgabe. Ernst Reinhardt, München United Nations (2006): Convention on the Rights of Persons with Disabilities. In: https: / / www.un.org/ development/ desa/ disabilities/ convention-on-therights-of-persons-with-disabilities/ convention-on-therights-of-persons-with-disabilities-2.html, 10. 7. 2019 Wright, M. T. (2012): Partizipation in der Praxis: die Herausforderung einer kritisch reflektierten Professionalität. In: Rosenbrock, R., Hartung, S. (Hrsg.): Handbuch Partizipation und Gesundheit, 91 - 101, Bern, Hans Huber Wright, M. T., Block, M., v. Unger, H. (2007): Stufen der Partizipation in der Gesundheitsförderung: Ein Modell zur Beurteilung von Beteiligung. Infodienst für Gesundheitsförderung 3, 4 - 5 Wolf, H.-G., Berger, R., Allwang, N. (2016): Der Charme der ICF-CY für die interdisziplinäre Frühförderung. Frühförderung interdisziplinär 35 (3), 127. https: / / doi.org/ 10.2378/ fi2016.art16d