Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Originalarbeit: FASD. Eine Übersicht
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2020
Helmut Hollmann
Alkohol ist die Gesellschaftsdroge mit der größten Verbreitung. Alkoholkonsum während der Schwangerschaft schädigt nachweislich intrauterin das ungeborene Kind. Die hierdurch entstehenden, unterschiedlich stark ausgeprägten Störungsbilder mit variabler Ausprägung der Beeinträchtigung von Wachstum und Entwicklung, Intelligenz und Verhalten werden als „Fetale Alkohol-Spektrumstörung FASD“ zusammengefasst. Hierzu zählen die Untergruppierungen Vollbild FAS, Partielles FAS und die Alkoholinduzierte Entwicklungsneurologische Störung ARND. Seit 2016 ist die AWMF-S3-Leitlinie zur Diagnostik die Grundlage für die korrekte klinische Zuordnung. Das diagnostische Vorgehen wird detailliert dargestellt. Geschichte des Alkoholkonsums, Wirkmechanismus und Pathophysiologie sowie Aspekte der Behandlung und Intervention bei FASD komplettieren die Übersicht. Besonderes Augenmerk wird auf die Prävention gelegt, handelt es sich doch bei jeder Ausprägung von FAS um eine vollständig vermeidbare schwerwiegende Entwicklungsstörung.
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Frühförderung interdisziplinär, 39.-Jg., S.-184 - 196 (2020) DOI 10.2378/ fi2020.art20d © Ernst Reinhardt Verlag 184 ORIGINALARBEIT FASD. Eine Übersicht Helmut Hollmann Zusammenfassung: Alkohol ist die Gesellschaftsdroge mit der größten Verbreitung. Alkoholkonsum während der Schwangerschaft schädigt nachweislich intrauterin das ungeborene Kind. Die hierdurch entstehenden, unterschiedlich stark ausgeprägten Störungsbilder mit variabler Ausprägung der Beeinträchtigung von Wachstum und Entwicklung, Intelligenz und Verhalten werden als „Fetale Alkohol-Spektrumstörung FASD“ zusammengefasst. Hierzu zählen die Untergruppierungen Vollbild FAS, Partielles FAS und die Alkoholinduzierte Entwicklungsneurologische Störung ARND. Seit 2016 ist die AWMF-S3-Leitlinie zur Diagnostik die Grundlage für die korrekte klinische Zuordnung. Das diagnostische Vorgehen wird detailliert dargestellt. Geschichte des Alkoholkonsums, Wirkmechanismus und Pathophysiologie sowie Aspekte der Behandlung und Intervention bei FASD komplettieren die Übersicht. Besonderes Augenmerk wird auf die Prävention gelegt, handelt es sich doch bei jeder Ausprägung von FAS um eine vollständig vermeidbare schwerwiegende Entwicklungsstörung. Schlüsselwörter: Alkoholbedingte Schädigung, FASD, pFAS, ARND, Prävention FASD. An Overview Summary: Alcohol is the most common drug in western societies. Abuse of alcohol during pregnancy causes organic damage for the unborn child with widespread and different consequences. These consist of alteration of growth and development, intelligence and behaviour. The symptoms of „Fetal Alcohol Spectrum Disorder FASD“ include the complete syndrom of FAS, the partial FAS and the „Alcohol-Related Neurodevelopmental Disorder ARND“. In Germany, since 2016 the AWMF-guideline level S3 clarifies the diagnostic procedure. Aside from detailed overview of the diagnostic pathway, historic aspects as well as pathophysiology and interventions for treatment are mentioned. Particular attention is paid to prevention, since every form of FAS is a completely avoidable serious developmental disorder. Keywords: Alcohol induced disorder, FASD, pFAS, ARND, prevention Einleitung A m 5. Januar 2020 sterben in Luttach/ Südtirol sieben junge Menschen im Alter von 20 Jahren, weil ein anderer junger Erwachsener nachts im alkoholisierten Zustand in die Gruppe der Skiurlauber fährt. Die nachfolgende Untersuchung ergibt eine Blutalkohol- Konzentration von mehr als 1,9 Promille. Der Fahrer muss seither umfassend betreut werden wegen drohendem Suizid. Alkohol ist in allen westlichen Gesellschaften eine tolerierte Droge. Seit Jahrtausenden nutzt die Menschheit die berauschende Wirkung, teils in Verbindung mit religiösen Ritualen, überwiegend als leicht herstellbare und dementsprechend billig zu erwerbende Substanz für den persönlichen Genuss. Dabei wurden die schädlichen Wirkungen von ausuferndem Alkoholgenuss schon frühzeitig beschrieben. Auf „Geschichte lernen“ wird dazu ausgeführt: 185 FI 4/ 2020 FASD. Eine Übersicht Tacitus (ca. 55 - ca. 125) schildert in der „Germania“ ausschweifende Gelage der alten germanischen Führungseliten. Auch andere römische Historiker, Schriftsteller und Politiker wie Seneca (4 v. Chr. - 65 n. Chr.) dokumentierten archaische Trinkgelage und setzen sich mit dem Alkoholgenuss ihrer Landsleute durchaus kritisch auseinander. Für Seneca war Trunkenheit nichts anderes als „freiwilliger Wahnsinn“. Er charakterisiert den betrunkenen Zustand als „Krankheit“, die auftritt, wenn die „übergroße Kraft des Weines“ von „der Seele Besitz ergriffen“ habe. Von übermäßigem Alkoholkonsum berichteten Römische Schriftsteller auch bei den „Barbaren“, wie beispielsweise den Kelten oder den Thrakern (www.geschichte-lernen.net). Wirkmechanismen des Alkohols Bis in die jüngste Zeit hinein hat sich die Vorstellung erhalten, dass der Konsum von Alkohol in geringen Mengen oder in bestimmter Form nicht nur unschädlich, sondern sogar gesundheitsfördernd sein könne. Die sogenannte „Mittelmeerdiät“ ging davon aus, dass ein Glas Rotwein pro Tag in Verbindung mit Olivenöl präventiv wirke gegenüber Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Neue Forschungsdaten widerlegen solche Thesen vollständig. Alkohol ist ein Zellgift, das unmittelbar in den Stoffwechsel eingreift und hierbei keine positiven Effekte erzeugt. Alkoholische Getränke enthalten Ethanol, der zu Acetaldehyd abgebaut wird. Beide schädigen die Schleimhäute im gesamten Magen- Darm-Trakt von der Mundhöhle bis zum Dickdarm, außerdem die Leberzellen. Es kommt zunächst zu lokalen Entzündungsreaktionen mit erhöhter Durchlässigkeit für Schadstoffe sowie veränderten Immunreaktionen. In der Folge scheinen Bestandteile von Darmbakterien (Endotoxine) und bestimmte Botenstoffe (Interleukine und Cytokine) an den verschiedenen Organen dann chronische Entzündungen hervorzurufen, die schließlich bleibende Organschäden bedingen. Dies betrifft v. a. die Leber (Hepatitis, Leberzirrhose), aber auch das Herz. Das Krebsrisiko steigt durch die pathologischen Veränderungen besonders im Gastrointestinaltrakt (Mundhöhle, Kehlkopf, Speiseröhre, Dickdarm), aber auch für die Bauchspeicheldrüse (Pankreas). Wie immer in der Pathogenese stehen die individuellen Reaktionsbildungen auch in Zusammenhang mit persönlichen genetischen Voraussetzungen. Im Gehirn führt regelmäßiger Alkoholgenuss zu komplexen Einwirkungen auf Verfügbarkeit und Stoffwechsel der Neurotransmitter. Es kommt zu einem agonistischen Zusammenwirken mit dem GABAergen-System mit beruhigenden, angstlösenden und sedierenden Effekten. Dies ist einer der Pathomechanismen auf dem Weg in die Abhängigkeitserkrankung mit Entzugssymptomen. Auch das dopaminbasierte Belohnungssystem spielt bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Alkoholabhängigkeit eine große Rolle (Heinz et al. 2012). Resultate von Zwillingsstudien sowie Untersuchungen im Langzeit-follow-up bei Pflege- und Adoptivkindern verweisen daneben auf eine genetische Disposition für alkoholsüchtiges Verhalten, die einen stärkeren Einflussfaktor darstellt als das „Lernen am Modell“ in einer ungünstigen, von intensivem und frühzeitigem Alkoholgenuss geprägten Umgebung. Exzessiver Alkoholgenuss führt zur irreversiblen Zerstörung von Nervenzellen mit multiplen Krankheitsfolgen wie Verlust von Gedächtnisleistung, Planungsvermögen und allgemeinen Steuerungsfunktionen sowie entsprechenden Verhaltensstörungen und Problemen in der Alltagsbewältigung. Zwar fängt Alkohol andererseits als Antioxidans auch freie Radikale ab, die ihrerseits zellschädigend sind, z. B. die Entstehung von Krebs fördernd. In der Bilanz ist dieser Effekt aber zu gering, um gesundheitlich positiv durchzuschlagen. 186 FI 4/ 2020 Helmut Hollmann Die Metaanalyse von Wood et al. (2018) verweist darauf, dass Alkohol konsumierende Menschen, die an einer Sucht leiden, eine im Durchschnitt um 20 Jahre verkürzte Lebenserwartung haben. Aufgrund der Schwierigkeit einer epidemiologisch korrekten Erfassung sind weitere konkretisierende Ableitungen nicht herbeizuführen, insbesondere was eine sichere Grenze für den sogenannten riskanten Alkoholgebrauch betrifft, also den gesteigerten Konsum jenseits von gelegentlichem Genuss. Es ist aber davon auszugehen, dass auch bei dieser gesteigerten, aber - noch - nicht süchtigen Aufnahme eine relevante Beeinträchtigung der Lebenserwartung aufgrund der allgemeinen zelltoxischen Wirkung von Alkohol eintritt. Ausgenommen ist lediglich der gelegentliche und mäßige Alkoholkonsum. Alkohol in der Entwicklungs- und Sozialpädiatrie Die Entwicklung von Kindern hat Wissenschaftler seit dem Zeitalter der Aufklärung zunehmend beschäftigt. Das Verständnis für grundlegende Prozesse ebenso wie Möglichkeiten zu deren positiver Beeinflussung im Rahmen von Entwicklungsförderung ist in den letzten 100 Jahren gigantisch angewachsen. Standen anfangs philosophische (Rousseau) und pädagogische (Gesell, Fröbel, Maria Montessori) Aspekte im Vordergrund, so wurden diese zunehmend um medizinische und in jüngster Zeit neurowissenschaftliche Gesichtspunkte ergänzt und erweitert. Zum letztgenannten Bereich wird auf die Übersichtsarbeit von Gerhard Niemann in der „Frühförderung interdisziplinär“ Heft 1/ 2019 verwiesen (Niemann 2019). Im Rahmen dieser Forschungen wurden erstmals auch Beobachtungen publiziert, die sich mit der Auswirkung von Alkoholkonsum während der Schwangerschaft auf das ungeborene Kind befassten. Die Erstbeschreibung durch Lemoine et al. in Nantes erfolgte 1968, wurde jedoch als französische Publikation kaum beachtet. 1973 wurde dann das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) von Jones und Smith aus den USA international bekannt gemacht. Zuvor waren bereits bei der sog. Gin-Epidemie (ca. 1700 - 1751) mit einer Verzehnfachung des Branntwein-Konsums in England solche Beobachtungen registriert worden, die auf einen möglichen Zusammenhang mit der Alkoholexposition im Mutterleib deuteten. Ein Komitee in Middlesex stellte fest, dass Kinder schwach und kränklich geboren wurden und häufig eingefallen und alt aussahen (aus: Löser 1995). In Deutschland waren es dann die Arbeitsgruppen um Majewski (1976) und Spohr (1985, 1993), die die Daten aus Frankreich und den USA mit eigenen Beobachtungen an relevanten Fallzahlen replizierten. Mit wachsendem Kenntnisgewinn wurden verschiedene Eckpunkte deutlich, die die Beurteilung der intrauterinen Alkoholschädigung erweiterten und vom ursprünglichen kategorialen Verständnis zur heute gültigen Auffassung als dimensionaler Spektrumstörung führten. Von grundlegender Wichtigkeit ist dabei in Analogie zur eingangs beschriebenen generellen Zelltoxizität die Aussage, dass es keine untere Grenze für unschädlichen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft gibt. Potenziell ist jegliche Alkoholexposition für den in Entwicklung begriffenen Organismus des Kindes schädlich, wobei keine gesicherten Erkenntnisse darüber vorliegen, ob und wie sich gelegentlicher oder versehentlicher Alkoholkonsum beispielsweise in einer noch unbekannten Frühschwangerschaft konkret auswirkt. Umgekehrt besteht auch keine klare Dosis-Wirkungs- Relation, sodass ab einer bestimmten Menge Alkohol vom sicheren Eintritt einer Schädigung ausgegangen werden müsste. Aus diesem Grund wurde bei doppelter Unwägbarkeit sowohl der schädlichen Alkoholmenge als auch der konkret hierdurch generierten negativen Effekte der Begriff der Fetalen Alkoholspektrumstörung eingeführt. 187 FI 4/ 2020 FASD. Eine Übersicht Die nachfolgenden Abschnitte geben eine Übersicht über die derzeit gültige Vorgehensweise zur Diagnostik, Möglichkeiten der Intervention und die zentrale Herausforderung der Prävention dieser biologisch vollständig vermeidbaren schwerwiegenden Hirnschädigung mit der Folge gravierender Entwicklungs- und Verhaltensstörungen. Diagnostik Alkohol erreicht den Fetus über die Plazenta ungehindert. Die Serum-Konzentration ist im Vergleich zur Mutter identisch. Demgegenüber sind aber die Abbauprozesse noch unreif. Die intrauterine Schädigung durch Alkohol während der Schwangerschaft betrifft insbesondere das Gehirn als größtes und vulnerables Organ sowie die allgemeine somatische Entwicklung. Hieraus kann eine Beeinträchtigung des Gewichtes und/ oder der Länge bei Geburt resultieren. Ebenso können andere Organe in ihrer Entwicklung intrauterin beeinträchtigt werden. Die Auswirkungen variieren von Kind zu Kind, sind aber bezogen auf die Gehirnschädigung irreversibel. Das klinische Bild der Schädigung insgesamt stellt einen variablen Mix von physikalischen Defekten, intellektuellen oder neuropsychologischen Beeinträchtigungen sowie besonderen Verhaltensproblemen dar, die zu einer nachdrücklichen Problematik für Funktionswahrnehmungen und Bewältigung von Anforderungen im Alltag führen (Streissguth et al. 1996; Streissguth et al. 2004). Physikalische Defekte können umfassen: n Typische faziale Auffälligkeiten mit verkürzter Lidspalte, ungewöhnlich dünner Oberlippe und verstrichenem Philtrum (Rinne zwischen Nase und Oberlippe) n Weitere unspezifische morphologische Auffälligkeiten des Gesichts wie Epikanthus, tiefe und breite Nasenwurzel, kurze und nach oben gerichtete Nase („Stupsnase“), langes Philtrum, Mikrognathie (zu kleiner Kiefer), Ohrmuscheldysplasien n Deformitäten von Gelenken, Extremitäten und Fingern n Vermindertes Wachstum und/ oder reduziertes Gewicht bereits zur oder erst nach der Geburt n Störungen des Seh- oder Hörvermögens n Reduzierte Größe des Gehirns mit daraus resultierendem unterdurchschnittlichem Kopfumfang (Mikrozephalie) n Herzfehler, Nierenprobleme Die Beeinträchtigungen des Gehirns und des zentralen Nervensystems können umfassen: n Intellektuelle Beeinträchtigung bis hin zur Intelligenzminderung n Verzögerte Entwicklung und/ oder Teilleistungsstörungen v. a. räumlich-konstruktiv in der visuellen Verarbeitung und/ oder Lernstörungen n Motorische Koordinationsstörung n Störungen im Gedächtnis n Störungen von Kurzzeit-Merkfähigkeit (Arbeitsgedächtnis) n Störungen der Exekutiven Funktionen n Leichte Erregbarkeit n Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität n Rasch wechselnde Stimmungen n Schwierigkeiten in der Einschätzung von Situationen und den Konsequenzen des eigenen Handelns n Schwierigkeiten in der Verarbeitung von Informationen, bei der Schlussfolgerung sowie im Problemlösungsverhalten Probleme im Verhalten und sozialen Kontext können umfassen: n Einschränkung in der Aufnahme, Gestaltung und Aufrechterhaltung von sozialer Interaktion (eingeschränkte oder fehlende „social skills“) 188 FI 4/ 2020 Helmut Hollmann n Probleme in der Adaptation an Situationen oder in der Gestaltung von Situationsübergängen n Eingeschränkte Impulskontrolle n Unsichere Vorstellungen von Zeit n Probleme dabei, eine Aufgabe kontinuierlich zu Ende zu führen n Schwierigkeiten in der Planung und stringenten Erarbeitung eines Ziels n Lern- und Verhaltensprobleme in Ausbildung, Schule und Beruf Die vorstehenden Listen geben eine Übersicht, sind aber nicht vollständig. Ein aktuelles review stellt insbesondere die neuroanatomischen und neuro-psychologischen Abweichungen in den verschiedenen Formen der zerebralen Bildgebung und neurofunktionellen Diagnostikmethoden dar (Wozniak et al. 2019). Dennoch betonen die Autoren, dass weiterhin kein Biomarker vorhanden ist, der eine Diagnosesicherung bedeuten würde. Die individuelle Ausgestaltung sowohl der Kombination von Symptomen als auch der Stärke ihrer Ausprägung variiert erheblich. Es ist häufig schwierig, eine sichere Zuordnung zu treffen und die differenzialdiagnostische Abgrenzung von anderen, ähnlichen Störungen vorzunehmen. Die Rate an nicht gestellten Diagnosen oder fehldiagnostizierten betroffenen Kindern und Jugendlichen wird dementsprechend als erheblich berichtet (Chasnoff et al. 2015). Auch bei sorgfältiger und mit entsprechender Expertise durchgeführter Untersuchung bleiben durchaus residuale Unwägbarkeiten im Einzelfall. Aus diesem Grund werden in den letzten Jahren weltweit Leitlinien etabliert, die eine belastbare Grundlage für das diagnostische Vorgehen darstellen. In Deutschland ist es die 2016 publizierte S3-Leitlinie „Fetale Alkoholspektrumstörung FASD-Diagnostik“ der AWMF (Landgraf et al. 2013, Landgraf und Heinen 2016). Hierin wird auf die herausragende Bedeutung der fazialen Auffälligkeiten abgehoben, die mittels Messung der Lidspaltenlänge und Foto- Vergleich der Nasen-Mund-Region mit Referenz-Fotos zugeordnet werden können. Daneben stehen die wachstumsbezogenen Abweichungen, schließlich als dritte Gruppe die ZNS-Auffälligkeiten mit Mikrozephalie, Globaler Entwicklungsstörung bzw. Intelligenzminderung und weiteren entwicklungs- und verhaltensbezogenen Hirnfunktionsstörungen. Aufgrund des zu erwartenden sehr hohen Anteils unzutreffender Antworten bei der Fragestellung stellt der bestätigte oder nicht bestätigte Genuss von Alkohol während der Schwangerschaft durch die Mutter und die daraus resultierende intrauterine Alkohol- Exposition für das werdende Kind eine Zusatz-Information dar, die in der diagnostischen Zuordnung innerhalb des FASD-Störungsspektrums verschieden gewertet wird. Liegt aufseiten des Kindes das klinische Vollbild des Fetalen Alkohol-Syndroms FAS vor, wird die Diagnose auch unabhängig von der Alkoholanamnese erteilt. Umgekehrt ist bei der weniger eindeutigen klinischen Symptomatik der partiellen Fetalen Alkoholschädigung pFAS die mindestens als wahrscheinlich anzusetzende Anamnese von Alkoholgenuss während der Schwangerschaft entscheidend für die Stellung dieser Diagnose, und bei der noch weniger spezifischen Diagnose der Alkoholbedingten Entwicklungsneurologischen Störung ARND ist die bestätigte, sichere intrauterine Alkoholexposition obligat. Diese Graduierung der anamnestischen Wertung im Wechsel mit der Ausprägung der klinischen Symptomatik des zu untersuchenden Kindes ist umso wesentlicher in der Beachtung, als weder die tatsächliche Menge des konsumierten Alkohols während der Schwangerschaft feststellbar ist noch gesicherte Daten über Grenzwerte oder zuverlässig zu erwartende Folgeschäden bei stattgehabtem Alkoholkonsum vorliegen. 189 FI 4/ 2020 FASD. Eine Übersicht Zur Veranschaulichung wird auf den Pocketguide der Spezial-Sprechstunde TESS im SPZ am Dr. von Haunerschen Kinderspital/ Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendmedizin München verwiesen, erstellt von den wiss. Koordinatorinnen der AWMF-Leitlinie (pocketguide FASD: Landgraf und Heinen 2017). Zur Umsetzung dieser workflow-Kurzinformation müssen die Perzentilenkurven für die Lidspaltenlänge aus der Leitlinie hinzugezogen werden. Der auf dem Algorithmus der S3-Leitlinie basierende Textbaustein für den Arztbrief, wie er in der Spezialsprechstunde FASD im Kinderneurologischen Zentrum KiNZ der LVR-Klinik Bonn verwendet wird, ist nachfolgend dargestellt. Bei der Interpretation müssen die wechselnden Verknüpfungen „und“ bzw. „oder“ in der Summation der Bewertung beachtet werden. FASD-Zieldiagnostik zur Zuordnung einer möglichen alkoholbedingten Entwicklungsstörung Wegen der nicht mathematisch exakt herzustellenden Korrelation zwischen der in einer Schwangerschaft konsumierten Alkoholmenge einerseits und den hieraus resultierenden möglichen und multiplen Folgen andererseits weist die AWMF-S3-Leitlinie zur Diagnostik ein differenziertes Spektrum von Störungen aus. Neben dem „Vollbild FAS“ sind dies das „Partielle FAS pFAS“ und die „Alkoholbedingte Entwicklungsneurologische Störung ARND“ (alcohol related neurodevelopmental disorder). Vier Säulen werden diagnostisch überprüft. Wachstumsauffälligkeiten, faziale Auffälligkeiten und ZNS-Auffälligkeiten sind in den Kriterien A, B und C zusammengefasst, ergänzt um die Anamnese der intrauterinen Alkoholexposition. Zur Diagnosestellung „Fetales Alkoholsyndrom FAS“ müssen die Kriterien A, B und C erfüllt sein. FAS-Zuordnung A) Wachstumsauffälligkeiten [„oder“-Kriterium]: 1.: Geburts- oder Körpergewicht ≤ 10. Perzentile: Kriterium [nicht] erfüllt 2.: Geburts- oder Körperlänge ≤ 10. Perzentile: Kriterium [nicht] erfüllt 3.: Body Mass Index ≤ 10. Perzentile: Kriterium [nicht] erfüllt Somit ist das Kriterium Wachstumsauffälligkeiten [nicht] erfüllt. B) für FAS typische faziale Auffälligkeiten [„und“-Kriterium! ]: 1.: kurze Lidspalten (≤3. Perzentile, entspricht≤2 SD): Lidspaltenmessung rechts: xx mm (< > SD), links xx mm (< > SD) Kriterium [nicht] erfüllt 2.: verstrichenes Philtrum (Rang 4 oder 5, Lip-Philtrum Guides nach S. Astley Hemingway, u. a. in Landgraf und Heinen 2017): Rang xxx. Kriterium [nicht] erfüllt 3.: schmale Oberlippe (Rang 4 oder 5 Lip-Philtrum Guides nach S. Astley Hemingway, u. a. in Landgraf und Heinen 2017): Rang xxx. Kriterium [nicht] erfüllt Somit ist das Kriterium faziale Auffälligkeiten [nicht] erfüllt. C) ZNS-Auffälligkeiten [„oder“-Kriterium]: 1.: Mikrozephalie (Kopfumfang < 3.Perzentile): Kriterium [nicht] erfüllt 2.: globale Intelligenzminderung ≤ 2 Standardabweichungen: Kriterium [nicht] erfüllt 3.: Leistung ≤ 2 Standardabweichungen: entweder in 3 Bereichen oder in mindestens 2 Bereichen und Epilepsie: n Sprache: Kriterium [nicht] erfüllt n Feinmotorik: Kriterium [nicht] erfüllt n Räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten: Kriterium [nicht] erfüllt n Exekutive Funktionen: Kriterium [nicht] erfüllt n Rechenfertigkeit: Kriterium [nicht] erfüllt n Lern- oder Merkfähigkeit: Kriterium [nicht] erfüllt 190 FI 4/ 2020 Helmut Hollmann n Aufmerksamkeit: Kriterium [nicht] erfüllt n Soziale Fertigkeiten oder Verhalten: Kriterium [nicht] erfüllt Epilepsie: anamnestisch und klinisch [kein] Hinweis Kriterium [nicht] erfüllt Somit ist das Kriterium ZNS-Auffälligkeiten [nicht] erfüllt. Alkoholanamnese in der Schwangerschaft: Unwahrscheinlich / Nicht sicher / Fremdanamnestisch beschrieben / gesichert Ein nicht gesicherter Alkoholkonsum während der Schwangerschaft schließt ein Fetales Alkoholsyndrom nicht aus. Umgekehrt führt nicht jede Alkoholexposition zu einem Fetalen Alkoholsyndrom. pFAS-Zuordnung Es werden drei der vier Säulen der Diagnostik herangezogen: A) Faziale Auffälligkeiten: Zwei der drei Kriterien müssen erfüllt sein. C) Auffälligkeiten des ZNS: Mindestens drei der Auffälligkeiten aller genannten Kriterien müssen erfüllt sein. Alkohol-Anamnese: Der mütterliche Alkoholkonsum muss wahrscheinlich oder bestätigt sein. Bei der Diagnose-Ausweisung eines pFAS entfällt die Säule B) mit den Wachstumsauffälligkeiten. ARND-Zuordnung Es werden zwei der vier Säulen der Diagnostik herangezogen: C) Auffälligkeiten des ZNS: Mindestens drei der Auffälligkeiten aller genannten Kriterien müssen erfüllt sein. Alkohol-Anamnese: Der mütterliche Alkoholkonsum muss bestätigt sein. Bei der Diagnose-Ausweisung einer ARND entfallen die Säulen A) Wachstumsauffälligkeiten und B) Faziale Auffälligkeiten. Die Diagnostik soll in einer Institution erfolgen, die mit den besonderen Schwierigkeiten der Durchführung und Interpretation vertraut ist. In aller Regel verlangt dies den interdisziplinären Ansatz eines multiprofessionellen Teams. Erforderlich ist dabei die umfassende klinische, neurologische und entwicklungsbezogene Untersuchung zur Erfassung der funktionellen ZNS-Abweichungen mit mehrdimensionaler standardisierter psychometrischer Erhebung des Begabungsprofils sowie der neuropsychologischen Funktionen. Die Diagnostik muss entsprechend den Vorgaben der S3-Leitlinie in den drei Kernbereichen valide sein. Hinzu kommt die systematische Erfassung von persönlichen und Umfeld bezogenen Kontextfaktoren mit möglicher Relevanz für eine zur Vorstellung führende Entwicklungs- oder Verhaltensstörung. Die strukturelle ZNS-Abweichung mit vermindertem Wachstum des Gehirns und hieraus resultierendem verkleinertem Kopfumfang ist in der Präzisierung strittig. Teils wird als Grenzwert die 10. Perzentile wie in der kanadischen Leitlinie festgelegt, teils die 3. Perzentile wie in der amerikanischen Leitlinie. Die Expertengruppe der deutschen S3-Leitlinie hat dazu keinen Kompromiss gefunden. Wir verwenden im KiNZ Bonn die 3. Perzentile in Analogie zur sonst üblichen Definition beispielsweise bei der Einleitung der molekulargenetischen Differenzialdiagnostik von angeborenen Mikrozephalie-Syndromen, da ohnehin die Erfassung der funktionellen ZNS-Abweichungen mit entwicklungs- und verhaltensbezogenen sowie neuropsychologischen Störungsbefunden von 191 FI 4/ 2020 FASD. Eine Übersicht der klinischen Relevanz her für die Stellung jeder Diagnose im Spektrum fetaler alkoholbedingter Schädigungen im Vordergrund steht. Die differenzialdiagnostisch zu beachtende Palette umfasst sämtliche Störungsbilder der somatischen und psychischen Entwicklung einschließlich anlagebezogener Ursachen, die einen ähnlichen Phänotyp im klinischen Erscheinungsbild bedingen können. Sämtliche Abweichungen, die bei FASD auftreten, können ebenso andere Ursachen haben, sowohl im körperlichen Bereich als auch bezogen auf Entwicklung und Verhalten. Einzige Ausnahme hiervon stellt die typische Kombination der fazialen morphologischen Auffälligkeiten dar, wobei auch hier differenzialdiagnostisch eine entsprechende familiäre genetische Disposition oder andere genetische Störungsursachen in Betracht gezogen werden müssen. Isolierte Organschädigungen wie Herz- oder Nierenfehlbildungen werden wegen der multiplen möglichen anderen Genese in der deutschen Leitlinie nicht als Alkohol-assoziierte Störungen geführt. Es existiert hier somit nicht die Ausweisung der Diagnose „Alkoholbedingte angeborene Malformationen ARBD“ (alcohol related birth defects) wegen unzureichender Spezifität und fehlender Evidenz (Landgraf und Heinen 2016). Möglichkeiten der Intervention Kinder, die von einer FASD betroffen sind, sind in aller Regel multipel und komplex in Verhalten und Entwicklung sowie Wachstum (bei FAS) auffällig. Dementsprechend bedarf es einer Kombination von Interventionen, die medizinische, psychologisch-psychotherapeutische, pädagogische und allgemeinerzieherische Maßnahmen umfassen können. Indikation, Umfang und Gesamtkonzept müssen sich dabei jeweils nach der individuell vorliegenden Symptomatologie und den Ressourcen der Familie sowie sonstiger Bezugspersonen in Kindergarten und Schule richten. Es gibt keine spezifische „FASD-Therapie“. Die hirnorganisch funktionellen Schädigungen sind unumkehrbar, sodass wie bei anderen Krankheitsentitäten auf biologischer Grundlage auch die Summe aller Interventionen nur symptomatisch ausgerichtet sein kann. Dabei muss das besondere Augenmerk auf die Einschränkungen in der sozialen Interaktion und emotionalen Regulation, oftmals verbunden mit ausgeprägter Impulsivität und Sprunghaftigkeit, gerichtet sein. Dies ist eine klassische Domäne der Frühförderung, insbesondere auch in der Nutzung ihrer Möglichkeit zur mobil-aufsuchenden Hilfestellung in Familie und Kindergarten. Je früher hier strukturierende Maßnahmen bezogen auf das Kind in Koppelung mit Anleitung zu Spiel und Interaktion auf der Erwachsenenebene erfolgen, umso besser ist die Aussicht dafür, eine Chronifizierung der Problematik in Verhalten und Ausgestaltung von sozialen Bezügen vermeiden und damit die Symptomatik erfolgreich lindern zu können. Wie bei anderen Störungsbildern mit extrovertierten und expansiven Verhaltensmustern auch, bspw. ADHS, Störungen des Sozialverhaltens oder bestimmte Ausprägungen von Autismus-Spektrum-Störungen, ist es essenziell, für das Kind insgesamt gut fördernde Rahmenbedingungen mit einem abgestimmten, optimal übereinstimmenden Vorgehen der Bezugspersonen zu gestalten. Die Konzepte von „Empowerment“ -ressourcenorientierte Kompetenzstärkung - (Lenz 2011) und „Enriched Environment“ - fördernde Umgebung - (Ball et al. 2019) stellen hierbei in ihren Eckpunkten die Richtschnur des Handelns dar. Überstimulationen müssen wie stets vermieden werden. Manualisierte Trainings- und Interventionsprogram- 192 FI 4/ 2020 Helmut Hollmann me sind inzwischen mit verschiedenen Ansatzpunkten entwickelt und in ihrer Wirksamkeit gut evaluiert (s. AWMF-Leitlinie ADHS 2017, detaillierte Auflistung im Anhang). Eine kontinuierliche und langfristige professionelle Psychoedukation ist in aller Regel unverzichtbar. Neben den auf die Erwachsenen zentrierten Planungen müssen parallel kindzentrierte Interventionen eingeleitet werden. Diese sind je nach individuellem Ausprägungsbild der Symptomatik und spezifischer Diagnosestellung ergänzend und erweiternd einzusetzen. Hierzu zählen zunächst heilpädagogische Frühförderung mit gleichzeitiger Elternanleitung und -beratung, am besten mobil-aufsuchend im realen Lebensfeld eines Kleinkindes, sowie dann je nach Erfordernis zielgerichtete medizinisch-funktionelle Maßnahmen wie Physio- und Ergotherapie oder Logopädie. Eine Kinder-Psychotherapie, insbesondere mit verhaltenstherapeutischem Ansatz, kann zu einem späteren Zeitpunkt bei hinreichend gegebener Reflektionsfähigkeit des Kindes etwa ab Schulalter in Betracht kommen. Neben den Einzelmaßnahmen sind therapeutische Gruppen sehr wertvoll mit Ansätzen eines Sozialen Kompetenztrainings. Je nach Konstellation und Ausprägung kann eine adjuvante medikamentöse Behandlung in Betracht kommen. Verwendete Substanzen sind insbesondere Stimulanzien (Methylphenidat und Abkömmlinge Amfetamin und Lisdexamfetamin) und Antipsychotika. Indikation und Einsatz richten sich nach den für das jeweilige Symptombild gültigen Leitlinien. Da die symptomatische ADHS besonders häufig als führende Komorbidität auftritt und bereits frühzeitig stark ausgeprägt sein kann, sollte die probatorische Medikation frühzeitig erwogen werden als Unterstützung zu den umfassend erforderlichen psychosozialen, insbesondere psychoedukativen Maßnahmen. Eine originäre Medikation für das Spektrum der Alkohol-induzierten Störungen gibt es bisher nicht. Die Substitution von Vitaminen und anderen Spurenelementen ist ebenso wenig wie (Auslass-)Diäten mit einer wissenschaftlichen Evidenz gesichert. Grundzüge der Intervention und Behandlungsansätze sind im Buch von Landgraf und Hoff (2019) zusammengefasst. Demnach hat die systematische Unterstützung von protektiven Faktoren einen basalen Stellenwert. Am wichtigsten sind frühzeitige Diagnosestellung, ein stabiles und förderndes Umfeld sowie die Abwesenheit von körperlicher oder sexueller Gewalt. Auf dieser Grundlage, die generell für Kinder im Vorschulalter mit Entwicklungs- oder Verhaltensstörungen Gültigkeit hat, können alle vorstehend benannten spezifischen Maßnahmen dann sinnvoll aufsetzen und eine positive unterstützende Wirkung entfalten. Eine zentrale Position kommt neben den eltern- und kindzentrierten Maßnahmen dem System der Jugendhilfe zu. Hier sind Hilfen zur Erziehung möglich, die von der unmittelbaren Unterstützung durch eine Sozialpädagogische Familienhelferin spFH über Tagegruppen bis hin zur institutionellen Fremdbetreuung in einer heilpädagogisch-therapeutischen Einrichtung reichen. Diese Optionen betreffen mit hoher Relevanz eine Stammfamilie mit einem alkoholkranken oder anderweitig abhängigkeitskranken Elternteil. Sie sind genauso aber auch für eine Pflege- oder Adoptivfamilie elementar wichtig bei einer im Einzelfall nicht vermeidbaren Fremdplatzierung des Kindes. Die systemische Betreuung und fachliche Unterstützung der Nenn-Eltern ist ein wesentlicher Baustein für das Gelingen dieser Betreuungsform des betroffenen Kindes. Falls eine frühe institutionelle Fremdbetreuung in Jugendhilfe-Einrichtungen notwendig wird, muss auch hier sowohl die fachliche Begleitung der dort Betreuenden als auch die therapeutische kindbezogene Intervention im notwendigen Umfang sichergestellt sein. 193 FI 4/ 2020 FASD. Eine Übersicht Im weiteren Lebensverlauf kommen dann Aspekte der Beschulung sowie später der beruflichen Qualifikation hinzu, die im Verbund mit Betreuungspersonen und der Agentur für Arbeit mit deren spezifischen Maßnahmen wiederum mit den Betroffenen abgestimmt und umgesetzt werden müssen. In üblicher Weise sind wie bei jeder gravierenden und persistierenden Störung von Entwicklung oder Verhalten die Ansprüche im Sozialrecht mit Schwerbehinderten-Ausweis und Zuerkennung eines Pflegegrades in der Pflegeversicherung zu prüfen und zu realisieren. In den letzten Jahren ist es zunehmend üblich geworden, massiv auf „Klärung“ des Vorliegens einer FASD zu drängen. Dies wird in aller Regel damit begründet, dass dann „spezifische Therapiemaßnahmen“ möglich seien. Wie vorstehend ausgeführt sind solche nicht existent; zutreffend ist die Forderung, bestehende Entwicklungsstörungen gleich welcher Ursache frühzeitig zu identifizieren, um Maßnahmen der Unterstützung für das betroffene Kind einleiten zu können, insbesondere aber die Bezugspersonen vor allem in Familie und Kindergarten während des frühen Alters bereits umfassend einzubeziehen und so Voraussetzungen für das notwendige fördernde Umgebungsmilieu zu schaffen, damit sekundäre Problemverstärkung und Chronifizierung von Verhaltensproblemen möglichst vermieden, zumindest aber reduziert werden. Die Forderung der ursächlichen Klärung bei FASD zielt vielmehr darauf ab, dass bei Bestätigung der Diagnose ein organisch bedingtes Störungsbild vorliegt, welches als Ursache sowohl der Entwicklungsstörungen als auch der Verhaltensabweichungen und damit des seelischen Befindens anerkannt wird. Dann ist nach geltendem Recht des deutschen Sozialsystems mit säulenartig getrennten Finanzierungssträngen für die Eingliederungshilfe in aller Regel die Sozialhilfe zuständig, nicht mehr die Jugendhilfe. Die ätiologische Klärung dient somit zur Abtrennung in der Kostenträgerschaft. Die dahinterliegende Problematik im versäulten System der Finanzierung von sozialen Leistungen ist prinzipiell zu überwinden durch die Beschreibung von Art und Umfang der notwendigen Maßnahmen zur Sicherung der Teilhabe. Alle notwendigen Behandlungs-Maßnahmen in den Systemen Gesundheit, Jugendhilfe und Soziales sind bei Fetalen Alkoholspektrumstörungen identisch wie auch bei anderen Krankheits- und Störungsbildern zugänglich. Die Verquickung von Auswirkungen insbesondere einer Störung der Exekutiven Funktionen mit der zweifelsohne organisch zuzuordnenden toxischen Hirnschädigung erschwert aber die Zuordnung generell. Es sind deshalb in aller Regel individuelle Betrachtungen und begründete Einzelfallentscheidungen zu treffen. Einzelheiten der sozialrechtlichen Information und Beratung, wie in der Broschüre der Drogenbeauftragten der Bundesregierung ausführlich dargestellt (Schindler und Hoff-Emden 2017), müssen in der persönlichen Beratung von FASD-Zentren oder der spezialisierten Selbsthilfe geklärt werden. Prävention Fetale Schädigungen durch Alkoholexposition sind vollständig vermeidbar, wenn während der Schwangerschaft kein Alkohol genossen wird. Dies zu erreichen ist jedoch für Frauen im gebärfähigen Alter, die schwanger werden möchten, bei aller vermeintlicher Schlichtheit der Grundforderung nicht immer einfach umzusetzen. In einer Gesellschaft, wo bei Jubiläen der Begrüßungssekt, beim Sport das Bier und zum festlichen Abendessen das gepflegte Glas Wein dazugehören, fällt frau fast unvermeidbar auf, wenn sie sich diesem konventionellen Getränkeangebot verschließt und auf nichtalkoholi- 194 FI 4/ 2020 Helmut Hollmann sche Alternativen wechselt. „Bist Du schwanger! ? “ ist dann häufig die spöttische, auch neugierige, in jedem Fall indiskrete Reaktion nicht nur im Freundeskreis, sondern mitunter auch in einem Brauhaus. Nach Schätzungen mit den themenassoziierten erheblichen Unschärfen muss davon ausgegangen werden, dass in Deutschland etwa ein Drittel der werdenden Mütter in der Schwangerschaft Alkohol konsumieren (Landgraf und Heinen 2016). Dies ist mitnichten ein Thema von sozial benachteiligten Bevölkerungsteilen, sondern betrifft im Gegenteil ebenso die Mittelschicht. Auch der Staat ist nicht uninteressiert am florierenden Geschäft mit alkoholischen Getränken; die jährlichen Steuereinnahmen belaufen sich derzeit - 2018 - auf 3,19 Milliarden Euro (https: / / de.statista.com). Dies ist im langjährigen Mittel gering rückläufig (2004: 3,45 Mill. Euro), insgesamt aber im Niveau nahezu konstant. Demgegenüber wird der jährliche volkswirtschaftliche Schaden insgesamt, der in Verbindung mit alkoholinduzierten Erkrankungen, Arbeitsausfällen und Sekundärkosten in den sozialen Hilfesystemen entstehen, auf 40 Milliarden Euro geschätzt. Zum Vergleich: der Etat des Bundes-Gesundheitsministeriums 2020 beläuft sich auf 15,33 Mill. Euro. 2017 waren 1,77 Mio. Alkoholkranke registriert. Hierdurch waren bei mindestens einem erkrankten Elternteil 2,65 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren mitbetroffen. 2014 starben 14.095 volljährige Personen an einer direkt durch Alkoholmissbrauch verursachten Erkrankung (Rommel et al. 2016). Nach Angaben ebenfalls des Statistischen Bundesamtes waren 2016 im Straßenverkehr 225 Tote und somit 7 % der 3.214 Verkehrstoten in Deutschland unmittelbar auf Unfälle unter dem Einfluss von Alkohol zurückzuführen. 2018 ist ein Anstieg auf 7,5 % verzeichnet. Allen Erkenntnissen der Unfallforscher zum Trotz ist in Deutschland ein gewisser Alkoholkonsum juristisch durchaus mit dem Führen eines Fahrzeugs zu vereinbaren, obschon dies stets mit einer nachgewiesenen Beeinträchtigung der Vigilanz einhergeht. Die 0-Promille-Grenze findet keine politische Mehrheit. Die vielfältigen Konsequenzen, die aus gesteigertem und krankmachendem Alkoholkonsum resultieren, haben im Gegensatz zur Aufnahme von Nikotin im politischen Raum bisher keinen entsprechenden Niederschlag gefunden. Prävention muss deshalb ähnlich wie beim Rauchen darauf abzielen, dass Alkohol in unserer Gesellschaft zwar üblich ist, dennoch nur in Maßen genossen werden sollte. Verbote sind dabei nicht hilfreich, sondern es geht um die Sensibilisierung für das Thema mit dem Ziel, den Verzicht auf Alkohol generell, in jedem Fall beim Autofahren, aber eben auch bei geplanter oder eingetretener Schwangerschaft gesellschaftsfähig und akzeptiert werden zu lassen. Tanja Hoff führt dies im bereits bei der Therapie zitierten Buch differenziert und auf wissenschaftlichem Niveau aus (Landgraf und Hoff 2019). Es müssen sowohl Maßnahmen der individuellen und gruppenbezogenen Verhaltensprävention implementiert werden als auch solche Vorgehensweisen, die über die Verhältnisprävention greifen, z. B. moderate Erhöhungen der Steuer auf Alkoholika jeder Art unter Vermeidung eines Abdriftens in die Schwarzbrennerei. Nach den positiven Erfahrungen in der Reduktion des Rauchens generell, besonders aber bei Jugendlichen, ist es deshalb gerechtfertigt, in Bezug auf die Verbreitung von Alkohol ein analoges Vorgehen zu fordern. Hierzu zählt im Einzelnen: n Auf jeder Flasche oder Verpackung mit alkoholhaltigen Getränken findet sich unübersehbar der Warnhinweis wie auf einer Zigarettenpackung: „Alkohol schadet Deiner Gesundheit! “, kombiniert mit drastischer Bild-Information. 195 FI 4/ 2020 FASD. Eine Übersicht n Daneben ist das inzwischen durchaus zu einer gewissen Popularität gekommene Piktogramm der Schwangeren zu sehen (siehe Abbildung 1): n Im Straßenverkehrgiltdie 0-Promille-Grenze, und alle Fahrzeuge sind mit der längst vorhandenen Technik des obligatorischen Atemtests mit automatischer Wegfahrsperre ausgerüstet. Nur wenn es nicht mehr „cool“, sondern „von gestern“ ist, mit der Bierflasche in der Hand durch die Straßen zu ziehen, sich bei Volksfesten oder im Karneval die volle Dröhnung zu geben und aus Sorge oder Angst vor Ausgrenzung in der sozialen Gruppe Alkohol eben mitzutrinken, auch wenn frau schwanger ist oder es werden möchte, wird die Anzahl der vermeidbar durch Alkohol während der Schwangerschaft geschädigten Kinder signifikant zurückgehen. Warum sollte dies nicht möglich sein, wenn es doch beim Nikotin genauso erreicht werden konnte? Die Jugendlichen geben hier durchaus ein Vorbild ab, wie allen Unkenrufen zum Trotz in anderen Bereichen der Gesellschaft auch. „Der regelmäßige Alkoholkonsum junger Menschen in Deutschland geht seit den 1970er Jahren insgesamt kontinuierlich zurück. Langfristig betrachtet zeigt sich die rückläufige Entwicklung besonders deutlich bei den 18bis 28-Jährigen“ (Info-Blatt der BZgA, 8. Mai 2019). Dr. med. Helmut Hollmann Kinderneurologisches Zentrum KiNZ LVR-Klinik Bonn Standort G.-Heinemann-Haus Waldenburger Ring 46 53119 Bonn E-Mail: Helmut.Hollmann@LVR.de Literatur Ball, N. J., Mercado, E., Orduña, I. (2019): Enriched Environments as a Potential Treatment for Developmental Disorders: A Critical Assessment. Front Psychol. 10, 466, https: / / doi.org/ 10.3389/ fpsyg.2019.00466 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (2019): Ausgewählte Ergebnisse der Studie „Der Alkoholkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland 2018“. In: https: / / www.bzga.de/ fileadmin/ user_upload/ PDF/ pressemitteilungen/ daten _und_fakten/ Info-Blatt_08._Mai_2019.pdf, 20. 7. 2020 Chasnoff, I. J., Wells, A. M., King, L. (2015): Misdiagnosis and Missed Diagnoses in Foster and Adopted Children With Prenatal Alcohol Exposure. Pediatrics 135 (2), 264 - 270, https: / / doi.org/ 10.1542/ peds.2014- 2171 Heinz, A., Batra, A., Scherbaum, N., Gouzoulis- Mayfrank, E. 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Dank der verständnisvollen Erwachsenen, die ihn in der Schule und zuhause umgeben, wird Mo ein selbstbewusster, fröhlicher Junge - ein Vorbild für andere Kinder mit FASD. Reinhold Feldmann/ Anke Noppenberger Ein FAS(D) perfektes Schulkind 2020. 56 Seiten. Innenteil farbig (978-3-497-02989-1) gebunden a www.reinhardt-verlag.de
