Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2020
392
Rezension: Otto Speck, Dilemma Inklusion. Wie Schule allen Kindern gerecht werden kann
41
2020
Gerhard Neuhäuser
Franz Peterander
Hans Weiß
Auch zehn Jahre nach der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zur Inklusion von Kindern mit Behinderungen durch die Bundesrepublik bestehen anhaltend kontrovers und vielfach ideologisch geführte Diskussionen unter Fachleuten, die sodann Eingang finden in die Medien, die Politik und Gesellschaft – und letztlich für die betroffenen Kinder und ihre Familien nicht immer zu bestmöglichen Bildungs- und Förderkonzepten führen. Auch daher passt das neueste Buch von Prof. Dr. Otto Speck, „Dilemma Inklusion – Wie Schule allen Kindern gerecht werden kann“ ausgezeichnet und sachlich klärend in die häufig emotional aufgeladenen Diskussionen. [...]
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110 FI 2/ 2020 Rezensionen Otto Speck Dilemma Inklusion Wie Schule allen Kindern gerecht werden kann Ernst Reinhardt Verlag, 1. Aufl. 2019, 146 S., € 19,90 Auch zehn Jahre nach der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zur Inklusion von Kindern mit Behinderungen durch die Bundesrepublik bestehen anhaltend kontrovers und vielfach ideologisch geführte Diskussionen unter Fachleuten, die sodann Eingang finden in die Medien, die Politik und Gesellschaft - und letztlich für die betroffenen Kinder und ihre Familien nicht immer zu bestmöglichen Bildungs- und Förderkonzepten führen. Auch daher passt das neueste Buch von Prof. Dr. Otto Speck, „Dilemma Inklusion - Wie Schule allen Kindern gerecht werden kann“ ausgezeichnet und sachlich klärend in die häufig emotional aufgeladenen Diskussionen. Er ist einer der angesehensten Forscher und Hochschullehrer im Bereich der Sonderpädagogik, der wie kein anderer auch über langjährige wissenschaftliche und praktische Erfahrungen in der Interdisziplinären Frühförderung und als langjähriger Lehrer für Kinder mit Behinderungen im Schulsystem verfügt. Otto Speck hat mit seiner Studie zur Integration von verhaltensauffälligen und leistungsschwachen Kindern in die Grundschule bereits 1970 bis 1975 Pionierarbeit geleistet. Ein klarer Blick auf Chancen und Grenzen der Förderung von Kindern mit Behinderungen im Schulsystem zeichnet ihn seit jeher aus. Natürlich bestreitet heute niemand das Recht aller Kinder auf eine optimale Schulbildung. Problematisch wird es, wenn von Befürwortern der „reinen Lehre“ der Inklusion die Verwirklichung der Idee der Inklusion in die Regelschule „Formen und Dynamik eines Glaubenssystems“ annimmt, was dazu führt, dass alle anderen Formen wie z. B. die Förderung in speziellen Schulen grundsätzlich abgelehnt werden. Es gibt bzw. sollte aber - wie bei anderen Themen auch - keinen Absolutheitsanspruch bei der Diskussion um die Inklusion geben. Wenn es also nach Ansicht von strikten Befürwortern ein „Menschenrecht auf Inklusion“ nur als gemeinsames Lernen in der Regelschule geben soll, verstößt dann die Existenz von Förderschulen gegen das Menschenrecht? Eine grundlegende Frage dieses Buches (S. 13). Überzeugend sind in diesem Zusammenhang Otto Specks differenzierte Analysen über den oft verwendeten, aber inhaltlich selten konkret analysierten englischen Text der UN-BRK (2005) und ihrer internationalen rechtlichen Vorläufer, speziell der im deutschen Sprachraum offenbar weniger beachteten UN-Erklärung „Guidelines for Inclusion“ (UNESCO 2005). Darin wird die Sicherung des Zugangs zur Schulbildung für Alle (Education for All) gefordert. Also auch für jene weltweit 140 Millionen Kinder, unter ihnen Millionen Kinder mit Beeinträchtigungen, die überhaupt keine Schule besuchen können (S. 110f). Damit wird als Menschenrecht auf Inklusion eindeutig der Zugang aller Kinder, auch solcher mit Behinderung, zum Bildungssystem gefordert, d. h. nicht ausschließlich der gemeinsame Unterricht an Regelschulen, wie heute häufig irrtümlich behauptet. „Es geht also beim Begriff ,Inklusion‘ um das ,Bildungsrecht‘ dieser Kinder, d. h. um deren Einschluss (inclusion) in das Bildungssystem eines Landes. Das Menschenrecht auf schulische Inklusion ist demnach als ,Recht auf Schulbildung für alle‘ zu sehen (S. 111), insbesondere auch für Kinder mit Behinderungen.“ In diesem zentralen Punkt sind nach Specks Textanalysen die Plenarprotokolle des Bundestages zur UN-BRK aus dem Jahr 2008 einseitig ausgelegt worden: „Das in der UN-BRK geforderte inklusive Schulsystem wurde so definiert, dass der Begriff ,inklusiv‘ nur auf den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung bezogen wurde, also auf eine Vollinklusion mit der Folgerung, dass die bestehenden Förderschulen als ,ausgrenzende‘ Einrichtungen künftig abzuschaffen seien. 111 FI 2/ 2020 Rezensionen In der UN-BRK finden sich jedoch für diese totalisierende Auslegung keine Belegstellen“ (S. 31). Es ist Otto Speck zu folgen, dass diese einseitige „Umdeutung“ der UN-BRK durch die Politik in der Bundesrepublik dazu geführt hat, dass mit der Schließung der Förderschulen der Aufbau eines vollinklusiven Schulsystems erst finanziell und personell ermöglicht werden sollte (S. 31). Das ist in einigen Bundesländern leider auch sehr schnell geschehen: Förderschulen wurden geschlossen, ihre Gebäude und Grundstücke verkauft und die Verkaufserlöse zumeist in die Staatskasse transferiert. Demgegenüber erachten in einer vom Autor zitierten jüngeren Studie 89 % der Befragten die Förderschulen als wichtigen Bestandteil eines ganzheitlichen Bildungssystems, nur 6 % wollen Förderschulen abschaffen (S. 132). Von vergleichbaren Einspar-Gedanken bei der Realisierung eines inklusiven Schulsystems wurde - nach Erscheinen des Buches - auch vom Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer in der Schweiz berichtet (Neue Zürcher Zeitung, NZZ, vom 30.12.2019, S. 22f): „Die Politik spielte mit dem Gedanken mit der Einführung des integrativen Modells Geld zu sparen. … Nun stellt sich heraus, dass das so nicht funktioniert. Man darf die Klassenlehrerin nicht allein lassen, indem man sagt, ihr habt ja noch die Heilpädagogen, die euch drei Stunden in der Woche unterstützen. So einfach ist es eben nicht.“ Otto Speck weist schon in seiner Einleitung darauf hin, dass bei der Umsetzung des Inklusionsprojektes die schulische Praxis den kritischen Punkt bildet. Es wird von den Befürwortern ein Maximum an Zielvorstellungen einer Vollinklusion „ohne Wenn und Aber“ (S. 14) gefordert. Zu Recht beklagt er, dass ein fruchtbarer fachlicher Dialog auf diese Weise erst gar nicht zustande kommt. Zielvorstellungen allein führen oft nicht zu den angestrebten Ergebnissen. Diese „Intentions-Verhaltens-Lücke“ wird übrigens seit vielen Jahren in der Psychologie erforscht (Gollwitzer 1999, Implementation Intensions, American Psychologist) und Umsetzungsmethoden formuliert. Auch aus dieser Sicht ist Otto Speck zuzustimmen, wenn er bemängelt, dass es an fachlichen Diskussionen und Methoden zur Umsetzung der Inklusion in manchen Bundesländern fehlt. Hierzu werden im Buch dann konkrete und realisierbare Vorschläge entwickelt. Im 2. Kapitel ist das Problem angesprochen, dass die spezifische pädagogische Förderung in der Regelschule ungesichert ist; dass sich der sonderpädagogische Förderbedarf in den letzten Jahren ausgeweitet hat; dass Lehrerinnen und Lehrer mit der Inklusion konzeptionell überfordert sind; dass die strukturelle Umsetzung der Behindertenkonvention unzulänglich ist. In einer 2015 durchgeführten Forsa-Umfrage mit 1000 Lehrer*innen sprechen sich 97 % von ihnen für eine Doppelbesetzung mit einem Lehrer und einem Sonderpädagogen im Unterricht aus, 65 % geben an, dass in ihrer Schule nur in einer Klasse inklusiv unterrichtet wird (S. 77) - offensichtlich alles weit vom Anspruch und der Wirklichkeit einer gelingenden Inklusion entfernt. Auf weitere Dilemmas des heutigen schulischen Inklusionsmodells wird im Kapitel 3 hingewiesen: Inklusion ist ein mehrdeutiger Begriff; die Vielfalt und Verschiedenheit der Lerngruppe sind normativ unklar; Bildungsstandards und Leistungsbewertung stellen ein Inklusionsproblem dar und die internationale Forschung zeigt Grenzen des gemeinsamen Unterrichts auf. Auch der Sozialpsychologe Heiner Keupp gibt kritisch zu bedenken, „…dass Inklusion zwar eine große Freiheit verspreche, dass dies aber letztlich auch beinhalte, dass die Kinder aus einem Schutzraum entlassen und im Getriebe der Moderne mit deren gnadenloser Konkurrenz um Selbstdurchsetzung, Status und Geld ankommen, wo vom Einzelnen ein Höchstmaß an Flexibilität, Mobilität und Eigenenergie verlangt wird“ (S. 105). Das Buch zeigt, dass Otto Speck, im Gegensatz zu manch einem der heutigen strikten Befürworter einer Vollinklusion, keine dogmatischen Ansichten vertritt bzw. je vertreten hat. Er kann sich durchaus ein inklusives Schulsystem vorstellen, das als ein Menschenrecht die Inklusion als Bildungsrecht für alle Kinder beachtet. In diesem Zusammenhang stellt er im letzten Kapitel ein wohl durchdachtes dual-inklusives Schulsystem vor. Die 112 FI 2/ 2020 Rezensionen Regelschule und die spezielle Schule sollen dabei in Beziehung zueinander stehen, nicht in Über- oder Unterordnung, sondern komplementär, denn auch die speziellen Schulen stehen „… unter pädagogischem Inklusionsgebot, d. h. der Erziehung zu sozialer Teilhabe“ (S. 119). Eine enge Kooperation und Verständigung beider Systeme ist also angesagt, auch im Sinne eines Wahlrechts der Eltern sowie in Hinblick auf mögliche Folgen fürs Kind, die sich aus einer zu großen Vielfalt in einer Klasse ergeben können. Denn „der Spannungsbogen aller Kinder, die sich in einer Klasse befinden, ist in den letzten Jahren in jeder Hinsicht viel grösser geworden. Das macht der Schule zu schaffen“ (NZZ vom 30. 12. 2019). Dabei soll nicht verkannt werden, dass in den letzten Jahren in der Kooperation von Fachdidaktiker*innen und Sonderpädagog*innen interessante Konzepte und Unterrichtsbeispiele über alle (Haupt-)Fächer hinweg bis in die Sekundarstufe hinein entwickelt wurden. Diese können der „größeren Varianz an individuellen Lern- und Leistungsfähigkeiten der Schüler“ (S. 97) gerecht werden, werfen jedoch auch - gerade im Blick auf Schüler*innen mit komplexen Behinderungen - neue Fragen und Grenzen der inklusiven Vermittlung von Unterrichtsinhalten auf. Das Fazit von Professor Otto Speck: „Ein inklusives Schulsystem ist als ein strukturell differenziertes oder duales Gesamtsystem zu verstehen, das primär auf gemeinsamen Unterricht an Regelschulen ausgerichtet ist, jedoch - in verkleinerter Zahl - auch spezielle Schulen oder Klassen umfasst, soweit sie aufgrund besonderer Förderbedürfnisse notwendig sind“ (S. 14 - siehe dazu auch Kapitel 4. 5). Im Buch wird ohne Zweifel ein guter Weg zur Inklusion aufgezeigt, der allen Kindern gerecht werden kann. Nach Ansicht von Otto Speck bedeutet dies, dass sich der reale Aufbau eines dual-inklusiven Schulsystems nur evolutiv bewerkstelligen lässt; Förderschulen mit ihrem Inklusionsbeitrag dürfen nicht benachteiligt oder zurückgesetzt werden; pädagogischer Erfolg ist von guter Zusammenarbeit zwischen Regelschule und speziellen Schulen abhängig; die Verringerung der Zahl spezieller Schulen wird wesentlich davon abhängen, wie hochwertig inklusive Regelschulen ausgebaut sind; zum inklusiven Ausbau der Regelschulen wird auch der Aufbau eines schulinternen Lern-Stütz-Systems für Schüler mit Lernstörungen gehören müssen und vor allem sind für den Ausbau der inklusiven Regelschulen zwingend zusätzliche finanzielle Investitionen erforderlich (S. 134f). Es ist sehr zu hoffen, dass Politiker, Lehrerinnen- und Lehrerverbände und alle sonstigen Verantwortlichen diesen Weg zur Inklusion als reale Option erkennen und zur Umsetzung beitragen. Professor Otto Speck hat mit seinem neuen Buch auf hohem wissenschaftlichen Niveau und aus einer differenzierten Kenntnis der Praxis des gesamten Schulsystems eine Analyse des Dilemmas mit der Inklusion vorgenommen und sehr empfehlenswerte und realitätsnahe Lösungen für eine Schule herausgearbeitet, die in der Tat allen Kindern gerecht werden kann. Es ist also stets auf unterschiedliche individuelle Bedürfnisse der Kinder und Eltern einzugehen, notwendige und sinnvolle Maßnahmen sind im interdisziplinären Dialog abzustimmen. So ist das Buch richtungsweisend für alle Professionen; es kann als beispielhaft gelten durch seine klare Sprache und die logisch begründeten Schlussfolgerungen. Die Bildung der Kinder hat für uns alle höchste Priorität und sie sollte daher in Zukunft in der Sache offener diskutiert und lösungsorientiert reflektiert werden. Dieses exzellente Buch ist ein wichtiges, überzeugendes und einladendes Plädoyer für ein verständigungsorientiertes Ringen um Inklusion - jenseits dogmatischer Absolutheitsansprüche. Prof. Dr. med. G. Neuhäuser Prof. Dr. phil. F. Peterander Prof. Dr. phil. H. Weiss Sozialpädiatrie Psychologie Sonderpädagogik DOI 10.2378/ fi2020.art12d
