Frühförderung interdisziplinär
1
0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2020
392
Aus der Praxis: Hab ich selbst gemacht!
41
2020
Martina Wolf
Als ich 1983 anfing, als Ergotherapeutin in einer Frühförderstelle zu arbeiten, gab es sie noch. Die selbstangefertigten Spielmaterialien, gestaltet aus alltäglichen und vielfach bereits nutzlos gewordenen Gegenständen. Eine alte Dose, die zu einer Formbox umfunktioniert wurde, ein durchsichtiger Schlauch aus dem Baumarkt, der seine neue Verwendung als Kugelbahn fand oder gebrauchte Plastikflaschen, welche mit Wasser, Glitzer und bunten Perlen gefüllt, halfen, Babys und Kleinkinder zur Fortbewegung zu motivieren. Solche Kuriositäten sind in den heutigen Frühförderstellen kaum noch zu finden. [...]
1_039_2020_002_0106
106 Frühförderung interdisziplinär, 39.-Jg., S.-106 - 108 (2020) DOI 10.2378/ fi2020.art10d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS Hab ich selbst gemacht! Spiel- und Lernmaterialien in der Frühförderung Martina Wolf Als ich 1983 anfing, als Ergotherapeutin in einer Frühförderstelle zu arbeiten, gab es sie noch. Die selbstangefertigten Spielmaterialien, gestaltet aus alltäglichen und vielfach bereits nutzlos gewordenen Gegenständen. Eine alte Dose, die zu einer Formbox umfunktioniert wurde, ein durchsichtiger Schlauch aus dem Baumarkt, der seine neue Verwendung als Kugelbahn fand oder gebrauchte Plastikflaschen, welche mit Wasser, Glitzer und bunten Perlen gefüllt, halfen, Babys und Kleinkinder zur Fortbewegung zu motivieren. Solche Kuriositäten sind in den heutigen Frühförderstellen kaum noch zu finden. Wir schreckten nicht einmal davor zurück, die goldglänzenden Pappunterlagen aus Räucherlachsverpackungen zu sammeln, weil sie uns für die Förderung von Kindern mit Beeinträchtigung des Sehens besonders geeignet erschienen. Mit weiteren glänzenden oder kontrastreichen Papieren wurden sie in Bilderbuchseiten oder Bildkarten verwandelt, um so die visuelle Aufmerksamkeit eines Kindes zu erreichen. Das mag aus heutiger Sicht seltsam erscheinen, zumal der leichte Fischgeruch die Haltbarkeit des Bilderbuches bei Weitem überdauerte. Der Kreativität waren keine Grenzen gesetzt. Je nach Einfallsreichtum und dem handwerklichen Geschick der einzelnen Kolleginnen oder Kollegen entstanden Spielmaterialien, die kindgerecht gestaltet - aber durchaus auch dazu geeignet waren, spezifische Förderziele, wie Farb- und Formerkennung oder Mengenerfassung zu bearbeiten. Besonders die Ergotherapeutinnen waren stets darum bemüht, ihre „Produkte“ auch den Fähigkeiten und Fertigkeiten einzelner Kinder anzupassen. Hatten wir doch in der Ausbildung gelernt, Hilfsmittel individuell anzufertigen, was uns zuweilen den Ruf der „Basteltanten“ und „Selbstgestrickten“ einbrachte. Im Grunde aber schielten wir unabhängig von der Berufsgruppe oft sehnsüchtig auf die „echten“ Therapie- und Fördermaterialien, die nicht nur teuer waren, sondern häufig auch nur über spezielle Versandhäuser bezogen werden konnten. Jedes Jahr aufs Neue blätterten wir mit Freude die einschlägigen Kataloge durch, in der Hoffnung, dass die Spendengelder oder das Geld aus dem Haushalt ausreichen würden für die Dinge, die eben nicht so selbstgemacht aussahen, sich einfach reinigen ließen und eine deutlich längere Haltbarkeit aufwiesen. Spiele aus der Spielwarenabteilung waren - zumindest erscheint mir das im Rückblick so - viel weniger als heute auf das Erreichen von Entwicklungszielen ausgerichtet. Das hat sich verändert. Bestimmte Hersteller haben nicht nur den Markt für Therapie- und Fördermaterialien entdeckt, sondern auch die Kaufhäuser und Fachgeschäfte erobert. Eine breite Palette von Förderzielen wird auf den oftmals gelben Schachteln ordentlich aufgelistet und selbst billigstes Plastikspielzeug wirbt mit spezieller Lernsoftware oder dem Erlernen von Fähigkeiten und Fertigkeiten durch das Drücken von blinkenden Tasten. Sofort ist erkennbar, welche Entwicklungsbereiche angesprochen und gefördert werden sollen. Von Farben, Formen, auditiver- oder visueller Merkfähigkeit bis zur taktilen Wahrnehmung und Kooperationsfähigkeit ist alles dabei. 107 FI 2/ 2020 Aus der Praxis Zudem gibt es mittlerweile eine unglaubliche Anzahl an Vorschulheften, die durchaus mit althergebrachten Förderprogrammen konkurrieren können, wenn es um das Erarbeiten schulrelevanter Fähigkeiten geht. Attraktiv aufbereitet sprechen sie besorgte Eltern wie Professionelle gleichermaßen an. Sie präsentieren sich als Hefte oder auch als Abreißblöcke zum spielerischen Heranführen an schulische Arbeitsaufgaben. Auf den Einzelseiten müssen oft nur wenige Striche gemacht werden, bevor sie dann meist im Papierkorb landen. Hersteller von Stiften haben auf ihren Internetseiten Tutorials zur Förderung der Grafomotorik und in den Kindergärten gibt es schlüssig aufgebaute Vorschuleinheiten. So sind auch die Regale, Taschen und Autos vieler Frühförderstellen voller geworden, um stets das richtige Angebot für die jeweilige Zielsetzung parat zu haben. Spiele in der Schachtel und kopierte Arbeitsmaterialien mit Übungen zur Feinmotorik, rechnerischem Denken oder der visuellen Wahrnehmung sind praktisch. Sie lassen sich gut transportieren und die richtige Auswahl verspricht den Erfolg für Therapie und Förderung. Dennoch kann und sollte man sich fragen, inwieweit vorgefertigte Spielmaterialien mit Lernerfahrungen im Spiel gleichzusetzen sind. Schachtelspiele mögen auf spielerische Art und Weise bestimmte Funktionen beüben. Wo aber bleiben Kreativität, Ziel- und Zweckfreiheit, die als wichtige Eigenschaften des Spiels und immanenter Lernprozesse immer wieder angeführt werden? Für das Kind macht es zwar keinen Unterschied, ob es die Materialien aus dem Verlag oder eine selbstgebastelte Version vorgelegt bekommt, wenn es schlussendlich nur um spielerisches Üben statt um echtes Spiel geht. Dennoch sind bei der eigenen Herstellung zusätzliche Varianten möglich, mit denen ein individueller Zugang zum Kind erreicht werden kann. So hat vielleicht die adaptierte Formbox aus der alten Kaffeedose verschiedene Deckel, mit unterschiedlich großen Ausschnitten, sodass das Kind zunächst nur in die Öffnung treffen und erst im weiteren Verlauf verschiedene Größen und Formen differenzieren muss. Die mehr oder weniger wertlose Dosen-Formbox einer Familie auszuleihen, die nicht immer sorgsam mit Spielzeugen umgeht, fällt leichter, als die teure Formbox aus dem Fachhandel dort zu lassen, damit das Kind während der Woche noch damit hantieren und spielen kann, bevor die nächste Stunde stattfindet. Zudem findet eine Auseinandersetzung darüber statt, welche Anforderungen in welchem Spiel stecken und wie das Spiel gestaltet sein muss, dass Kinder Lust darauf haben, es auszuprobieren. Im Fall des käuflich erworbenen Spielmaterials braucht man es nur auf dem Deckel der Schachtel nachzulesen. Gerade Berufsanfänger tun gut daran, sich darin zu üben, die Schätze im Spiel und in Alltagssituationen zu erkennen und sich zunutze zu machen. Es scheint ganz grundsätzlich so zu sein, dass wir es schon fast verlernt haben, Anforderungen und Lerninhalte aus Spielsituationen, die sich frei entfalten dürfen, „herauszulesen“. Ohne Beipackzettel sind wir oftmals nicht in der Lage oder aber auch wenig motiviert, differenziert zu analysieren, welche Anforderungen und möglichen Förderinhalte auch in freieren Spielsituationen stecken oder fast unbemerkt platziert werden können. Oder mit welchen Modifikationen man den jeweiligen Interessen und dem Entwicklungsstand des Kindes als auch dem Anliegen der Eltern sowie dem formulierten Auftrag gerecht wird. Auch Eltern gehen bei Förderbedarf ihrer Kinder immer mehr dazu über, die angestrebten Ziele durch entsprechendes Material zu verfolgen, statt ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie echte Spielsituationen sinnvoll angereichert werden können, ohne dass das Spiel des Kindes allzu sehr ge- oder gar zerstört wird. Es wechseln sich - etwas überspitzt formuliert - Mitarbeitende aus den Kitas, Eltern und Professionelle aus der Frühförderung damit ab, dem Kind Schachteln und Vorschulhefte vorzulegen, um es für die Anforderungen des Lebens vorzubereiten. Vorgeformtes spielerisches Lernen in definierten Settings scheint an vielen Stellen das Spiel an sich zu verdrängen. Ganz ne- 108 FI 2/ 2020 Aus der Praxis benbei stellt sich etwas ketzerisch die Frage, worin die besondere Kompetenz und das Alleinstellungsmerkmal der Frühförderung besteht, wenn sie mit Spielen und Materialien aufwartet, die viele Familien zu Hause längst im Regal stehen haben. Möglicherweise ist es die besondere Art, diese Spiele zu spielen, oder die Fähigkeit, die richtigen Spiele auszuwählen, sie zu variieren und die Kinder an der richtigen Stelle zu unterstützen. Sich im gegebenen Fall dennoch wieder mehr den Ursprüngen zuzuwenden stünde der Frühförderung gut zu Gesicht. Nicht nur um kommerziellen Interessen entgegenzuwirken oder um die Schachtelspiele wieder durch selbstgebastelte Modelle zu ersetzen. Aber vielleicht um Eltern zu ermächtigen, aus einfachen Dingen Spielmaterial zu erstellen und um ihnen aufzuzeigen, was daran spannend und zugleich lehrreich für ihr Kind sein könnte. Ein Kegelspiel aus mit Sand gefüllten Flaschen, ein Blase-Wettspiel am Tisch mit zwischen den Fingern geformten Papierkügelchen oder doch die bewährte Dose als Variante zur gekauften Formbox. Spiele mit den Kindern aus Alltags- und Recyclingmaterialien zu erstellen und sie ihnen anschließend zu überlassen, stellt einen Mehrwehrt für sie und ihre Familie dar, unabhängig davon, ob das Endprodukt einen Tag, einen Monat oder ein Jahr tatsächlich als Spiel funktioniert. Gemeinsam zu überlegen, wie ein Spiel gestaltet und aufgebaut sein soll, erfordert vielfältige Kompetenzen, die genutzt und gefördert werden können. Statt eine kopierte Vorlage für fein- und grafomotorische Aufgaben zu verwenden, kann das Blatt mit dem Kind entwickelt werden. Das ermöglicht eine differenzierte Anpassung an die momentanen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes. Für die Stiftführung ist es letzten Endes egal ob die Linien Teil eines Spiderman-Kostüms oder eines Feuerwehrautos sind. Vielleicht hat das Kind gerade eine Baustelle in der Nachbarschaft und interessiert sich für Baufahrzeuge. Dann lässt sich auch daraus ein Blatt entwickeln, auf dem bestimmte Grundformen und Stifthaltung geübt werden können. Dabei sind käuflich erworbene Vorlagen durchaus dazu dienlich, die Entwicklungsschritte nachzuvollziehen, welche für den Erwerb bestimmter Fähigkeiten notwendig sind. Das Wissen darum, dass Linien innerhalb eines geraden Zwischenraums leichter zu ziehen sind als zwischen bogenförmig oder diagonal angeordneten Linien, kann als Prinzip verstanden, auch in gemeinsam mit dem Kind angefertigten Zeichnungen angewendet werden. Einen Strich zwischen zwei Begrenzungslinien zu malen, ist nicht nur auf einer Kopiervorlage möglich. Das gemeinsam gemalte Kleid einer Prinzessin mit Muster zu verschönern oder ein Piratenschiff auf Wellen zu setzen, bietet dafür nahezu die gleichen Möglichkeiten und besticht durch weitere Ausgestaltungsmöglichkeiten, sodass das fertige Bild vielleicht am Kühlschrank und nicht im Müll sein Ende findet. Kleine Perlen in einem Knetkügelchen zu verstecken und anschließend in einem Wettstreit zwischen Kind und Frühförderfachkraft wieder herauszuholen, mag auf den ersten Blick zwar lustig, aber nicht im Geringsten dazu geeignet erscheinen, irgendwelche Therapie und Förderziele zu erreichen. Erst bei genauerem Hinschauen wird deutlich, welche feinmotorischen Anforderungen trotz der Banalität des Spiels darin stecken. Es war und ist nicht nur legitim, sondern oftmals außerordentlich nützlich, attraktive, pädagogisch gut durchdachte Spielmaterialien zu verwenden, um damit spielerisch Entwicklung zu fördern. Gelegentlich sollte man dabei den Fokus jedoch nicht nur auf spielerisches Lernen, sondern auch auf das Spiel als die Lernform des Kindes richten. Spielmaterial dabei selbst zu entwickeln und gemeinsam mit dem Kind kreativ umzusetzen, kann dabei ein interessantes und in jedem Fall gewinnbringendes Vorhaben sein. Martina Wolf Eschenweg 2 83093 Bad Endorf
