Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2019.art20d
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Fachkonzepte der Therapie und Förderung: Durch Musik zur Sprache - ein Sprachförderkonzept aus der Musiktherapie
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Rosemarie Tüpker
Durch Musik zur Sprache (DMzS) ist ein musiktherapeutisches Konzept zur ganzheitlichen Förderung von Kindern, die nicht über eine altersgemäße Sprachentwicklung verfügen. Es ist ausgerichtet auf die emotionalen und kommunikativen Aspekte der Sprachförderung und geht davon aus, dass Sprachrückstände meist im Kontext erschwerter Lebensbedingungen stehen. Durch den Ausgangspunkt Musik, die in ihrer Übergangsqualität zur Sprache genutzt wird, ist es gleichermaßen für deutschsprachig aufgewachsene Kinder wie für Kinder mit Migrationshintergrund geeignet. Durch die Arbeit in kleinen Gruppen und eine therapeutische Grundhaltung können individuelle und soziale Nöte der Kinder in einem niederschwelligen, nicht klinischen Angebot aufgegriffen und präventiv (mit)behandelt werden. [...]
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150 Frühförderung interdisziplinär, 38.-Jg., S.-150 - 156 (2019) DOI 10.2378/ fi2019.art20d © Ernst Reinhardt Verlag FACHKONZEPTE DER THERAPIE UND FÖRDERUNG Durch Musik zur Sprache - ein Sprachförderkonzept aus der Musiktherapie Rosemarie Tüpker Durch Musik zur Sprache (DMzS) ist ein musiktherapeutisches Konzept zur ganzheitlichen Förderung von Kindern, die nicht über eine altersgemäße Sprachentwicklung verfügen. Es ist ausgerichtet auf die emotionalen und kommunikativen Aspekte der Sprachförderung und geht davon aus, dass Sprachrückstände meist im Kontext erschwerter Lebensbedingungen stehen. Durch den Ausgangspunkt Musik, die in ihrer Übergangsqualität zur Sprache genutzt wird, ist es gleichermaßen für deutschsprachig aufgewachsene Kinder wie für Kinder mit Migrationshintergrund geeignet. Durch die Arbeit in kleinen Gruppen und eine therapeutische Grundhaltung können individuelle und soziale Nöte der Kinder in einem niederschwelligen, nicht klinischen Angebot aufgegriffen und präventiv (mit)behandelt werden. Therapie im pädagogischen Kontext DMzS wird primär in Kitas, Schulen und anderen pädagogischen oder betreuenden Kontexten angeboten. Ausgehend vom Anlass der Sprachförderung ist DMzS zugleich als ein niederschwelliges Präventions- und Therapieangebot für Kinder zu verstehen, denen der Zugang zu Therapieangeboten erschwert oder nicht möglich ist. Das Therapeutische ist hier nicht klinisch gemeint und wird von den Eltern, ErzieherInnen und LehrerInnen auch nicht so wahrgenommen. Vielmehr meint es eine förderliche Begleitung, eine von der Musik ausgehende Kultivierungshilfe, deren besonderes Merkmal die therapeutische Grundhaltung derer ist, die das Angebot durchführen. Wie bei anderen musiktherapeutischen Angeboten in pädagogischen Settings (vgl. Jordan et al. 2018) bedarf es keiner Diagnose und die Bereitschaft der Eltern, ihrem Kind die Teilnahme an der Gruppe zu gewähren, ist nach unseren Erfahrungen hoch, da Musik positiv besetzt ist und keine Ängste hervorruft. Die Integration des Angebots in Kita und Schule bedeutet für die Eltern eine große Erleichterung, da die Kinder nicht gebracht werden müssen. In anderen Kontexten, in denen Kinder an einzeltherapeutischen Förderungen teilnehmen, kann DMzS eine Ergänzung der Einzelbetreuung durch die Erfahrungen in einer kleinen Gruppe sein, in der zugleich Überforderung vermieden wird. Setting Die Zuteilung zur Gruppe geschieht durch die pädagogischen Fachkräfte, die die Kinder gut kennen, teilweise in Kombination mit Ergebnissen vorschulischer Sprachstandsfeststellungen. Die Gruppen von vier bis acht Kindern sind altershomogen, je jünger oder weniger gruppenfähig die einzelnen Kinder sind, desto kleiner sollte die Gruppengröße sein. Manche Gruppen orientieren sich an einem Fokus, so z. B. Gruppen für stille Kinder (vgl. Menebröcker 2005), die sonst in der Gruppe unterzugehen drohen, oder Kinder, die noch kein oder kaum Deutsch sprechen (vgl. Winkelmann 2018). Die Förderung findet in der Kita oder Schule der Kinder statt und orientiert sich am Kita- oder Schuljahr. Eltern oder ErzieherInnen sind während des Angebots nicht anwesend, die Kommunikation zu ihnen ist unterschiedlich geregelt. Die AnbieterInnen verfügen über eine Qualifikation in Musikpädagogik und Musiktherapie oder über den Abschluss des Zertifikatsstudiums DMzS (s. letzter Abschnitt). 151 FI 3/ 2019 Fachkonzepte der Therapie und Förderung Musik und Musiktherapie Musik wird im Kontext von DMzS vor allem als eine Form der Beziehungsgestaltung verstanden und als Möglichkeit, einander schon vor der Sprache emotional zu verstehen, sich abzustimmen und affektspiegelnde Resonanzen auf die eigenen musikalischen Verlautbarungen zu erhalten (vgl. Laabs 2005). Musik liegt entwicklungspsychologisch vor der Sprache, liegt ihr zugrunde, geht in sie ein und includiert spezielle Charakteristika wie die Nähe zum körperlichen Erleben, zur Bewegung, zu den Affekten und Gefühlen (vgl. Papoušek 2001; Tüpker 2011 u. 2014). Musik kann als weniger trennend erlebt werden: Für Kinder, die sich mit dem Eintritt in die Kita nicht nur - wie alle Kinder - in einer fremden, sondern darüber hinaus in einer fremdsprachigen Umgebung wiederfinden, kann sie eine Kommunikationsform sein, die sie mit den anderen Kindern gemeinsam haben, in der sie nicht unterlegen sind und die ihnen hilft, ihre Außenseiterposition zu überwinden. Lieder können auch direkt eine Hilfestellung beim Spracherwerb sein (vgl. Kerkmann 2018). Musik wird in der Musiktherapie als Medium zum therapeutischen Nachnähren bei defizitären frühkindlichen Erfahrungen genutzt (vgl. von Moreau und Wölfl 2002). Musik als Ausdrucksmedium auf dem Weg zur Sprache nimmt die frühen Empfindungen, verwirrenden Erfahrungen, Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten mit, lässt sie hörbar und spürbar werden (vgl. Tüpker 2003). Ein Beispiel dafür ist die Beliebtheit der beiden Spiele „Der kranke König“ und „Der Wasserkönig“. Im Ersteren versuchen die Kinder mit großem Engagement den kranken König (sich selbst als kranke Könige ihres Lebens) durch die Musik, die sie selbst herstellen, zu heilen. Beim Wasserkönig können sie die verschiedenen Schattierungen des Ärgerns, Wütens und Erschreckens musikalisch durchleben und von Mal zu Mal besser regulieren und integrieren (vgl. Keller 2013, 211 - 215). Der musiktherapeutische Umgang der GruppenleiterInnen mit den Kindern ist durch eine mentalisierende Reaktivität (vgl. Schwarzer und Gingelmaier 2018) gekennzeichnet, durch die die Kinder ihr So-Sein, ihre Empfindungen und Affekte gespiegelt finden. Musiktherapie als geeignetes Verfahren zur Affektregulation ist auch aus der Arbeit mit behinderten Kindern bekannt (vgl. Reimer 2016). Durch die musikalische Form der Spiegelung, ihre mediale Abhebung vom alltäglichen Sprechen, ist zugleich die notwendige Markierung gegeben, durch die eigenes Empfinden und das Empfinden des Anderen differenziert werden können (vgl. Strehlow 2009). So kann die Gruppenarbeit auch dazu beitragen, dass die Kinder selbst in der Entwicklung ihrer Mentalisierungsfähigkeit unterstützt werden. Voraussetzung dafür ist die Entstehung eines Safe Place im Sinne Katz-Bernsteins (vgl. Katz-Bernstein 1996), der erst den Raum zur Auseinandersetzung mit mentalen Zuständen gibt. Dies erwies sich auch in der Arbeit mit geflüchteten Kindern, die insbesondere bei längeren Fluchterfahrungen in ihrer Mentalisierungsfähigkeit stark beeinträchtigt sein können, als hoch bedeutsam. Die Erfahrungen zeigen, dass die Musik mit ihren Ritualisierungsmöglichkeiten, wie sie durch Lieder oder die wiederholenden musikalischen Spiele gegeben sind, dazu beiträgt, dass die Kinder die Gruppe als sicheren Ort erleben, in dem sie sich öffnen können, Vertrautheit und Nähe erleben und eine positive Ich-stärkende Resonanz erfahren (vgl. Paduch 2002; Krägelin 2016; Winkelmann 2018). Entstehung und Forschung Das Konzept wurde seit Ende 2007 an der Universität Münster entwickelt, erprobt und evaluiert 1 und mündete zunächst in die Veröffentlichung des Handbuchs „Durch Musik zur Sprache“ (Tüpker 2009). Bereits in der Erprobungsphase zeigte sich, dass die Ursachen des erschwerten Zur-Sprache-Kommens hauptsächlich im psychosozialen 1 www.uni-muenster.de/ Musiktherapie/ Forschung/ durch-musik-zur-sprache.html 152 FI 3/ 2019 Fachkonzepte der Therapie und Förderung Umfeld der Kinder lagen und nicht in klinisch relevanten Beeinträchtigungen oder in einer Fremdsprachigkeit allein, was sich in der Forschungsphase bestätigte (vgl. Keller 2013, 222 - 244). Der Impuls für die Entwicklung des Konzeptes gründete in der Auffassung, dass auch bei Kindern mit sozial bedingten Sprachstörungen ein maligner Kreislauf zu befürchten ist, wie er von Grimm allgemein für die frühen Störungen der Sprachentwicklung dargestellt wird (vgl. Grimm 2012, 137 - 144). Wenn Kinder sich in den ersten wichtigen Gruppen der Gleichaltrigen sprachlich nicht angemessen ausdrücken können, hat dies Folgen für ihr Selbstbewusstsein, ihre Rolle in der Gruppe, ihre Lebensfreude und ihren Erfahrungsaustausch mit den Gleichaltrigen. Wenn sie den Erwachsenen gegenüber keine Stimme haben, können sie nicht ausreichend in den regulierenden und korrigierenden Austausch kommen, durch den sich ihre Affekte, ihre kindlichen Erfahrungen und Selbstdeutungen in eine gemeinsame Sprache und Kultur verwandeln können. Im Rahmen der wissenschaftlichen Evaluation wurden in einem Mixed-Method-Design quantitative und qualitative Daten von sieben Gruppen mit insgesamt 35 Kindern erhoben und ausgewertet. Die Gruppen fanden einjährig bei wöchentlicher Frequenz statt. Die quantitativen Daten wurden als Prä-Post-Untersuchung mithilfe des Sprachtests SET 5 - 10 und dem Beobachtungsbogen perik erhoben und im Vergleich zu einer Kontrollgruppe analysiert und ausgewertet (vgl. Keller 2013, 132 - 136 und 140 - 147; Rießling 2012 a und 2012 b). Im Vergleich der Rohwerte im Sprachtest SET 5 - 10 zeigte sich für die Kinder der Projektgruppe gegenüber der Kontrollgruppe ein Leistungsanstieg für die Bereiche der Sprachproduktion und des Sprachverständnisses. Im Hinblick auf die mit dem Beobachtungsbogen erfasste sozial-emotionale Entwicklung bildete sich eine signifikant positive Entwicklung der Kinder der Experimentalgruppe im Bereich der Selbststeuerung und Selbstbehauptung ab (ebd. 141 - 147). Da die Kontrollgruppe kein zusätzliches Angebot erhalten hatte, bleibt die Bewertung der rein quantitativen Ergebnisse auf die Aussage beschränkt, dass die zusätzliche Förderung einige der in dem Test erfassten Bereiche der Sprachentwicklung und der sozial-emotionalen Entwicklung positiv beeinflussen konnte, für eine inhaltliche Spezifizierung aber die qualitativen Ergebnisse zu berücksichtigen seien (ebd. 144, 147). Eine weitere Untersuchung mit Schulkindern (n = 60, jeweils hälftig in Experimental- und Kontrollgruppe aufgeteilt) kam zu ähnlichen Ergebnissen: Neben der auch hier signifikant höchsten Verbesserung in der Skala Selbstbehauptung konnten signifikante Verbesserungen des sozialemotionalen Bereichs in den Skalen Sprechfreude und Sprechsicherheit, Aufgabenverständnis sowie Wortschatz und Grammatik festgestellt werden (Menebröcker et al. 2016, 134). Ausgangsmaterial für die qualitative Untersuchung Kellers bildeten 227 Protokollbögen der GruppenleiterInnen. In der Auswertung wurden als Kategorien abstrahiert: Gruppenprozesse, Gruppenthemen und Behandlungsaufträge (Keller 2013, 148 - 171), Aussagen zu Erleben und Haltung der Therapeuten (ebd. 171 - 189), Beobachtungen zum Sprachstand und zum Wirkungsfeld Musik (ebd. 189 - 208), Setting und Ausrüstung (ebd. 208 - 222) sowie Beobachtungen zur Entwicklung einzelner Kinder (ebd. 222 - 244). Die Auswertung zeigte, dass es vor allem die therapeutische Haltung im Umgang mit den Kindern war, die eine positive Entwicklung der Kinder ermöglichte. Sie zeigte sich in Spezifikationen wie der Rücknahme eigener Erwartungen, der improvisatorischen Reaktivität auf die Gruppenprozesse anstelle der Planung von Stundenabläufen, der Orientierung am Entwicklungsstand der einzelnen Kinder sowie einer mentalisierenden therapeutischen Haltung unter Berücksichtigung von Übertragungsphänomenen und der Herstellung eines geschützten Spielraums durch einen speziellen Umgang mit den notwendigen Regulierungen von Divergenzen zwischen den Bedürfnissen Einzelner und dem Funktionieren der Gruppe (vgl. Keller 2013, 183 - 189). 153 FI 3/ 2019 Fachkonzepte der Therapie und Förderung Im Hinblick auf die Kinder zeigte die Auswertung, dass das Projekt zur Stärkung der Identität und zur Entwicklung von Sprachfähigkeit in einer Form beitrug, in der die Kinder über den Weg der Musik Sprache als etwas Eigenes und als Zugewinn erfahren konnten. Trotz teilweise schwierigster Voraussetzungen machten sie (sprach-)entwicklungsfördernde Interaktionserfahrungen, konnten lernen, auf sich und andere zu hören und einen eigenen musikalischen und sprachlichen Ausdruck zu finden. So konnte der Einsatz der Musik sprachentwicklungsgestörten Kindern mit erschwerten Lebensumständen den Weg zur Sprache ebnen und eine Subjektanbindung von Sprache fördern. Dazu, so Keller, müsse der Einsatz von Musik behutsam und bewusst geschehen und die Kinder vor allem auf einer emotionalen Ebene erreicht werden (ebd. 250f). Umsetzung von DMzS in der Praxis Ein oder zweimal in der Woche trifft sich die Gruppe zur Musik. Für eine Stunde werden musikalische Spiele initiiert, in denen es auf eine eher indirekte Art und Weise darum geht, sich die Sprache als Möglichkeit des Sich-Mitteilens, der Kommunikation und des Ausdrucks zu erobern. Eingerahmt in ein Begrüßungs- und ein Abschiedslied, in dem jedes Kind individuell berücksichtigt wird, finden verschiedene musikalische Spiele statt, deren Auswahl und Gestaltung stark von dem mitbestimmt wird, was sich in dieser speziellen Gruppe entwickelt. Beispiel: Zu dem Spiel „Meine Sonne“ trifft sich die Gruppe im Kreis. In der Mitte steht eine Instrument, welches die Sonne darstellt, etwa ein großes Becken oder die Chimes (verschieden lange an einem Holz befestigte Metallröhren). Jedes Kind sucht sich ein Regeninstrument aus, d. h. eines, mit dem sich Regen musikalisch darstellen lässt. Nun spielen alle Kinder mit ihren Regeninstrumenten „Schlechtes Wetter“ bis ein Kind in die Mitte tritt und das Sonneninstrument spielt. Die Regeninstrumente werden leiser, hören dann ganz auf. Die Sonne spielt ausgiebig und allein, bis die Regeninstrumente erneut beginnen. Das Spiel wird so lange wiederholt, bis alle genug haben. Dabei ergeben sich viele Variationen (vgl. Tüpker 2009, 90). Neben den direkten Anregungen zur Sprachproduktion beim Aussuchen passender Instrumente, durch die Offenheit der Situation und die gemeinsamen Erlebnisse in der Musik sind vor allem Aspekte des Spiels bedeutsam, die zu den Voraussetzungen des Spracherwerbs zählen (vgl. Grimm 2012, 15 - 17 und 31 - 54). So können die Kinder in diesem Spiel Erfahrungen nachholen, die eine Voraussetzung für den kommunikativen Gebrauch von Sprache sind wie z. B. die Erfahrung, im Mittelpunkt zu stehen und zugehört zu bekommen. Diese Rolle wird hier freiwillig gewählt und sie ist aufgrund des besonders attraktiven, in der Mitte wartenden Instruments verlockend: Es ist schön, die Sonne sein zu dürfen, die das schlechte Wetter beendet. Das Sonneninstrument klingt hell und zart oder wild und stark, je nachdem wie es gespielt wird. Das Kind macht die Erfahrung, dass die Geräusche der anderen Kinder in den Hintergrund treten und sein Instrument in den Vordergrund rückt und von allen gehört wird. Der wieder eintretende Regen fängt die Einnahme dieser Rolle, die von manchen Kindern sehr viel Mut verlangt, sanft auf. Das kann wie Applaus sein oder ermöglicht die Entspannung im Wiedereintauchen in die Gruppe nach dieser vielleicht aufregenden Erfahrung. Der Auftritt ist eingebettet in ein Spiel, das weitergeht. Oft bietet die Art, wie jetzt der Regen gespielt wird, eine affektive Resonanz auf das Spiel der Sonne. Das muss nicht geübt werden und bedarf keiner Anweisung. Niemand fragt etwas, niemand muss reden und dennoch bleibt die Erfahrung, dass einem zugehört wurde. Indem das Spiel als Ganzes lange gespielt wird, kann jedes Kind drankommen, auch mehrfach und erlebt sich immer wieder auch als Teil der Gruppe, die zuhört oder gemeinsam eine - musikalisch übrigens genauso attraktive - Musik des Regens erzeugt. Sich hörbar zu äußern während die anderen schweigen, ist eine wesentliche Voraussetzung für viele Situationen in Kita und Schule und natür- 154 FI 3/ 2019 Fachkonzepte der Therapie und Förderung lich innerhalb der Familie. In allen angebotenen Spielen kommt mehreres zum Zuge: In „Meine Sonne“ sind Gruppenregulierungen berührt, das Spiel trägt dazu bei, Hemmungen zu überwinden, das Selbstwertgefühl zu stärken und eine Resonanz zu erfahren. Die Initiative zur Einnahme der besonderen Rolle geht vom einzelnen Kind aus. Es hat die Wahl, denn es kann auch in der Gruppe bleiben, solange es dies braucht (vgl. Tüpker 2009, 90). Material und Methodik Veröffentlicht ist ein Repertoire von über 50 musikalischen Spielen (Tüpker 2009, 54 - 124) und drei zentrierenden Geschichten (ebd. 125 - 161). Die Spiele, die aus musikpädagogischen und musiktherapeutischen Kontexten stammen, sind mit praktischen Hinweisen und Erfahrungen versehen. Außerdem sind jedem Spiel Aspekte zugeordnet, die sich auf ihre psychologische Bedeutung beziehen, wie „Eine Wahl haben“, „Regression im Dienste der Entwicklung“, „Subjektanbindung von Sprache“. Direkt auf die Sprachentwicklung bezogen sind Aspekte wie „Anlass zum Erzählen (Wortschatz)“, auf Gesichtspunkte der Gruppe „Ausgleichen und Regulieren“, „Gruppenspiel“, „Rollenspiel“. Weitere Aspekte sind auf die Einsatzmöglichkeiten wie „Konzentration“ oder „Entspannung“ bezogen, andere geben pragmatische Hinweise wie die Zuordnung von „Bewegung“, „Stimme“, „Instrumente“ und „Musikhören“. Die jeweilige Bedeutung der Aspekte für die Sprachentwicklung wird im methodischen Teil erläutert und ein Register bietet die Möglichkeit, die jeweils passenden Spiele aufzufinden (ebd. 170f ). Die Methodik verbindet musikpädagogische mit musiktherapeutischen Erfahrungen und berücksichtigt - angelehnt an die Themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn (2018) - in einem ausgewogenen Verhältnis drei Pole: 1. die individuelle psychologische Verfassung der einzelnen Kinder und die sich daraus ergebenden Entwicklungsaufgaben, 2. die Gruppe als Spielraum zur Entwicklung sozialer Kompetenzen und als Spiegelung der sozialen Situation der Kinder, 3. die Förderung der Sprachentwicklung durch Musik (Tüpker 2009, 23). Die Methodik ist an den Erfahrungen und Grundlagen der tiefenpsychologischen Musiktherapie mit Kindern (vgl. Stiff und Tüpker 2007; Lutz Hochreutener 2009) orientiert: So wird davon ausgegangen, dass die Kinder selbst wissen, was sie für ihre Entwicklung brauchen und welche der angebotenen Spiele ihnen dafür die notwendigen Entwicklungshilfen geben. Dieses unbewusste Wissen wird dadurch erfragt, dass zunächst Angebote vorgegeben werden, dann aber, sobald die Gruppe dazu in der Lage ist, das wiederholt, weitergeführt und variiert wird, was von den Kindern selbst kommt, was sie immer wieder aufgreifen. In allen Gruppen entstehen so Ritualisierungen, gleichbleibende Abläufe, von denen sich dann beobachtbare Veränderungen der Einzelnen oder der Gruppe abheben. Anders als im Musikunterricht geht es nicht darum, dass die Kinder musikalisch vorankommen, sondern darum, dass sie das, was ihnen psychologisch und sozial fehlt, nachholen können, um von da aus die eigene Entwicklung gestärkt aufzunehmen. Diese Regression im Dienste der Entwicklung führt dazu, dass es in den Gruppen manchmal wochenlang dieselben Spiele und Rituale gibt bis sie dann plötzlich fallengelassen werden und etwas anderes dran ist (Tüpker 2009, 22 - 23). Weiterbildung Die seit 2013 an der Westfälischen Wilhelms- Universität in Münster durchgeführte einjährige Weiterbildung (DMzS) umfasst sechs Module mit 116 Unterrichtsstunden. 2 Zugelassen werden kön- 2 https: / / weiterbildung.uni-muenster.de/ zertifikatsstudiengaenge/ durch-musik-zur-sprache/ 155 FI 3/ 2019 Fachkonzepte der Therapie und Förderung nen Beratungslehrkräfte, ErzieherInnen, Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen, LogopädInnen, MusiklehrerInnen, MusiktherapeutInnen, SozialarbeiterInnen, SprachtherapeutInnen sowie Interessierte aus verwandten Berufsgruppen. Therapeutische Erfahrungen sind erwünscht. Vorausgesetzt werden neben abgeschlossenem Studium oder abgeschlossener Berufsausbildung und Berufspraxis praktische Grundkompetenzen im Umgang mit Musik. Inhalte der Weiterbildung umfassen projektbezogene Grundlagen aus Entwicklungspsychologie, Psychoanalyse, Klinischer Psychologie, Sprachentwicklung, Migrationsforschung, Zusammenhänge von Musik und Sprache, sowie praktische Übungen, Standards der Arbeit, Dokumentation und Evaluation, Projektentwicklung und Akquise. Teil der Weiterbildung ist ein selbst zu organisierendes Praxisprojekt, welches in der Gesamtgruppe und in Kleingruppen supervidiert wird. Die Weiterbildung schließt mit einem Universitätszertifikat ab und ist von der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft (DMtG) mit 226 Fortbildungspunkten anerkannt. Der Abschluss qualifiziert zur selbstständigen Durchführung von DMzS-Gruppen in Kitas, Familienbildungsstätten, Schulen, Musikschulen, Beratungsstellen und freien Praxen sowie zur Entwicklung eigener Konzepte zur psychologischen Förderung von Kindern durch Musik in Kleingruppen. Prof. Dr. Rosemarie Tüpker Westfälische Wilhelms-Universität Philippistr. 2 48149 Münster E-Mail: tupker@uni-muenster.de Literatur Cohn, R. (2018): Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Von der Behandlung einzelner zu einer Pädagogik für alle. 15. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart Grimm, H. (2012): Störungen der Sprachentwicklung. Grundlagen - Ursachen - Diagnose - Intervention - Prävention. 3. überarb. Aufl. Hogrefe, Göttingen Jordan, A.-K., Pfeifer, E., Stegemann, T., Lutz Hochreutener, S. (Hrsg.) (2018): Musiktherapie in pädagogischen Settings. Waxmann, Münster Katz-Bernstein, N. (1996): Das Konzept des „Safe Place“ - ein Beitrag zur Praxeologie Integrativer Kinder-Psychotherapie. In: Metzmacher, B., Petzold, H., Zaepfel, H. (Hrsg.): Praxis der Integrativen Kindertherapie in Theorie und Praxis, Band 2. Paderborn, Junfermann, 111 - 142 Keller, B. (2013): Zur Sprache kommen. Konzeptualisierung und Evaluierung eines musiktherapeutischen Förderangebotes. BoD, Norderstedt, https: / / doi. org/ 10.13109/ muum.2018.39.2.192 Kerkmann, U. (2018): Lieder zum Ankommen. Sprachvermittlung und Sprachförderung durch Singen. Helbling; Innsbruck Krägelin, K. (2016): Die Gruppe im Chaos? Darstellung und Reflexion eines musiktherapeutischen Projekts mit Flüchtlingskindern. Masterarbeit Uni Münster, https: / / www.uni-muenster.de/ imperia/ md/ content/ musikpaedagogik/ musiktherapie/ pdf-dateien/ masterarbeit_kr__gelin_2015.pdf, 5. 4. 2019 Laabs, F. (2005): „Spielen ist Sprechen - Sprechen ist Wohnen“ Improvisieren im Gemeinsamen Unterricht. In: Tüpker, R., Hippel, N., Laabs, F. (Hrsg.) (2005): Musiktherapie in der Schule. Wiesbaden, Reichert, 93-105 Lutz Hochreutener, S. 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Reichert, Wiesbaden 156 FI 3/ 2019 Fachkonzepte der Therapie und Förderung Rießling, J.-K. (2012 a): Analyse der Daten des SET 5 - 10 aus dem Projekt „Durch Musik zur Sprache“. Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen. Rießling, J.-K. (2012 b): Analyse der Daten des Beobachtungsbogens perik aus dem Projekt „Durch Musik zur Sprache“. Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen. Schwarzer, N.-H., Gingelmaier, S. (2018): „Und trotzdem ist das Kind noch nicht in den Brunnen gefallen.“ Eine entwicklungspsychologische Argumentation zur Relevanz des Mentalisierungskonzepts in der Frühförderung. Frühförderung interdisziplinär 37 (4), 180 - 190, http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ fi2018.art29d Stiff, U., Tüpker, R. (Hrsg.) (2007): Kindermusiktherapie. Richtungen und Methoden, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, https: / / doi.org/ 10.13109/ 9783 666491054.12 Strehlow, G. (2009): Mentalisierung und ihr Nutzen für die Musiktherapie. Musiktherapeutische Umschau, 30 (2), 89 - 101, http: / / dx.doi.org/ 10.13109/ muum. 2009.30.2.89 Tüpker, R. (2003): Selbstpsychologie und Musiktherapie. In: Oberhoff, B. (Hg): Die Musik als Geliebte. Zur Selbstobjektfunktion der Musik. Gießen, Psychosozial, 99 - 138 Tüpker, R. (2009): Durch Musik zur Sprache. Handbuch. BoD, Norderstedt Tüpker, R. (2014): Musik und Sprache sind Schwestern. Musik und Gesundsein 27. Reichert, Wiesbaden, 16 - 18 Tüpker, R (2011): Musik im therapeutischen Dialog. Psychoanalyse & Körper Nr. 18, 10. Jg., Heft I, 5 - 32 von Moreau, D., Wölfl, A. (Hrsg.) (2002): Zur Idee des therapeutischen Nachnährens - was kann Musiktherapie leisten? Reichert, Wiesbaden Winkelmann, A.-K. (2018): Situationslieder in der Musiktherapie mit Flüchtlingskindern. Masterarbeit Uni Münster. In: https: / / www.uni-muenster.de/ imperia/ md/ content/ musikpaedagogik/ musiktherapie/ pdf-dateien/ masterarbeit__winkelmann___ffentliche_version.pdf, 11. 4. 2019
