eJournals Frühförderung interdisziplinär38/4

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2019.art24d
1_038_2019_4/1_038_2019_4.pdf101
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Soziale Teilhabe von Kindern mit Behinderung in der Kindertagesstätte

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2019
Matthias Lütolf
Simone Schaub
Inklusion in Kindertagesstätten ist in der Schweiz ein junges Phänomen und ihr Gelingen wenig erforscht. Diese explorative Studie untersucht die Soziale Teilhabe von Kindern mit Behinderung exemplarisch. In Videoaufnahmen wurde das Verhalten von Kindern mit (n=10) und ohne Behinderung (n=11) während des Freispiels analysiert und die Soziale Teilhabe anhand von zwei Aspekten verglichen: Beteiligung in Spiel- und Gruppenprozessen und Interaktionen. Die Ergebnisse verweisen auf eine hohe Soziale Teilhabe der Kinder mit Behinderung. Unterschiede zeigten sich in einer häufigeren passiven Teilhabe sowohl hinsichtlich der Beteiligung am Spiel als auch der Interaktionen sowie häufigeren Übergängen zwischen Aktivitäten.
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Frühförderung interdisziplinär, 38.-Jg., S.-176 -190 (2019) DOI 10.2378/ fi2019.art24d © Ernst Reinhardt Verlag 176 Soziale Teilhabe von Kindern mit Behinderung in der Kindertagesstätte Eine Beobachtungsstudie Matthias Lütolf, Simone Schaub Zusammenfassung: Inklusion in Kindertagesstätten ist in der Schweiz ein junges Phänomen und ihr Gelingen wenig erforscht. Diese explorative Studie untersucht die Soziale Teilhabe von Kindern mit Behinderung exemplarisch. In Videoaufnahmen wurde das Verhalten von Kindern mit (n = 10) und ohne Behinderung (n = 11) während des Freispiels analysiert und die Soziale Teilhabe anhand von zwei Aspekten verglichen: Beteiligung in Spiel- und Gruppenprozessen und Interaktionen. Die Ergebnisse verweisen auf eine hohe Soziale Teilhabe der Kinder mit Behinderung. Unterschiede zeigten sich in einer häufigeren passiven Teilhabe sowohl hinsichtlich der Beteiligung am Spiel als auch der Interaktionen sowie häufigeren Übergängen zwischen Aktivitäten. Schlüsselwörter: Inklusion, Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung, Behinderung, Soziale Teilhabe, Beobachtung Social participation of children with disabilities in early childhood education: An observational study Summary: Inclusion in early childhood education is a young phenomenon in Switzerland and its success is not well researched. This explorative study examines the social participation of children with disabilities. In video recordings, the behavior of children with (n = 10) and without disabilities (n = 11) during free play was analyzed and social participation compared on the basis of two aspects: Engagement in play and group processes and interactions. The results indicate a high level of social participation among children with disabilities. Differences were found in more frequent passive participation both in terms of engagement in play and interactions, as well as more frequent transitions between activities. Keywords: Inclusion, early childhood care and education, disabilities, social participation, observation ORIGINALARBEIT Einleitung U nsere Kindertagesstätte bietet auch Betreuungsplätze für Kinder mit Beeinträchtigung an“. Dieser Passus kann in Konzepten der Kindertagesstätten in der Schweiz, welche die außerfamiliäre Betreuung von Kindern im Alter von 0 - 4 Jahren (bis zum Eintritt in die obligatorische Schule) übernehmen, vermehrt gelesen werden. Das Thema der Inklusion hat im pädagogischen und sonderpädagogischen Diskurs, bei Eltern und Interessensvertretern im Bereich der Schule seit geraumer Zeit Bestand. Mit der Schweizer Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) im Jahre 2014 richtet sich der Blick gezielter auf das Recht auf Teilhabe oder Partizipation von Geburt an. Teilhabe und Partizipation werden im Deutschen synonym verwendet und meinen, dass jede Person „[…] ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird […]“ (World Health Organization 2005, vi). Das Recht auf Teilhabe kann im Besonderen auch in familienergänzenden Be- „ 177 FI 4/ 2019 Soziale Teilhabe von Kindern mit Behinderung in der Kita treuungseinrichtungen im Vorschulalter eingefordert werden. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass die anzustrebende Inklusion der Kinder mit Behinderung mit Herausforderungen für die durchführenden Institutionen und die beteiligten Fachkräfte verbunden ist (Sarimski 2015). Mögliche Herausforderungen betreffen neben strukturellen Gegebenheiten (z. B. die Infrastruktur) im Besonderen auch konzeptionelle Themen (z. B. der Umgang mit Heterogenität, die inklusive Betreuungspraxis). Der vorliegende Beitrag beleuchtet erste Ergebnisse aus der Studie „Teilhabe in der Kindertagesstätte (TiKi)“, welche im Jahre 2017 in der Stadt Zürich gestartet wurde. Teilhabe in der inklusiven Kindertagesstätte In der Schweiz gibt es verschiedene Anstrengungen auf privater, städtischer und kantonaler Ebene, welche die Inklusion in Kindertagesstätten unterstützen (Lütolf und Schaub 2017). Diese beruhen auf Initiativen von Interessensvertretern (z. B. KITAplus, Tanner Merlo et al. 2014), da sowohl für Kinder ohne wie auch mit Behinderung keine gesetzliche Grundlage für ein Anrecht auf einen Platz in einer Kindertagesstätte besteht. Kindertagesstätten werden in der Schweiz nicht zum Bildungssystem gezählt. Erst mit dem Eintritt in den Kindergarten beginnt die Schulpflicht (EDK 2014, SODK 2013). Daher ist die institutionelle Fremdbetreuung der Kinder weiterhin eine private Angelegenheit, welche auch im hohen Maße von den Familien selber bezahlt wird (Stamm und Edelmann 2010). Bislang fehlen schweizweite Zahlen zur Inklusionsquote im Vorschulalter. Eine Annäherung bieten Zahlen aus der Stadt Zürich (2018). Dort nahmen im Jahr 2017 113 Kinder mit Behinderung ein familienexternes Betreuungsangebot in Anspruch (Stadt Zürich 2018). Dies entspricht einem Anteil von knapp 0,5 Prozent aller in der Stadt Zürich lebenden Vorschulkinder. Im Vergleich zur Sonderschulquote von rund 4 Prozent (Statistik Stadt Zürich 2017) ist dieser Anteil gering und ein Hinweis darauf, dass Familien mit Kindern mit Behinderung seltener familienergänzende Betreuungsangebote nutzen als Familien mit Kindern ohne Behinderung. Gleichzeitig weist die seit 2014 von damals 65 Kindern deutlich höhere Zahl inklusiv betreuter Kinder (113 Kinder im Jahre 2017) in den Kindertagesstätten auf eine ansteigende Nachfrage hin. Die Schweiz steckt folglich in der Umsetzung der Inklusion in vorschulischen Betreuungsangeboten in den Anfängen (vgl. Inclusion Handicap 2017). Wie auch in Deutschland (Wiedebusch et al. 2015) gilt es, die konzeptionelle Arbeit - sowohl organisational als auch pädagogisch - noch mehrheitlich zu tätigen und empirische Erkenntnisse zu gewinnen. Eine Kernfrage gelingender Inklusion in eine Kindertagesstätte ist jene nach der Sozialen Teilhabe aller Kinder, ungeachtet ihrer Besonderheiten. Zentrales Merkmal der Sozialen Teilhabe im Sinne von „Eingebundensein“ in den Alltag (World Health Organization 2005, 16) einer Kindertagesstätte ist die Beteiligung an Gruppenprozessen (Wiedebusch und Albers 2016). Beteiligung in Spiel- und Gruppenprozesse sind gemäß Klein et al. (2012) als unmittelbare Zeichen der Teilhabe zu verstehen. Sarimski (2016, 30) betrachtet im Weiteren „positive Kontakte und Interaktionen“ neben „Freundschaften und positiven Beziehungen“ und „Erfahrung der Akzeptanz“ als weiteres Kernkriterium für gelingende Soziale Teilhabe. Nach Imms et al. (2017) wird Partizipation oder Teilhabe im Sinne der Dimensionen attendance und involvement definiert. Attendance und involvement erfassen die Aspekte „Dabei sein - teilnehmen“ und „Einbezogen und aktiv sein“ in einer Situation. Beobachten lässt sich „Einbezogen und aktiv sein“ anhand der Auseinandersetzung mit der physischen Umwelt, dem Material oder den Personen in Gruppenprozessen (Kemp et al. 2013). Diese Auseinandersetzung geschieht in der Beteiligung an Gruppenaktivitäten oder anderen, in der Situation vorgesehe- 178 FI 4/ 2019 Matthias Lütolf, Simone Schaub nen Aktivitäten (z. B. Einzelspiel im Rahmen des Freispiels). In diesen Situationen manifestieren sich auch soziale Kontakte und Interaktionen. Interaktionen zeichnen sich nach König (2009) dadurch aus, „dass sich Subjekte wechselseitig aufeinander beziehen“ (S. 67). In der vorliegenden Untersuchung beziehen sich die zu beobachtenden Interaktionen auf den kommunikativen Austausch - verbal oder nonverbal - zwischen den anwesenden Personen. Die Kriterien Beteiligung und Interaktion lassen sich somit als bedeutungsvoll im Hinblick auf die inklusive Betreuung betrachten und werden nachfolgend in Bezug auf den Forschungsstand diskutiert Beteiligung in Spiel- und Gruppenprozessen Primäre Lern- und Entwicklungsumgebung im frühen Kindesalter ist das freie Spielen (Kontos et al. 1998). In Kindertagesstätten ist die Freispielsituation ein didaktisches Grundelement, welches gezielt im Alltag eingesetzt und in Bildungskonzepten beschrieben wird (Wildgruber et al. 2016). Im Zentrum des Freispiels steht die freigewählte Aktivität, welche jedoch stets auch durch die sozialen Normen der Gruppe bestimmt ist (Janson 2011). Das Freispiel birgt für Kinder mit Behinderung spezifische Herausforderungen, da bestimmte Beeinträchtigungen mit spezifischen Aktivitätsbeschränkungen einhergehen können. Inmann Linn et al. (2000) beobachteten im Freispiel von Kindern mit Down-Syndrom eine zeitlich höhere Rate an passivem Spielverhalten und vermehrt Spielabbrüche mit wiederholtem Aufnehmen des Spiels nach Pausen im Vergleich zu Kindern ohne Down-Syndrom. Dies deckt sich mit weiteren Befunden. Kinder mit Behinderung verhalten sich öfter passiv, beobachten andere Kinder und zeigen eine höhere Wechseltendenz des Spiels. Auch nehmen Kinder mit Behinderung weniger an kooperativen Spielen teil, sondern verbringen mehr Zeit im Einzelspiel und in Eins-zu-Eins-Aktivitäten mit den Betreuungspersonen (u. a. Guralnick et al. 1995, Hestenes und Caroll 2000, Odom et al. 2002, Walker 2007). Gleichzeitig ist die Forschungslage heterogen und verweist auf verschiedene Einflussgrößen (siehe Übersicht in Odom et al. 2004). So fanden zum Beispiel Kemp et al. (2013) Gruppenunterschiede in der aktiven Beteiligung zwischen Kindern mit und ohne Behinderung insbesondere in moderierten Gruppenaktivitäten, nicht aber im freien Spiel. Interaktion in Spiel- und Gruppenprozessen Soziale Kontakte oder Interaktionen gelingen nach Beauchamp und Anderson (2010) in Situationen, in denen die Interaktionspartner einer Situation Bedeutung beimessen, die sozialen und kommunikativen Signale interpretieren und entsprechend darauf reagieren. Studien zeigen, dass Kinder mit Behinderung in inklusiven Einrichtungen im Vergleich zu separativen Einrichtungen vermehrt positive Interaktionen zeigen, vermehrt Interaktionsmöglichkeiten suchen und nutzen und die inklusive Betreuung zu einer höheren sozialen Akzeptanz und zu mehr Freundschaften beiträgt (siehe Übersicht in Odom et al. 2011). Odom und Bailey (2001) berichten im Weiteren, dass die vermehrten Interaktionen positive Auswirkungen auf das Verhalten und die Spielentwicklung haben. Im Vergleich zu ihren nicht entwicklungsauffälligen Peers finden sich allerdings Unterschiede. Kinder mit Behinderung nehmen weniger Kontakt zu Kindern auf, wenden sich öfters an Erwachsene und haben weniger Freundschaften (Sarimski 2012). Zudem zeigte Hanline (1993), dass Peers weniger auf Interaktionsangebote von Kindern mit Behinderung reagierten. Diese Beobachtungen werden auch aus dem Kontext Schule berichtet: Kinder mit Behinderung pflegen weniger freundschaftliche Beziehungen, sind öfters alleine und erleben häufiger Mob- 179 FI 4/ 2019 Soziale Teilhabe von Kindern mit Behinderung in der Kita bingtendenzen (Koster et al. 2010, Koller et al. 2018). Dieser Befund lässt sich vermutlich unter anderem dadurch erklären, dass Kinder ohne Behinderung das Spiel mit anderen Kindern ohne Behinderung bevorzugen (Hestenes und Caroll 2000, Walker 2007). Besonders Kinder mit einer komplexen (mehrfachen) Behinderung zeigen zwar ein hohes Interesse an sozialen Kontakten. Dieses unterscheidet sich jedoch stark vom Gegenüber, und soziale Interaktionen beschränken sich größtenteils auf den Austausch mit einer erwachsenen Bezugsperson. Wiederholt lässt sich zudem festhalten, dass Kinder mit Behinderung Interaktionen passiv beobachten (Nijs et al. 2016, Sarimski 2016). Zusammengefasst zeigt die mehrheitlich aus Deutschland und englischsprachigen Ländern stammende empirische Befundlage, dass Kinder mit Behinderung sowohl hinsichtlich der Beteiligung als auch hinsichtlich der Interaktionen von einer inklusiven Betreuung profitieren können. Gleichzeitig verweisen Studien auf die Unterschiede zu ihren Peers ohne Behinderung. In der Schweiz besuchen Kinder mit Behinderung vermehrt inklusive Kindertagesstätten. Allerdings ist das Gelingen dieser Inklusionen empirisch noch wenig erforscht. Das Forschungsprojekt „TiKi“ der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik geht dieser Frage nach. Leitend für den gegenwärtigen Beitrag war folgende Frage: Unterscheidet sich die Soziale Teilhabe von Kindern mit Behinderung von jener ihrer gleichaltrigen Peers? Im Besonderen wurden folgende Fragestellungen untersucht: n Unterscheiden sich Kinder mit und ohne Behinderung in der Häufigkeit und Form der Beteiligung? n Unterscheiden sich Kinder mit und ohne Behinderung in der Häufigkeit und Form der Interaktion? Methode Die hier präsentierten Daten stammen aus dem Forschungsprojekt „TiKi“, in welchem gelingende Bedingungen der Inklusion in einer „Mixed-Method“-Versuchsanlage untersucht werden 1 . Die Studie wird zwischen 2017 und 2020 durchgeführt und besteht in der vorgängig quantitativen Phase aus Beobachtungen von Kindern im Alltag von Kindertagesstätten in der Stadt Zürich und einer schriftlichen Befragung der assoziierten Fachpersonen der Frühen Bildung zu ihren Einstellungen zur Inklusion. In der daran anschließenden qualitativen Phase werden hemmende und fördernde Faktoren der Inklusion aus Sicht der Fachpersonen und der Eltern ermittelt. Abschließend werden die Beziehungen der verschiedenen Datenquellen und Systemebenen untersucht. Für die Beobachtungen wurden die Kinder im freien Spiel, während einer Kreissituation und während dem Mittagessen videografiert. Im Folgenden wird der Fokus auf das kindliche Verhalten während des Freispiels gelegt. Stichprobe Insgesamt nahmen 22 Kinder aus 9 Kindertagesstätten der Stadt Zürich teil. In allen Kindertagesstätten wurde jeweils mindestens ein Kind integrativ betreut. Eine Heilpädagogin berät punktuell die Fachpersonen der Kindertagesstätten, ist im Alltag aber nicht präsent. Von den 11 Kindern der Fokusgruppe (FG) konnte ein Kind während des Freispiels nicht gefilmt werden und daher nicht in die Analyse aufgenommen werden. Die verbleibenden 10 Kinder waren in der Kindertagesstätte als „Kinder mit besonderen Bedürfnissen“ gemeldet. Alle hatten eine Verfügung für son- 1 Wir danken Moira Corina für die Mitarbeit im Projekt. Für die finanzielle Unterstützung danken wir der Schweizerischen Stiftung für das cerebral gelähmte Kind und der Dr. Hedwig Stauffer Stiftung. Unser besonderer Dank gilt allen teilnehmenden Kindern und ihren Eltern, der Stiftung GFZ Zürich und dem Kita Kinderhaus Imago. 180 FI 4/ 2019 Matthias Lütolf, Simone Schaub derpädagogische Unterstützung aufgrund einer diagnostizierten Behinderung oder Entwicklungsverzögerung und wurden von der Heilpädagogischen Früherziehung (HFE) im familiären Umfeld begleitet 2 . Die Behinderungsmerkmale der Kinder und die Bereiche des Förderbedarfs waren vielfältig. Gemäß den Angaben der Eltern oder der HFE hatten fünf Kinder einen allgemeinen Entwicklungsrückstand unklarer Ätiologie, teilweise mit zusätzlichen Beeinträchtigungen wie einer schweren Sehbeeinträchtigung oder einer erheblichen motorischen Beeinträchtigung. Fünf Kinder wiesen die Diagnose eines genetischen Syndroms auf, davon vier Kinder mit Down-Syndrom. Alle Kinder wiesen Sprachentwicklungsauffälligkeiten in heterogener Ausprägung auf. Für die Rekrutierung der 11 Kinder der Kontrollgruppe (KG) wurden Eltern von Kindern gleichen Alters angeschrieben, deren Sozialverhalten von den Fachpersonen der Kindertagesstätte als unauffällig und altersentsprechend erachtet wurde. Zudem besuchten das Kind der FG und das Kind der KG die Kita an den gleichen Tagen und in der gleichen Gruppe. Alle Eltern wurden gebeten, einen Fragebogen mit Angaben zur Familie, zu den Kindern und dem Kindertagesstätten-Besuch der Kinder auszufüllen. Bei Bedarf wurden Angaben zur Behinderung der Kinder in Zusammenarbeit mit der jeweiligen Heilpädagogischen Früherzieherin ausgefüllt. Schließlich wurde die schriftliche Einwilligung aller Eltern der jeweiligen Gruppen eingeholt, Videoaufnahmen ihrer Kinder zu machen. Die Kinder der FG und der KG waren vergleichbar hinsichtlich des Geschlechts (FG Anzahl Mädchen, n = 6, KG, n = 5) und des Alters (FG, range = 2; 03 - 4; 10 Jahre, M = 3; 08, SD = 0; 10, KG, range = 2; 04 - 4; 08 Jahre, M = 3; 07, SD = 0; 09). In der KG sprachen signifikant mehr Kinder Deutsch als Erstsprache als in der FG (FG, n = 4, KG, n = 9), c 2 = 4.70, p = .030. Zudem waren die Kinder der KG häufiger in der Kindertagesstätte (M = 3.2 Tage, SD = 1.1) als die Kinder der FG (M = 2.3 Tage, SD = 0.9), t(19) = 1.98, p = .062, und sie besuchten die Kindertagesstätte seit längerer Zeit (M = 2 Jahre 11 Monate, SD = 9 Monate) als die Kinder der FG (M = 1 Jahr 5 Monate, SD = 12 Monate), t(18) = 3.86, p = .001. Die FG wies eine hohe Heterogenität hinsichtlich des sonderpädagogischen Förderbedarfs auf. Deshalb wurden zusätzliche Auswertungen mit einer vergleichbaren Teilstichprobe gemacht. Diese Teilstichprobe bestand aus den fünf Kindern mit genetischen Syndromen (FG 1) und ihren gleichaltrigen Peers (KG 1) aus derselben Gruppe. Vorgehen und Kodierung Die Gruppe wurde in der Regel am Morgen für die Dauer von 30 Minuten durch eine von drei Projektmitarbeitenden während dem freien Spiel gefilmt. Im Anschluss wurden die Videos mit der Software „Behavioral Observation Research Interactive Software“ (BORIS, Friard und Gamba 2016) nach dem Zeitstichproben-Verfahren in Segmenten von 15 Sekunden kodiert. Tab. 1 beschreibt die verwendeten Kategorien zur Kodierung der Beteiligung (modifiziert nach Kishida et al. 2008). Zusätzlich wurde die Form der aktiven Beteiligung kodiert (modifiziert nach Fantuzzo et al. 1995). 2 Gemäß EDK (2007) wird der Aufgabenbereich der HFE wie folgt definiert: „In der Heilpädagogischen Früherziehung werden Kinder mit Behinderungen, mit Entwicklungsverzögerungen, -einschränkungen oder -gefährdungen ab Geburt bis maximal zwei Jahre nach Schuleintritt mittels Abklärung, präventiver und erzieherischer Unterstützung sowie angemessener Förderung im familiären Kontext behandelt“ (S.3). 181 FI 4/ 2019 Soziale Teilhabe von Kindern mit Behinderung in der Kita In jedem Segment wurde zudem die Interaktion kodiert. In Anlehnung an bisherige Studien wurden die initiierende und die reaktive Handlung, die initiierende Person und die Kommunikationsform kodiert (u. a. Hanline 1993, Nijs et al. 2016). In Tab. 2 werden die Kategorien erläutert. Nach Erarbeitung des Codeschemas wurden die Projektmitarbeitenden geschult und anhand von Testvideos, welche nicht in die eigentliche Untersuchung aufgenommen wurden, in die Codiertätigkeit eingeführt. Alle zur Auswertung kommenden Videos wurden anschließend von einer studentischen Projektmitarbeiterin kodiert. Zum Überprüfen der Reliabilität wurden jeweils drei Kinder der FG und der KG (ca. 30 % der Aufnahmen) durch die Projektleitenden gegenkodiert. Die Interrater-Reliabilität (Cohens Kappa) fiel mit einem Minimum von .70 pro Video zufriedenstellend aus. Ergebnisse Insgesamt konnten 2362 Ereignisse zur Beteiligung und 2384 Ereignisse zur Interaktion kodiert werden. Pro Kind waren zwischen 0 und 32 Ereignisse zur Beteiligung und zwischen 0 und 36 Ereignisse zur Interaktion nicht kodierbar (z. B. das Kind ist nicht im Bild, Kategorie Definition Aktive Beteiligung Angemessene Auseinandersetzung mit der Umgebung durch Manipulation von Objekten, Bewegung oder Vokalisierung/ Sprache n Spiel Einzelspiel Parallelspiel Gruppenspiel Konzentration auf eigene Aktivität, wenig Beachtung der Kinder in der Umgebung Neben oder in Begleitung anderer Kinder, mit ähnlichen Spielsachen Mit anderen Kindern mit gemeinsamem Ziel oder Zweck n Alltag Aufräumen, Anziehen, Essen n Konversation Gespräch ohne Bezug zur gegenwärtigen Handlung n Musisch Singen, musizieren n Medien Bilderbuch betrachten, CD hören n Transition Übergang von einer Aktivität in eine andere Passive Beteiligung Angemessene Auseinandersetzung mit der Umgebung ohne Manipulation, Bewegung oder Vokalisierung/ Sprache (z. B. anderen Kindern beim Spielen zuschauen, zuhören) Aktive Nichtbeteiligung Unangemessene Auseinandersetzung mit der Umgebung durch Manipulation, Bewegung oder Vokalisierung/ Sprache (z. B. repetitive Verhaltensweisen, davonlaufen) Passive Nichtbeteiligung Keine (z. B. vor sich hin träumen) oder unangemessene Auseinandersetzung mit der Umgebung ohne Manipulation, Bewegung oder Vokalisierung/ Sprache (z. B. in der Kreissituation auf etwas außerhalb der Gruppe schauen) Nicht kodierbar Das Verhalten ist nicht bestimmbar (z. B. das Kind ist nicht im Bild, Interaktion mit der filmenden Person) Tab. 1: Kodierung der Beteiligung 182 FI 4/ 2019 Matthias Lütolf, Simone Schaub das Kind interagiert mit der filmenden Person). Aufgrund dieser hohen Spannbreite zwischen den Kindern wurden nicht die absoluten Häufigkeiten ausgewertet. Stattdessen wurden die Beobachtungen pro Kategorie aggregiert und die Anteile an den gesamt beobachteten Ereignissen je Kind ermittelt. Die Auswertung der Daten auf Gruppenebene erfolgte mit dem Programm SPSS 24. Aufgrund der kleinen Stichprobe und Verletzungen der parametrischen Voraussetzungen wurden Gruppenunterschiede mit dem verteilungsfreien Mann-Whitney-U-Test überprüft. Dieser Test transformiert die Messwerte in Ränge und prüft, ob sich die Verteilungen hinsichtlich der zentralen Tendenz unterscheiden (Bortz 2006). Beteiligung Tab. 3 zeigt die prozentualen Häufigkeiten der Formen der Beteiligung in den beiden Gruppen sowie die statistischen Kennwerte der Gruppenvergleiche. Abb. 1 zeigt die prozentualen Häufigkeiten der Beteiligung in den 5 Dyaden der Teilstichprobe. Aktive Beteiligung war in beiden Gruppen die häufigste Form der Beteiligung gefolgt von passiver Beteiligung. Nichtbeteiligung war bei beiden Gruppen äußerst selten, sodass aktive und passive Nichtbeteiligung zusammenaddiert wurden. Ein Vergleich der zwei Gruppen mittels des Mann-Whitney-U-Tests ergab signifikante Unterschiede bei der aktiven und der passiven Kategorie Definition Initiierende Handlung In den 3 Sekunden vor dem Zeitintervall findet ein Interaktionsangebot statt zwischen dem beobachteten Kind n und einem anderen Kind n und einer Gruppe n und einer Erzieherin, einem Erzieher Fokuskind sendend Die Interaktion geht vom beobachteten Kind aus n Verbal: Kontakt wird über Vokalisierungen/ Sprache hergestellt, welche durch motorische oder objektbezogene Handlungen begleitet sein können n Motorisch: Kontakt wird durch Bewegung hergestellt, z. B. sich zu einem Kind hinwenden und Blickkontakt suchen n Objektbezogen: Kontakt wird über ein Objekt hergestellt, z. B. ein Spielzeug anbieten Reaktive Handlung n Keine: Falls innerhalb von 3 Sekunden keine Reaktion erfolgte n Aufrechterhaltend: Falls Gegenüber innerhalb von 3 Sekunden kooperativ reagierte (z. B. Objekt entgegennehmen, antworten) n Beendend: Gegenüber zeigt innerhalb von 3 Sekunden eine Reaktion, welche zum Abbruch der Interaktion führt (z. B. wegdrehen, schreien) Fokuskind empfangend Die Interaktion geht vom Gegenüber aus n Verbal n Motorisch n Objektbezogen Reaktive Handlung n Aufrechterhaltend n Keine n Beendend Tab. 2: Kodierung der Interaktion 183 FI 4/ 2019 Soziale Teilhabe von Kindern mit Behinderung in der Kita Beteiligung sowohl für die Gesamtgruppe als auch für die fünf Kinder mit genetischen Syndromen und ihren Peers. In der Teilstichprobe zeigten die Kinder mit genetischen Syndromen zudem marginal signifikant häufiger keine Beteiligung. Die Boxplots in Abb. 2 illustrieren die gefundenen Gruppenunterschiede. Zugleich wird deutlich, dass die Beobachtungen zwischen den Kindern der FG eine deutlich größere Streuung aufweisen als jene der Kinder der KG. Beide Gruppen verbrachten den Großteil der aktiven Beteiligung im Spiel. Medien-, Musik- oder Alltagsaktivitäten wurden selten beob- FG KG FG - KG FG 1 - KG 1 Kategorie M (SD) M (SD) U p 1 U p 1 Aktive Beteiligung 60.8 (18.3) 71.4 (8.3) 28 .031 4 .048 Spiel 46.9 (21.7) 59.8 (13.4) 29 .036 2 .028 n Parallelspiel n Einzelspiel n Gruppenspiel 24.4 (17.4) 18.9 (22.5) 3.7 (5.8) 28.8 (17.4) 12.6 (15.1) 18.4 (23.8) 48 44 31 .327 .234 .043 6 12 10.5 .111 .468 .365 Transition Konversation Anderes 7.5 (4.9) 4.4 (4.6) 2.0 (2.8) 3.8 (3.0) 6.3 (6.9) 1.4 (2.4) 31.5 45 51 .051 .250 .389 2 11.5 10.5 .016 .448 .341 Passive Beteiligung 37.7 (17.1) 27.9 (8.1) 28.5 .032 4 .048 Keine Beteiligung 1.5 (1.7) 0.7 (0.9) 40.5 .154 4 .052 1 exakte Signifikanz, einseitig Tab. 3: Mittlere prozentuale Anteile und Gruppenvergleiche in der Beteiligung in der Gesamtstichprobe (FG - KG) und in der Teilstichprobe (FG 1 - KG 1) D 5 KG 1 FG 1 D 4 KG 1 FG 1 D 3 KG 1 FG 1 D 2 KG 1 FG 1 D 1 KG 1 FG 1 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Spiel Transition andere aktive Beteiligung passive Beteiligung keine Beteiligung Abb. 1: Prozentuale Häufigkeiten der Beteiligung in den fünf Dyaden der Teilstichprobe 184 FI 4/ 2019 Matthias Lütolf, Simone Schaub achtet und wurden zu einer Kategorie (Anderes) zusammengefasst. Die KG war signifikant häufiger im Spiel aktiv als die FG. Ein marginal signifikanter Unterschied zeigte sich bei der Transition, welche bei der FG häufiger war als bei der KG. In der Teilstichprobe zeigten sich signifikante Unterschiede bei beiden Formen der Beteiligung. Die häufigste Form des Spiels war bei beiden Gruppen das Parallelspiel. Das Einzelspiel war die zweithäufigste Form bei den Kindern der FG und sie waren selten in einem Gruppenspiel. Die KG war signifikant häufiger im Gruppenspiel beschäftigt. Die Teilstichprobe FG 1 und KG1 unterschieden sich nicht signifikant hinsichtlich der Form des Spiels. 100 80 60 40 20 0 Prozent 100 80 60 40 20 0 Prozent KG FG KG 1 FG 1 aktive Beteiligung passive Beteiligung aktive Beteiligung passive Beteiligung Empfangen Senden Empfangen Senden Abb. 2: Boxplots der prozentualen Häufigkeiten der Beteiligungen und der Interaktion (Empfangen/ Senden) in der Gesamtstichprobe (KG/ FG) und der Teilstichprobe (KG 1/ FG 1) 185 FI 4/ 2019 Soziale Teilhabe von Kindern mit Behinderung in der Kita Interaktion In Tab. 4 sind die prozentualen Häufigkeiten der Interaktion und die statistischen Kennwerte aufgeführt. Bei der FG wurden mit 37.9 % marginal signifikant weniger initiierende Handlungen beobachtet als bei der KG mit 51.0 %. Die FG war zudem signifikant weniger Senderin oder Sender der initiierenden Handlung als die KG, während die Gruppen gleich häufig Empfängerin oder Empfänger einer initiierenden Handlung waren. Während bei der FG Interaktionen mit einer Erzieherin oder einem Erzieher am häufigsten beobachtet wurden, waren bei der KG Interaktionen mit einem anderen Kind gleich häufig. Bei beiden Gruppen wurden Interaktionen mit einer Gruppe selten beobachtet. Statistisch interagierten die Kinder der KG signifikant häufiger mit einem anderen Kind und in der Tendenz häufiger mit einer Gruppe als die FG. Hinsichtlich der Kommunikationsform waren bei beiden Gruppen verbale Interaktionen am häufigsten, gefolgt von motorischen und objektbezogenen. Marginal signifikant unterschieden sich die Gruppen bei der verbalen Interaktion. Bezüglich der reaktiven Handlungen wurden sowohl in den Handlungen des beobachteten Kindes als auch bei den Handlungen des jeweiligen Gegenübers am häufigsten aufrechterhaltende Reaktionen beobachtet und selten beendende Reaktionen. In den Reaktionen des Gegenübers zeigte sich kein Gruppeneffekt. In den Reaktionen des beobachteten Kindes un- FG KG FG - KG FG 1 - KG 1 M (SD) M (SD) U p 1 U p 1 Initiierende Handlungen gesamt 37.9 (21.7) 51.0 (19.4) 35.5 .090 10 .345 Fokuskind sendend 15.8 (12.2) 27.5 (13.1) 29 .036 9 .274 Reaktiv n Aufrechterhaltend n Keine n Beendend 76.1 (14.6) 18.5 (10.8) 5.5 (7.9) 74.2 (13.9) 22.6 (13.3) 3.3 (3.8) 49.5 43.5 47.5 .507 .334 .441 11.5 10.5 10.5 .448 .373 .341 Fokuskind empfangend 22.6 (10.8) 23.8 (9.9) 53 .459 12 .500 Reaktiv n Aufrechterhaltend n Keine n Beendend 76.4 (11.3) 19.4 (11.2) 4.2 (7.5) 84.1 (7.2) 14.8 (6.7) 1.1 (1.9) 29.5 39.5 45 .037 .145 .200 9.5 11.0 7 .298 .421 .143 Mit Erzieher/ in Mit Kind Mit Gruppe 24.7 (18.9) 11.3 (14.6) 1.9 (2.4) 22.0 (14.8) 24.2 (21.6) 4.8 (5.6) 53 28 32.5 .459 .031 .057 12 12 8.5 .500 .500 .222 Verbal Motorisch Objektbezogen 21.4 (16.3) 11.3 (13.3) 5.8 (5. 7) 31.4 (11.8) 15.0 (12.0) 4.8 (3.5) 32 53 45 .055 .249 .453 6 9 5 .111 .075 .274 1 exakte Signifikanz, einseitig Tab. 4: Mittlere prozentuale Anteile und Gruppenvergleiche in der Interaktion in der Gesamtstichprobe (FG - KG) und in der Teilstichprobe (FG 1 - KG 1) 186 FI 4/ 2019 Matthias Lütolf, Simone Schaub terschieden sich die Gruppen dagegen. Die FG zeigte signifikant seltener aufrechterhaltende Reaktionen auf ein Interaktionsangebot. Zwischen den Kindern mit genetischem Syndrom und ihren Peers ergaben sich keine statistisch bedeutsamen Gruppenunterschiede der Interaktion. Einzig motorische Formen der Interaktion wurden von den Kindern mit genetischem Syndrom marginal signifikant häufiger verwendet. Andere Einflüsse auf die Beteiligung und Interaktion Aufgrund der kleinen Stichprobe konnten Merkmale der Kinder nicht als Kovariaten in den Analysen berücksichtigt werden. Separate Analysen sollen diese möglicherweise konfundierenden Einflüsse beleuchten. Hinsichtlich der aktiven Beteiligung zeigten sich keine Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, U = 43, p = .631, und Kindern mit Deutsch als Erst- oder Zweitsprache, U = 52, p = 1.00. Zudem zeigten sich keine signifikanten Korrelationen nach Spearman mit dem Alter, r s = -.03, p = .911, der Anzahl Tage in der Kindertagesstätte, rs = .29, p = .207, oder der Dauer in der Kindertagesstätte, r s = .30, p = .198. Die Häufigkeit der Interaktionen hing nicht signifikant mit dem Geschlecht, U = 18, p = .896, oder der Erstsprache zusammen, U = 38, p = .345. Auch das Alter, r s = .29, p = .200, und die Anzahl Tage in der Kindertagesstätte, r s = .-.01, p = .978, korrelierten nicht signifikant mit der Häufigkeit der Interaktion. Allerdings stieg die Häufigkeit der Interaktion mit zunehmender Dauer in der Kindertagesstätte r s = .39, p = .086. Separate Analysen zeigten nur bei der KG einen schwachen Zusammenhang zwischen Interaktion und Dauer in der Kindertagesstätte, rs = .41, p = .209; nicht aber bei der FG, r s = .12, p = .765. Diskussion und Implikationen für Praxis und Forschung In der vorliegenden Studie wurde die Soziale Teilhabe von 10 Kindern mit Behinderung und ihren Peers in Zürcher Kindertagesstätten anhand von zwei Merkmalen untersucht: Die Beteiligung an Spiel- und Gruppenprozessen und die in den Spiel- und Gruppenprozessen stattfindenden Interaktionen. Die Beobachtungen des Freispiels zeigen, dass sich alle Kinder die meiste Zeit aktiv am Geschehen beteiligten und im hohen Maße am Spielalltag teilhatten. Gleichzeitig fanden sich beträchtliche Unterschiede zwischen den Gruppen, welche im Folgenden erläutert werden. Im Vergleich zu ihren Peers zeigten die Kinder mit Behinderung aufgrund der Vielfalt hinsichtlich des sonderpädagogischen Förderbedarfs eine deutlich größere Heterogenität in den beobachteten Verhaltensweisen. Mit Vergleichen einer Teilstichprobe von fünf Kindern mit einem Down-Syndrom oder einem vergleichbaren genetischen Syndrom und ihren jeweiligen Peers aus der gleichen Kindertagesstätte werden deshalb die in der Gesamtgruppe beobachteten Befunde verifiziert. Aus den gewonnenen Erkenntnissen werden abschließend erste Implikationen für Praxis und Forschung generiert. Wie in bisherigen Studien (u. a. Hestenes und Caroll 2000, Walker 2007) waren die Kinder mit Behinderung häufiger passiv beteiligt, befanden sich häufiger im Übergang von einer Aktivität zur anderen und beteiligten sich weniger an Gruppenspielen. Die erhöhte passive Beteiligung und der häufige Wechsel der Spieltätigkeit zeigte sich auch bei der Teilstichprobe und repliziert bisherige Befunde zu Kindern mit Down-Syndrom (Inman Linn et al. 2000). Diese Unterschiede lassen sich einerseits mit den individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen der Kinder, welche in Zusammenhang mit behinderungsbedingten Beeinträchtigungen stehen, erklären. Im Spiel von Kindern mit Entwicklungsbeeinträchtigungen treten Besonderhei- 187 FI 4/ 2019 Soziale Teilhabe von Kindern mit Behinderung in der Kita ten auf, welche sich abhängig von den jeweiligen Einschränkungen unterschiedlich auswirken (Schroer et al. 2016). Nach Wilken (2017) sind beispielsweise Kinder mit Down-Syndrom oftmals leicht ablenkbar und wechselhaft in den Spielhandlungen. Generell stellt die Unterstützung von Kindern in ihren individuellen Entwicklungs- und Lernprozessen für die Fachkräfte von Kindertagesstätten eine besondere Herausforderung dar (Perren et al. 2017). Ein weiterer Grund kann daher andererseits auch im Spielangebot selber und in der Gestaltung einer den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Kinder angepassten Spielsituation sein. Die Kinder mit Behinderung waren seltener in Interaktion als ihre Peers, waren weniger oft Senderin oder Sender von Interaktionsangeboten und standen seltener in Interaktion mit anderen Kindern aus der Gruppe. Auch reagierten die Kinder mit Behinderung auf ein Interaktionsangebot seltener aufrechterhaltend als ihre Peers. Diese Ergebnisse bestätigen verschiedene Untersuchungen (u. a. Sarimski 2012, Nijs et al. 2016). Entgegen bisheriger Studien wurden allerdings keine Unterschiede im Verhalten der Peers beobachtet (Hanline 1993). Die Peers in der vorliegenden Studie reagierten auf Interaktionsangebote von allen Kindern gleichermaßen positiv. Anders als in der Gesamtgruppe zeigten die Kinder mit genetischen Syndromen und ihre Peers ein vergleichbares Interaktionsverhalten. Dies deutet darauf hin, dass die Befunde in der Gesamtgruppe auf das Interaktionsverhalten einzelner Kinder zurückzuführen sind. Somit spiegelt sich in den Beobachtungen der Interaktion die Heterogenität der Kinder hinsichtlich ihres sonderpädagogischen Förderbedarfs und insbesondere ihrer Sprachkompetenzen. Dies findet sich in der Beobachtung, dass Kinder mit Behinderung seltener verbal Kontakt aufnahmen als ihre Peers. Das Gelingen sozialer Kontakte ist in hohem Maße von den individuellen Voraussetzungen des Kindes abhängig. Allerdings spielt in diesem dyadischen Prozess immer auch der Kontext eine wichtige Rolle (Sarimski 2012). Für die Fachpersonen besteht die Herausforderung darin, situative Gegebenheiten zu schaffen, welche Interaktionen möglich machen. Besonders Kinder mit eingeschränkten Fähigkeiten der Kommunikation sind auf diese Unterstützung angewiesen. Das Verhalten der Fachpersonen kann daher - neben den individuellen Voraussetzungen der Kinder - eine weitere Ursache für die selteneren Interaktionen einzelner Kinder der Fokusgruppe sein. Aufgrund der kleinen und heterogenen Stichprobe sowie der Beschränkung der Beobachtungen auf eine kleine Anzahl Kitas in der Stadt Zürich müssen die Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert werden und können nicht generalisiert werden. Insbesondere bei Kindern mit schwerer Behinderung und hohem Pflegebedarf dürfte die Soziale Teilhabe größeren Einschränkungen unterworfen sein (Koller et al. 2018, Sarimski 2015, Tanner Merlo et al. 2014). Obwohl sich einzig bei der Kontrollgruppe ein Zusammenhang der Erfahrung in der Kindertagesstätte mit der Häufigkeit der Interaktionen zeigte, kann der Einfluss weiterer Merkmale der Kinder wie deren Fremdsprachigkeit auf die Ergebnisse nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Eine Replikation der Befunde in einer größeren Stichprobe und mit einer parallelisierten Kontrollgruppe wäre wünschenswert. Zudem sollte in zukünftigen Studien der Einfluss von Merkmalen der Situation wie die Gruppenzusammensetzung oder das Verhalten der Erzieherinnen und Erzieher untersucht werden. Trotz diesen Limitationen sind die Befunde relevant und schließen an Erkenntnisse aus Ländern mit längeren Traditionen der Inklusion im Vorschulalter an. Vor diesem Hintergrund und im Wissen um die Wichtigkeit der Kindertagesstätten als erstem Sozialisationsort der Kinder lassen sich erste Schlussfolgerungen für Praxis und Forschung ziehen. n Die Beobachtungen zeigen, dass das gemeinsame Spiel von Kindern mit und ohne Behinderung eine äußerst wichtige Form der Beteiligung und Interaktion darstellt. 188 FI 4/ 2019 Matthias Lütolf, Simone Schaub Daher gilt es Spiel- und Lernsituationen so zu gestalten, dass diese eine integrative Wirkung ausüben. Damit dies gelingt, müssen bei der Planung und Umsetzung von Gruppenaktivitäten die individuellen Bedürfnisse der Kinder berücksichtigt werden. n In der vorgestellten Untersuchung wurde das pädagogische Handeln der Fachpersonen nicht beobachtet. Neben der Wichtigkeit beziehungsorientierten Verhaltens in der Begleitung und Förderung von Kindern mit und ohne Behinderung fällt den Betreuungspersonen in der Arbeit mit Kindern mit erheblichen Sprach- und Kommunikationseinschränkungen oder einer Mehrfachbehinderung die Aufgabe zu, Interaktionsangebote anzubahnen und zu modulieren. Für zukünftige Studien wäre es erstrebenswert, die Interaktionen zwischen Kind und Fachperson zu beobachten und das Interaktionsverhalten zu analysieren. n Die Fachpersonen der frühkindlichen Betreuung benötigen theoretische und handlungsorientierte Kompetenzen, um die individuellen Bedürfnisse der Kinder wahrnehmen, sie in ihren individuellen Entwicklungsprozessen begleiten und die Soziale Teilhabe unterstützen zu können. Dies wird dann möglich, wenn die Kindertagesstätten von verschiedenen Fachpersonen aus der Frühkindlichen Pädagogik, der Heilpädagogischen Früherziehung, der Logopädie und der Medizin unterstützt werden, um gemeinsam die Entwicklung integrativer Konzepte, Strukturen und Betreuungsinhalte zu ermöglichen. Matthias Lütolf Dr. Simone Schaub Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich Schaffhauserstr. 239 Postfach 5850 CH-8050 Zürich E-Mail: matthias.luetolf@hfh.ch simone.schaub@hfh.ch Literatur Beauchamp, M. H., Anderson, V. 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