eJournals Frühförderung interdisziplinär 39/4

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Aktuell: Ist es ok, wenn mein Kleinkind YouTube-Videos schaut?

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2020
Fabio Sticca
Valérie Brauchli
Patricia Lannen
In den letzten Jahrzehnten wurde die entscheidende Bedeutung der ersten Lebensjahre für eine gesunde menschliche Entwicklung in verschiedenen Bereichen, von biologischen Reifungsprozessen (Shonkoff et al. 2000) bis hin zu psychosozialen Entwicklungsprozessen (Barnett 1995) empirisch untermauert. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, Chancen und Risiken gesellschaftlicher Veränderungen für die frühkindliche Entwicklung zu erkennen, um diesen bestmöglich begegnen zu können. Ein sehr aktuelles Beispiel eines Wandels, der neue Chancen und Risiken mit sich bringen dürfte, ist die Digitalisierung. Die rasante Ausbreitung der digitalen Medien ist bereits so weit fortgeschritten, dass diese alle unsere Lebensbereiche durchdringen. Auch für Kleinkinder wird das Angebot an digitalen Beschäftigungen immer reichhaltiger und attraktiver.
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225 Frühförderung interdisziplinär, 39.-Jg., S.-225 - 227 (2020) DOI 10.2378/ fi2020.art22d © Ernst Reinhardt Verlag AK TUELL In den letzten Jahrzehnten wurde die entscheidende Bedeutung der ersten Lebensjahre für eine gesunde menschliche Entwicklung in verschiedenen Bereichen, von biologischen Reifungsprozessen (Shonkoff et al. 2000) bis hin zu psychosozialen Entwicklungsprozessen (Barnett 1995) empirisch untermauert. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, Chancen und Risiken gesellschaftlicher Veränderungen für die frühkindliche Entwicklung zu erkennen, um diesen bestmöglich begegnen zu können. Ein sehr aktuelles Beispiel eines Wandels, der neue Chancen und Risiken mit sich bringen dürfte, ist die Digitalisierung. Die rasante Ausbreitung der digitalen Medien ist bereits so weit fortgeschritten, dass diese alle unsere Lebensbereiche durchdringen. Auch für Kleinkinder wird das Angebot an digitalen Beschäftigungen immer reichhaltiger und attraktiver. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte 2019 erstmals offizielle Empfehlungen zur optimalen Alltagsgestaltung kleiner Kinder im Alter von bis zu fünf Jahren (World Health Organization 2019). Im Fokus standen dabei (1) körperliche Aktivitäten, (2) sitzende oder bewegungsarme Aktivitäten und (3) Schlaf. Die Bedeutung jeder dieser drei Aspekte ist für die frühkindliche Entwicklung zentral: Körperliche Aktivität steht in einem günstigen Zusammenhang mit Gesundheitsindikatoren wie Körpergewicht, Gesunderhaltung von Knochen und Skelett, Herz-Kreislauf- Gesundheit sowie Entwicklung kognitiver und motorischer Fähigkeiten (Timmons et al. 2012). Weiter wird zunehmend anerkannt, dass eine zu lange sitzende Tätigkeit gesundheitsschädliche Auswirkungen haben kann (LeBlanc et al. 2012) und der Schlaf ist erwiesenermaßen für die kognitive, physische und psychosoziale Entwicklung von wesentlicher Bedeutung (Chaput et al. 2016). Gewohnheiten etablieren sich bereits in der Kindheit und prägen ein Individuum oft bis in die Jugend oder sogar bis ins Erwachsenenalter (Janz et al. 2005). In diesem Sinne scheint es besonders sinnvoll zu sein, eine gesunde Alltagsgestaltung bereits in der frühen Kindheit zu fördern. Dahingehend empfiehlt die WHO folgende Leitlinien: 1. Bezüglich körperlicher Aktivitäten gilt die Devise „je mehr, desto besser“. Babys sollen zur Förderung ihrer motorischen Fähigkeiten mindestens 30 Minuten ihrer wachen Zeit verteilt durch den Tag auf dem Bauch liegen und Kleinkinder unter einem Jahr dabei insbesondere durch interaktives Spiel auf dem Boden körperlich aktiv sein. Für Ein- und Zweijährige wird täglich im Minimum drei Stunden Bewegung empfohlen. Darunter fallen Beschäftigungen von normalem Gehen bis hin zu atemraubenden Rennen. Kinder ab dem dritten Lebensjahr sollen von den täglich drei Stunden mindestens eine Stunde gemäßigt bis energisch körperlich aktiv sein. Die Beschäftigungen der Kinder sollen überdies stets so vielfältig und abwechslungsreich wie möglich gestaltet werden. 2. Das zu lange Verweilen im Sitzen kann schädliche Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung haben. Kinder unter fünf Jahren sollen demnach nicht länger als eine Stunde am Ist es ok, wenn mein Kleinkind YouTube-Videos schaut? Eine Gegenüberstellung verschiedener Empfehlungen zur Nutzung digitaler Medien in der frühen Kindheit Fabio Sticca, Valérie Brauchli, Patricia Lannen 226 FI 4/ 2020 Aktuell Stück in einer sitzenden Position gehalten werden (z. B. Kinderwagen, Hochstühle oder in einem Tragetuch am Rücken der Bezugsperson). Wenn Kinder Zeit im Sitzen verbringen, sollten sie mit Büchern statt mit Bildschirmen beschäftigt werden. Von sitzender Bildschirmzeit für Kinder unter 2 Jahren wird vollständig abgeraten. Zweibis Vierjährige sollten nicht länger als 60 Minuten pro Tag sitzend vor einem Bildschirm verbringen. Hier lautet die Maxime „je weniger, desto besser“. 3. Hinsichtlich des Schlafs empfiehlt die WHO für Neugeborene bis drei Monate 14 bis 17 Schlafstunden. Für Babys und Kleinkinder bis zum ersten Lebensjahr sind es täglich 12 bis 16 Stunden Schlaf. 11 bis 14 Schlafstunden wird für Ein- und Zweijährige empfohlen und 10 bis 13 Stunden für Kinder ab dem dritten Lebensjahr. Die genannten Schlafstunden beinhalten auch Nickerchen durch den Tag. Diese Leitlinien beschreiben den Alltag von Kleinkindern aus einer ganzheitlichen Perspektive. Der Aspekt, welcher in den Medien am intensivsten diskutiert wurde, war allerdings spezifisch derjenige der Dauer der Bildschirmzeit. Besonders hervorzuheben ist hierbei, dass der Fokus der Leitlinien nicht darauf liegt, dass die Bildschirme selber ungünstige Auswirkungen haben können, sondern dass Bildschirmmedien zumeist im Sitzen konsumiert werden. Diskutiert wird also lediglich die sitzende Bildschirmzeit in Bezug auf die Nutzungsdauer, nicht aber der dabei konsumierte Inhalt oder der Kontext der Bildschirmzeit. Zudem ist hervorzuheben, dass die Autoren betonen, dass die wissenschaftliche Grundlage dieser Richtlinien eher dürftig ist (World Health Organization 2019), sodass die erarbeiteten Empfehlungen mit Vorsicht interpretiert werden müssen. Doch welche Rolle spielen denn nun digitale Bildschirmmedien im Leben von jungen Kindern? Wie sich diese auf das Lernen und die Entwicklung von Kleinkindern auswirken, wird in einem Bericht von Screen Sense (Barr et al. 2018), der Organisation ZERO TO THREE, differenziert aufgegriffen. Die Autoren des Berichts betonen die Wichtigkeit von frühen Erfahrungen auf das Lernen und die Entwicklung von Kindern. Wenn es um Bildschirmerfahrungen geht, bestärken auch wissenschaftliche Befunde die Empfehlung, das Kind als Individuum sowie den Inhalt und den Kontext von Medienerfahrungen zu berücksichtigen, um eine gesunde Entwicklung zu fördern. Welche Medienerfahrungen für ein Kind am besten geeignet sind, kann gemäß den Autoren mittels The 3 C’s „Child, Content und Context“ (Kind, Inhalt und Kontext) eruiert werden. n Kind (Child). Eine gesunde Entwicklung kann gefördert werden, indem Erwachsene die Nutzung von Bildschirmmedien mit den Interessen und Fähigkeiten des Kindes verknüpfen. Es wird empfohlen, die Bildschirmmedienzeit zu begrenzen, um viel Zeit für interaktives Spiel in der realen Welt zu schaffen, denn kleine Kinder entfalten sich durch Interaktionen, die während der Erforschung ihrer Umgebung mit Eltern, Betreuungspersonen und Gleichaltrigen stattfinden. n Inhalt (Content). Erwachsene werden dazu angehalten, sich mit dem Inhalt der Bildschirmmedien zu befassen. Die Auswahl der Medieninhalte sollte sorgfältig erfolgen, sodass die Inhalte pädagogisch wertvoll sind, dem Alter des Kindes entsprechen und einen Bezug zur realen Welt haben. Im Idealfall bieten diese Medienerfahrungen auch Möglichkeiten für die aktive Beteiligung und soziale Interaktion. n Kontext (Context). Erwachsene sollten sich auf die digitalen Erfahrungen mit ihrem Kind einlassen, indem sie Fragen stellen, Erzählungen anbieten und Verbindungen zwischen digitalen Inhalten und dem realen Leben des Kindes herstellen. Darüber hinaus soll auch auf die Nutzung mobiler Geräte während des Tages geachtet werden, damit Unterbrechungen sozialer Interaktionen durch digitale Medien („Technoference“) möglichst vermieden werden können. Bildschirmmedien, die während täglichen Routinen im Hintergrund weiter aktiv sind, sollen zudem ausgeschaltet werden. 227 FI 4/ 2020 Aktuell Die täglichen Routinen wie Essenszeit, Badezeit, Schlafenszeit, Wickeln etc. sollen hingegen als Gelegenheiten genutzt werden, um sich mit dem Kind durch Gespräche und spielerischer Interaktion zu verbinden. Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass es bei der Frage, wie digitale Medien im Alltag von Kleinkindern eingesetzt werden sollen, um mehr als nur um die sitzende Bildschirmzeit gehen muss. Welche Chancen und Risiken der Kontakt mit digitalen Medien für die Kleinsten mit sich bringt, ist wissenschaftlich gesehen jedoch noch nicht ausreichend untersucht, zumal die technische Entwicklung sehr schnell voranschreitet. Insbesondere bezüglich der Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung in verschiedenen Bereichen während den ersten drei Lebensjahren bestehen Wissenslücken. Um die Kinder in ihrem Alltag und in der sich wandelnden Gesellschaft optimal zu begleiten, sind folglich belastbare Forschungsergebnisse in diesem Themenbereich dringend notwendig. Dr. phil. Fabio Sticca Valérie Brauchli Dr. phil. Patricia Lannen Marie Maierhofer Institut für das Kind Pfingstweidstraße 16 CH-8005 Zürich E-Mail: sticca@mmi.ch Literatur Barnett, W. S. (1995): Long-term effects of early childhood programs on cognitive and school outcomes. JSTOR The Future of Children 5 (3), 25 - 50, https: / / doi.org/ 10.2307/ 1602366 Barr, R., McClure, E., Parlakian, R. (2018): Screen sense: What the research says about the impact of media on children aged 0 - 3 years old. ZERO TO THREE. https: / / www.zerotothree.org/ resources/ 2536-screensense-what-the-research-says-about-the-impact-ofmedia-on-children-aged-0-3-years-old, 14. 7. 2020 Chaput, J.-P., Gray, C. E., Poitras, V. J., Carson, V., Gruber, R., Olds, T., Weiss, S. K., Connor Gorber, S., Kho, M. E., Sampson, M., Belanger, K., Eryuzlu, S., Callender, L., Tremblay, M. S. (2016): Systematic review of the relationships between sleep duration and health indicators in school-aged children and youth. Applied Physiology, Nutrition, and Metabolism = Physiologie Appliquee, Nutrition Et Metabolisme 41 (6 Suppl 3), 266 - 282, https: / / doi.org/ 10.1139/ apnm-2015-0627 Janz, K. F., Burns, T. L., Levy, S. M. (2005): Tracking of activity and sedentary behaviors in childhood: The Iowa Bone Development Study. American Journal of Preventive Medicine 29 (3), 171 - 178, https: / / doi. org/ 10.1016/ j.amepre.2005.06.001 LeBlanc, A. G., Spence, J. C., Carson, V., Connor Gorber, S., Dillman, C., Janssen, I., Kho, M. E., Stearns, J. A., Timmons, B.W., Tremblay, M. S. (2012): Systematic review of sedentary behaviour and health indicators in the early years (aged 0 - 4 years). Applied Physiology, Nutrition, and Metabolism = Physiologie Appliquee, Nutrition Et Metabolisme 37 (4), 753 - 772, https: / / doi.org/ 10.1139/ h2012-063 Shonkoff, J. P., Phillips, D. A., National Research Council (U.S.) (Hrsg.). (2000): From neurons to neighborhoods: The science of early child development. Washington (DC), National Academy Press Timmons, B. W., Leblanc, A. G., Carson, V., Connor Gorber, S., Dillman, C., Janssen, I., Kho, M. E., Spence, J. C., Stearns, J. A., Tremblay, M. S. (2012): Systematic review of physical activity and health in the early years (aged 0 - 4 years). Applied Physiology, Nutrition, and Metabolism = Physiologie Appliquee, Nutrition Et Metabolisme 37 (4), 773 - 792, https: / / doi. org/ 10.1139/ h2012-070 World Health Organization (2019): Guidelines on physical activity, sedentary behaviour and sleep for children under 5 years of age. World Health Organization, https: / / apps.who.int/ iris/ handle/ 10665/ 311664