eJournals Frühförderung interdisziplinär 38/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2019.art11d
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2019
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Originalarbeit: Präventiver Kinderschutz

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2019
Albert Lenz
In Familien mit psychisch kranken Eltern herrscht häufig ein hohes Maß an kumulierten Risiken für Misshandlungen und Vernachlässigungen vor, das durch die vorhandenen elterlichen Schutzfaktoren nicht ausreichend kompensiert werden kann. Auf der Grundlage der empirischen Befunde zu den Risiko- und Schutzfaktoren wurde ein Elterngruppenprogramm entwickelt, das auf die Stärkung elterlicher Ressourcen abzielt. Die Ergebnisse der Evaluation (N=160 Eltern) zeigen, dass die Eltern nach dem Gruppenprogramm signifikant weniger das Gefühl hatten, von den elterlichen Pflichten überfordert zu sein, und sie ihre Reaktionen vermehrt unter Kontrolle haben. Sie nahmen auch signifikant mehr Unterstützung in ihrem Alltag wahr als noch zu Beginn des Gruppenprogramms.
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85 Frühförderung interdisziplinär, 38.-Jg., S.-85 - 93 (2019) DOI 10.2378/ fi2019.art11d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Präventiver Kinderschutz Ressourcen psychisch kranker Eltern stärken - eine manualisierte Gruppenintervention Albert Lenz Zusammenfassung: In Familien mit psychisch kranken Eltern herrscht häufig ein hohes Maß an kumulierten Risiken für Misshandlungen und Vernachlässigungen vor, das durch die vorhandenen elterlichen Schutzfaktoren nicht ausreichend kompensiert werden kann. Auf der Grundlage der empirischen Befunde zu den Risiko- und Schutzfaktoren wurde ein Elterngruppenprogramm entwickelt, das auf die Stärkung elterlicher Ressourcen abzielt. Die Ergebnisse der Evaluation (N = 160 Eltern) zeigen, dass die Eltern nach dem Gruppenprogramm signifikant weniger das Gefühl hatten, von den elterlichen Pflichten überfordert zu sein, und sie ihre Reaktionen vermehrt unter Kontrolle haben. Sie nahmen auch signifikant mehr Unterstützung in ihrem Alltag wahr als noch zu Beginn des Gruppenprogramms. Schlüsselwörter: Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung, Risiko- und Schutzfaktoren, psychisch kranke Eltern, Stärkung elterlicher Ressourcen, Gruppenintervention Preventive Child Protection Strengthening Resources of Mentally ill parents: A Manual Based Group Intervention Summary: In families with mentally ill parents a high degree of cumulative risks for child maltreatment and child neglect can be identified. The high degree of cumulative risks in affected families cannot be sufficiently compensated by existing parental resources. Based on the empirical results of research concerning protective and risk factors, a group intervention for mentally ill parents has been developed to strengthen parental resources. The results of the evaluation (N = 160 parents) showed, that parents feel significantly less overwhelmed by the responsibility of being a parent and have their reactions under control. Moreover, they recognise significantly more support in everyday life comparing to the start of the intervention. Qualitative data analysis reinforces these results. Keywords: Child maltreatment, Child neglect, risk and protective factors, mentally ill parents, strengthening parental resources, group intervention Kindesmisshandlung und -vernachlässigung J e jünger die Kinder sind, desto stärker sind sie vom elterlichen Schutz abhängig, wodurch auch ihre Vulnerabilität in Bezug auf Misshandlung und Vernachlässigung steigt. Aus verschiedenen Studien lassen sich höhere Gefährdungspotenziale für Kinder zwischen dem dritten Lebensmonat und dem dritten Lebensjahr sowie eine Abnahme der Gefährdungen für Misshandlung und Vernachlässigung mit zunehmendem Alter des Kindes aufzeigen (siehe hierzu den Überblick bei Bender/ Lösel 2016). So erfahren jüngere Kinder deshalb eher physische Gewalt, weil n sie physisch und psychisch von ihren Versorgungspersonen abhängiger sind und mehr Zeit mit ihnen verbringen; 86 FI 2/ 2019 Albert Lenz n sie negative Verhaltensweisen und Gefühle noch weniger kontrollieren können und dadurch feindseligere Reaktionen ihrer Eltern hervorrufen können und n sie aufgrund ihrer körperlichen Unterlegenheit anfälliger für Verletzungen sind. Die Risiken für körperliche Misshandlungen nehmen an Übergängen bzw. deutlicheren Entwicklungsschritten von Kindern zu. So erwähnen in ihrem Überblickartikel Bender und Lösel (2016) einen Häufigkeitsgipfel im dritten und zwölften Lebensjahr. Beide Häufigkeitsgipfel markieren Entwicklungsphasen, in denen Kinder in der Regel stärkere Autonomiebestrebungen zeigen, mit denen manche Eltern nicht angemessen umgehen können, wodurch die Gefahr von Misshandlung steigt. Laut Jugendhilfestatistik scheint die Datenlage allerdings unterschiedliche Akzente aufzuzeigen. So wurden 2014 Kinder unter einem Jahr (472 Fälle) als am häufigsten von körperlichen Misshandlungen betroffen erfasst (StaBu 2015). Bis zum siebten Lebensjahr fallen die Zahlen dann tendenziell etwas geringer aus und steigen ab dem achten Lebensjahr wieder etwas an (ebd.). Bei körperlichen Strafen zeigen sich auch in internationalen Studien mitunter steigende Prävalenzen im Vorschulalter, die im Jugendalter wieder abnehmen (Straus 2010). Betrachtet man die Geschlechtsverteilung bei den verschiedenen Formen von Kindesmisshandlung, so wird bei sexuellem Missbrauch eine deutliche Überrepräsentation von Mädchen sichtbar (StaBu 2015). Bei körperlicher Misshandlung, insbesondere in der Zeitspanne vom Kindergartenalter bis in die mittlere Kindheit, sind hingegen die Jungen leicht überrepräsentiert (StaBu 2015). Für Vernachlässigung und psychische Misshandlung fanden sich sowohl in den nationalen als auch internationalen Jugendhilfestatistiken kaum Geschlechtsunterschiede, wohingegen laut Jugendhilfestatistik Mädchen etwas häufiger von psychischer Misshandlung betroffen und Jungen eher als von Vernachlässigung bedroht erfasst wurden (StaBu 2015). Bei Misshandlungsrisiken aufgrund von Behinderung, Entwicklungsverzögerungen und Geburtskomplikationen ist die Befundlage widersprüchlicher, als der Blick auf Polizei- und Gerichtsakten vermuten lässt (Bender/ Lösel 2016). Vieles deutet darauf hin, dass Risikomechanismen in diesem Bereich wahrscheinlich komplexer sind, als teilweise angenommen wird. So kann unter Umständen eine kindliche Behinderung oder eine Geburtskomplikation negativen Eltern-Kind-Interaktionen auch entgegenwirken (Bender/ Lösel 2016). Risiko- und Schutzfaktoren in der Entstehung von Kindesmisshandlung aufseiten der Eltern und der Familie Die Entstehung von Kindesmisshandlung und deren Folgen für das Kind sind durch ein Bündel von Faktoren bedingt. Auf unterschiedlichen Ebenen wirken Risiko- und Schutzfaktoren zusammen und beeinflussen in komplexer Weise den Beginn und die Auswirkungen von Misshandlungen. Risiko- und Schutzfaktoren müssen also gemeinsam berücksichtigt werden, um angemessen erklären zu können, warum bestimmte negative Erfahrungen unterschiedliche Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben. Es kommt zu Entwicklungsproblemen und Gefährdungen für das Kind, wenn ein Ungleichgewicht zwischen Risiko- und Schutzfaktoren eingetreten ist und die Risiken durch die verfügbaren Schutzfaktoren nicht mehr ausreichend kompensiert werden können (Bender/ Lösel 2016). Risikofaktoren Studien zeigen, dass misshandelnde Eltern in ihrer Kindheit und Jugend oft selbst Opfer elterlicher Gewalt geworden waren. Dieser „cycle of violence“, also der Zusammenhang zwischen selbst erlebter Misshandlung und späteren 87 FI 2/ 2019 Ressourcenstärkende Gruppenintervention - psychisch erkrankte Eltern Misshandlungen eigener Kinder konnte in einigen prospektiven Studien nachgewiesen werden (z. B. Pianta et al. 1989). Neben den Gewalterfahrungen in der eigenen Kindheit werden bestimmte Persönlichkeitsmerkmale bei misshandelnden Eltern angenommen, die bei psychisch kranken Eltern häufig beobachtet werden können, wie z. B. Probleme der Impulskontrolle, herabgesetzte Frustrationstoleranz und eingeschränkte Empathiefähigkeit. Empirisch gut belegt sind Zusammenhänge zwischen Misshandlungsrisiko und elterlichen Problemen bei der Emotionsregulation (Spangler et al. 2009). Relativ konsistent sind auch die Zusammenhänge zwischen einem erhöhten Risiko, seine Kinder zu misshandeln, und einer emotionalen Verstimmtheit, Depressivität, Ängstlichkeit und geringem Selbstwertgefühl (Bender/ Lösel 2016). Bei misshandelnden Eltern lassen sich auch häufiger Einschränkungen in ihrer Beziehungsfähigkeit beobachten. Solche Einschränkungen betreffen in erster Linie die Interaktion mit ihren Kindern sowie ihr Erziehungsverhalten. Misshandelnde Eltern zeigen z. B. häufig nicht altersangemessene Erwartungen in Hinblick auf die Fähigkeiten und die Selbstständigkeit des Kindes und ein eingeschränktes Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse des Kindes. Risiken im sozialen und familiären Umfeld liegen häufig in der familiären Stressbelastung aufgrund sozioökonomischer Belastungen, fehlender sozialer Unterstützung, in chronischen Partnerschaftskonflikten, starken negativen Gefühlen und einem geringen Maß an Selbstorganisation (Sidebotham et al. 2002, MacMillian et al. 2013). Spezifische Schutzfaktoren Weniger erforscht ist hingegen die protektive Seite. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass eine günstige kindliche Entwicklung umso wahrscheinlicher wird, je mehr protektive Faktoren vorliegen. Kommt es zu Entwicklungsproblemen oder Gefährdungen bei den Kindern, ist ein Ungleichgewicht zwischen Risiko- und Schutzfaktoren eingetreten (Bender/ Lösel 2016). Gegenüber den identifizierten Risikofaktoren können Einflüsse protektiv wirken, die die emotionale Labilität der Eltern abmindern, das Selbstwertgefühl steigern und direkt oder indirekt zur Bewältigung von Problemen beitragen. Gefunden wurden eine zufriedenstellende soziale Unterstützung durch das unmittelbare Umfeld, ein Eingebundensein in stabile soziale Netzwerke, die Unterstützung durch den Partner und die Bestätigung des Selbstwerts durch außerfamiliäre Aktivitäten (Sperry/ Widom 2013). Unter differenzierter Sichtung und Bezugnahme des theoretischen Diskurses lassen sich noch weitere protektive Mechanismen ableiten (Bender/ Lösel 2016). So scheinen insbesondere Mechanismen zur Emotionsregulation, die helfen Affekte wie Wut und Ärger besser kontrollieren zu können, relevante protektive Effekte auszulösen. Wesentlich hinzu kommt, dass misshandelnde Eltern häufig nicht in der Lage sind, sich in die Kinder hineinzuversetzen, sodass eine Sensibilisierung für kindliche Bedürfnisse und eine Förderung der Perspektivübernahme weitere protektive Effekte mit sich bringen dürften. Protektive Effekte sind darüber hinaus zu erwarten, wenn Eltern in der Lage sind, offen zu kommunizieren sowie stabile soziale Unterstützung in ihrem Umfeld sowie soziale Ressourcen für sich und die Familie mobilisieren zu können. Aufseiten des Kindes bestehen relativ begrenzte protektive Mechanismen gegen Misshandlung. Cicchetti und Rogosch (1997) weisen darauf hin, dass eine hohe adaptive Flexibilität und eine starke Impulskontrolle dazu beitragen, dass Misshandlungserfahrungen nicht weiter eskalieren. „Die protektive Funktion kindlicher Merkmale dürfte vor allem in einer möglichst günstigen Passung zum Elternverhalten liegen. Denn unabhängig von der Kausalrichtung ist das Misshandlungsrisiko vor allem dann erhöht, wenn Kinder mit schwierigem Temperament auf überlastete, unkontrollierte und wenig 88 FI 2/ 2019 Albert Lenz kompetente Eltern treffen“ (Bender/ Lösel 2016, 92). Schutzmechanismen gelangen allerdings erst mit zunehmendem Alter unter die Kontrolle des Kindes. Ältere Kinder, die in ungünstigen Familienverhältnissen leben, sind dadurch besser in der Lage, stabile Beziehungen zu anderen Bezugspersonen außerhalb der Familie aufzubauen und sich bessere Entwicklungskontexte zu suchen oder ihr Verhalten dahingehend zu regulieren, Misshandlungen entgegenzusteuern. Psychisch kranke Eltern - eine Risikogruppe für Kindesmisshandlung Die Entstehung von Kindesmisshandlung und deren Folgen für das Kind sind durch ein Bündel von Faktoren bedingt (Wille et al. 2008) Auf unterschiedlichen Ebenen wirken Risiko- und Schutzfaktoren zusammen und beeinflussen in komplexer Weise den Beginn und die Auswirkungen von Misshandlungen. Bei psychisch kranken und suchtkranken Eltern liegt häufig ein hohes Maß an kumulierten Risiken auf der individuellen, familiären und sozialen Ebene vor, das durch die Schutzfaktoren nicht ausreichend kompensiert werden kann. Schutzfaktoren sind häufig schwach ausgeprägt oder aufgrund der psychischen Erkrankung nicht ausreichend verfügbar und mobilisierbar (Wille et al. 2008, Lenz/ Wiegand-Grefe 2017), denn … n … die Familien leben häufig sozial isoliert. Die psychische Erkrankung führt oftmals zu sozialer Randständigkeit sowie zu Diskriminierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung. In der Folge haben die Familien mit psychisch kranken Eltern häufig ein unzureichendes oder fehlendes soziales Unterstützungssystem. Eltern wie Kinder erleben geringe reale und emotionale Verfügbarkeit von Bezugspersonen außerhalb der Familie, sodass kompensierende Beziehungserfahrungen beschränkt sind. n … eine psychische Erkrankung bringt fast immer Belastungen in der Partnerschaft mit sich. Die Atmosphäre in den partnerschaftlichen Beziehungen ist oftmals negativ aufgeladen und spannungsreich. Die Beziehungen vermitteln wenig emotionalen Rückhalt und soziale Unterstützung. Es treten deutlich häufiger Konflikte, Disharmonien und gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Partnern auf als in Partnerschaften von gesunden Personen. Studien zeigen, dass die Partnerschaftszufriedenheit insgesamt signifikant geringer und die Scheidungsrate deutlich höher ist (Vostanis et al. 2006). Diese Befunde haben insofern große Bedeutung, weil vielfach nachgewiesen wurde, dass chronische Eheprobleme generell einen Belastungsfaktor für die Entwicklung von Kindern darstellen. n … das Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zur Perspektivübernahme ist aufgrund häufig wenig empathischen und feinfühligen oder traumatischen Erfahrungen in der eigenen Kindheit eingeschränkt. Grundlegende Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation, d. h. im Umgang mit Gefühlen, wie z. B. Wut, Ärger, Angst oder Enttäuschung, bilden den Kern der meisten Formen psychischer Störungen und beeinflussen jede Form der Beziehung und in besonderer Weise die Beziehung psychisch kranker Eltern zu ihren Kindern. In Familien mit psychisch kranken Eltern lassen sich vor diesem Hintergrund häufig schwächer ausgeprägte Schutzfaktoren im Sinne eines adäquaten Umgangs mit Gefühlen finden. Psychisch kranke Eltern stellen daher eine besondere Risikogruppe für Kindesmisshandlung dar. Sie haben ein zweibis fünffach erhöhtes Risiko für Misshandlung (Gehrmann/ Sumargo 2009). Auch in einer Reihe von internationalen Studien konnte ein erhöhtes Risiko nachgewiesen werden (vgl. den Überblick bei Lenz 2014). 89 FI 2/ 2019 Ressourcenstärkende Gruppenintervention - psychisch erkrankte Eltern Gruppenprogramm „Ressourcen psychisch kranker und suchtkranker Eltern stärken“ Das Gruppenprogramm „Ressourcen psychisch kranker und suchtkranker Eltern“ (Lenz 2019) zielt darauf ab, die empirisch identifizierten protektiven Mechanismen und Schutzfaktoren aufseiten der Eltern zu stärken, die die Gefährdungsrisiken für die betroffenen Kinder mindern und ganz generell ihre psychosoziale Gesundheit fördern. Grundlegend in dem Gruppenprogramm ist die Stärkung der Mentalisierungsfähigkeit der Eltern. Mit Mentalisieren ist die reflexive Fähigkeit gemeint, mentale Zustände („mental states“) - Gedanken, Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse, Sehnsüchte und Intentionen - bei sich selbst und bei anderen zu verstehen und situationsangemessen zu interpretieren. Insofern beinhaltet der Begriff der Mentalisierung sowohl eine kognitive als auch eine affektive und eine interpersonelle Komponente. Mentalisieren ist eine grundlegende Voraussetzung für Empathie, Verständnis, Feinfühligkeit und konstruktive Kommunikation in für uns bedeutsamen Beziehungen. Sie versetzt Menschen in die Lage, sich von impulsivem, aggressivem, zerstörerischem oder selbstzerstörerischem Verhalten distanzieren zu können und zu reflektieren, anstatt vorschnell oder impulsiv zu handeln (Bateman/ Fonagy 2015). Das Gruppenprogramm richtet sich insbesondere an Eltern von Säuglingen und Kleinkindern und setzt sich aus vier aufeinander aufbauenden Modulen zusammen, in denen reflexive Kompetenzen der Eltern in unterschiedlichen Bereichen gefördert bzw. gestärkt werden. Modul Mentalisieren Ziel in diesem Modul ist es, Eltern dabei zu unterstützen, in Belastungs-, Stress- und Konfliktsituationen im familiären Alltag eine reflexive Haltung zu entwickeln, d. h. sich eine Vorstellung von ihren eigenen mentalen Zuständen und den mentalen Zuständen ihrer Kinder und/ oder ihres Partners zu machen und darüber nachzudenken. In fiktiven familiären Alltagssituationen wird zunächst die Aufmerksamkeit der Eltern auf die innere Verfassung und mentale Befindlichkeit der in den Geschichten handelnden Personen gerichtet. Die Geschichten bilden die Brücke zu den selbst erlebten belastenden Situationen in der Familie. Die Eltern werden angeregt, mithilfe mentalisierungsfördernder Fragen diese schwierigen Situationen im Alltag zu analysieren und zu reflektieren. Dadurch soll erreicht werden, dass sie n eigene Emotionen besser wahrnehmen und verstehen; n zwischen innerer und äußerer Realität unterscheiden lernen und in einen reflektierenden Modus gelangen; n andere besser verstehen lernen; n mentale Zustände (Gedanken, Gefühle, Motive, Wünsche und Bedürfnisse) anderer besser einschätzen und verstehen; n in zukünftigen Stress- und Konfliktsituationen ruhiger und reflektierter reagieren. Modul Gefühle und Umgang mit Gefühlen Emotionen stellen einen wichtigen Teil des menschlichen Erlebens dar. Sie beeinflussen uns Menschen, gleichermaßen wie auch Menschen unsere Emotionen beeinflussen können. Ein Ziel in diesem Modul ist es, die Fähigkeit der Eltern zu stärken, eigene Gefühle besser wahrnehmen, benennen und regulieren zu können. Da Probleme in der Gefühlsregulation in belastenden oder überfordernden Situationen das Risiko für körperliche und psychische Misshandlung erhöhen können, werden in einem weiteren Schritt die Eltern für dysfunktionale Regulationsstrategien sensibilisiert. In Rollenspielen und Übungen sollen den Eltern konstruktive, situationsangemessene Strategien zum Umgang mit Gefühlen vermittelt werden. Ein weiteres Ziel in diesem Modul besteht darin, die Achtsamkeit für die erlebten Gefühle zu steigern. Dazu werden Übungen zur Gefühls- 90 FI 2/ 2019 Albert Lenz wahrnehmung und zur Steigerung der Achtsamkeit für die erlebten Gefühle eingesetzt, die sich an dem von Marsha Linehan im Rahmen der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) entwickelten „Training der Emotionsregulierung“ orientieren (Linehan 2016). Auch in diesem Modul dienen fiktive Geschichten über Gefühle und Umgang mit Gefühlen als Einstieg, um den Eltern die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen zu erleichtern. Modul Stressbewältigung In Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil kumulieren häufig mehrere Belastungsfaktoren. Zu den Belastungen durch die Erkrankung kommen häufig elterliche Beziehungskonflikte und Probleme mit den Kindern. Die Eltern sollen in diesem Modul Fähigkeiten erwerben, mit alltäglichen Belastungen besser umgehen zu können, indem sie lernen, n Belastungssituationen frühzeitig wahr- und ernst zu nehmen und n die Suche nach Bewältigungsstrategien für alltägliche Stresssituationen als einen kreativen Prozess zu verstehen. Auf diese Weise sollen Gefühle der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit in Stresssituationen reduziert werden. Ziel ist es, die Eltern in ihren Kompetenzen zur Stressbewältigung zu stärken, damit sie mit alltäglichen Belastungssituationen souveräner umgehen können. Dazu ist es notwendig, einseitige und festgefahrene Sichtweisen und Grenzen zu lockern, den Blick für Lösungen zu weiten und Ideen zu situationsangemessenen Bewältigungsmöglichkeiten zu entwickeln. Das Vorgehen in diesem Modell orientiert sich an dem Modell der Problemlösung nach Kaluza (2011), das die sechs Schritte: „Dem Stress auf die Spur kommen“, „Ideen zur Bewältigung sammeln“, „Den eigenen Weg finden“, „Konkrete Schritte planen“, „Im Alltag handeln“ und „Bilanz ziehen“ enthält. Modul Förderung des sozialen Beziehungsnetzes Das soziale Netzwerk trägt wesentlich dazu bei, die körperliche und seelische Gesundheit von Menschen zu erhalten, und bietet aktive Unterstützung bei der Bewältigung von Belastungen und Konflikten im Alltag. Es dient als Puffer in Krisensituationen und als Schutzschild gegenüber alltäglichen Belastungen. Die Eltern sollen in diesem Modul angeregt werden, ihr soziales Beziehungssystem zu rekonstruieren und sich dabei mit ihren Beziehungen zu eigenen Eltern, Geschwistern und weiteren Verwandten sowie zu außerfamiliären Bezugspersonen, wie Bekannten und Arbeitskollegen, auseinanderzusetzen. Visualisierungen mithilfe einer Netzwerkkarte erleichtert es den Eltern, Teile ihrer „Beziehungsgeschichten“ wieder in Besitz zu nehmen und Erinnerungslücken auszufüllen. Auf diese Weise werden Beziehungserfahrungen und Beziehungswünsche, Nähe und Distanz, Ängste und Hoffnungen, die nicht unbedingt den aktuellen Zuständen entsprechen müssen, dem Bewusstsein wieder zugänglich. Soziale Ressourcen und Unterstützungspotenziale, die überhaupt nicht bzw. nicht mehr präsent waren, können auf diese Weise entdeckt bzw. wiederentdeckt werden. Es können dadurch neue Zugänge zu Personen auftauchen, die vorher nicht vorstellbar oder nicht gangbar erschienen. Rahmenbedingungen für die Durchführung Das Gruppenprogramm kann sowohl im ambulanten als auch im stationären und teilstationären klinischen Setting, in Einrichtungen der komplementären Versorgung (z. B. betreute Wohneinrichtungen) und der Jugendhilfe (z. B. Erziehungsberatungsstellen) sowie in der Frühförderung durchgeführt werden. n Zielgruppe. Das Gruppenprogramm richtet sich an psychisch kranke und suchtkranke Mütter und Väter. Es ist in erster Linie für Eltern mit Kindern von 0 bis 5 Jahren konzipiert. 91 FI 2/ 2019 Ressourcenstärkende Gruppenintervention - psychisch erkrankte Eltern n Gruppengröße. Insgesamt sollten nicht mehr als acht Eltern in einer Gruppe sein, damit ein individuelles Eingehen auf die Situation der einzelnen Mütter und Väter und ihrer Kinder gewährleistet werden kann. n Anzahl und Dauer der Sitzungen. Das Programm umfasst zwölf Sitzungen, für die jeweils 120 Minuten veranschlagt sind. n Gruppenleitung. Die Gruppe sollte von zwei Fachkräften geleitet werden. Die Gruppenleitung sollten nur Fachkräfte übernehmen, die über ausreichend Erfahrung in der Arbeit mit besonders belasteten Familien verfügen. Vorausgesetzt werden außerdem grundlegende pädagogisch-therapeutische Fertigkeiten und ein Fachwissen über psychische Erkrankung und Suchterkrankung sowie über die Auswirkungen besonderer familiärer Belastungen auf die Entwicklung der Kinder. Der Ablauf der Sitzungen beinhaltet eine klare, wiederkehrende Struktur. Arbeitsblätter sind ein wichtiger Bestandteil des Gruppenprogramms. Sie erleichtern die Umsetzung und Generalisierung der Inhalte in den familiären Alltag (Lenz 2019). Projekt „Kinder schützen durch Stärkung der Eltern“ Das Gruppenprogramm wurde in verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe, der Frühförderung und des Gesundheitssystems in Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Projekts „Kinder schützen durch Stärkung der Eltern“ 1 , das vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert wurde, implementiert und evaluiert. In dem zweijährigen Projektzeitraum konnte dies in 21 Einrichtungen gelingen. Insgesamt haben 160 Eltern an dem Gruppenprogramm teilgenommen. Ziel der Evaluationsstudie war es, die Wirksamkeit der Intervention sowie fachkräfte- und einrichtungsbezogene Kontextfaktoren, die die Entfaltung der Wirksamkeit der psychosozialen Intervention beeinflussen können, zu evaluieren und miteinander in Beziehung zu setzen. Mit dem Ziel des Projekts, das Gruppenprogramm in diversen Handlungsfeldern der psychosozialen Versorgungslandschaft anzubieten, schien es unerlässlich, diese Kontextfaktoren konstitutiv in das Evaluationsdesign zu integrieren, um nicht nur evidencebased (EBP-), sondern auch alltagspraktische practice-based-evidence (PBE-) Implikationen zu evaluieren (siehe ausführlich Rademaker/ Lenz 2017, Rademaker/ Lenz 2019). In der wirkungsorientierten Evaluation wurden mithilfe standardisierter Instrumente Veränderungen der subjektiven Wahrnehmung realer Handlungskompetenzen von Eltern in der Interaktion mit ihren Kindern und mit ihrem Umfeld erfasst. Es wurden die Parental Stress Scale (Berry/ Jones 1995), Strengths and Difficulties Questionaire (SDQ) (Goodman 1997), Brief resilient coping scale (BRCS) (Kocalevent et al. 2014) sowie die Oslo Social Support Scale (Kocalevent/ Brähler 2014) eingesetzt. Es zeigte sich beispielsweise, dass die Eltern nach dem Gruppenprogramm (N = 98; M 2,4; SD 1,07) signifikant (p < 0,05) weniger das Gefühl haben, von den elterlichen Pflichten überfordert zu sein als noch zu Beginn des Gruppenprogramms (N = 98; M 2,7; SD 1,26). Zudem empfinden die befragten Eltern das Verhalten ihrer Kinder nach dem Gruppenprogramm (N = 98; M 3,1; SD 1,13) als signifikant (p < 0,05) weniger stressauslösend als noch zu Beginn des Gruppenprogramms (N = 98; M 3,4; SD 1,24). Auf die differenzierte Ergebnisdarstellung sei an dieser Stelle auf Rademaker und Lenz (2019) verwiesen. 1 Das Projekt„Kinder schützen durch Stärkung der Eltern“ war ein Kooperationsprojekt des Caritasverbands für die Erzdiözese Paderborn und des Instituts für Gesundheitsförderung und Soziale Psychiatrie (igsp) der Katholischen Hochschule Nordrhein Westfalen 92 FI 2/ 2019 Albert Lenz Implikationen für die Praxis Die Ergebnisse der Wirksamkeitsstudie zeigen, dass die Eltern in den unterschiedlichen Praxiseinrichtungen vom Gruppenprogramm profitierten. Durch die verbesserte Fähigkeit, die eigenen mentalen Zustände und die der anderen besser verstehen zu lernen, erleben die Eltern einen Wandel in den familiären Interaktionen: die Atmosphäre in der Familie entspannt sich, dadurch öffnen sich neue Wege der Belastungs- und Konfliktbewältigung und das Vertrauen in die eigene Beziehungs- und Erziehungskompetenz wächst an. Die Fachkräfte in den verschiedenen Praxisfeldern betrachten das Gruppenprogramm als eine fachlich gewinnbringende Bereicherung. Die Module geben einen klaren handlungsleitenden Rahmen vor. Die Ergebnisse der Begleitforschung verdeutlichen eine hohe Akzeptanz des Gruppenprogramms seitens der teilnehmenden Eltern und der Fachkräfte. Prof. Dr. Albert Lenz, Dipl.-Psychologe Dortmund und München E-Mail: a.lenz@katho-nrw.de Literatur Bateman, A. W., Fonagy, P. (2015): Das Grundmodell der Einzeltherapie. In: Bateman, A. W., Fonagy, P. (Hrsg.): Handbuch Mentalisieren. Gießen, Psychosozial-Verlag, 78 -115 Bender, D., Lösel, F. (2016): Risikofaktoren, Schutzfaktoren und Resilienz bei Misshandlung und Vernachlässigung. In: Egle, U., Joraschky, P., Lampe, A., Seiffge- Krenke, I., Cierpka, M. (Hrsg.): Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung. Erkennung, Therapie und Prävention der Folgen früher Stresserfahrungen. Stuttgart, Schattauer, 77 - 103 Berry, J. O., Jones, W. H. 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