Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2020.art09d
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Aus der Praxis: Spielen als konkrete Methode
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Christoph Schiefele
Mathias Menz
Niels Schwindt
Stephan Gingelmaier
Spielen als originäre Tätigkeit des kindlichen Alltags kann in der interdisziplinären Frühförderung eine wichtige Rolle bei der zielgerichteten Gestaltung von Interaktionen übernehmen. Mithilfe von zwei unterschiedlichen Beispielkindern* sollen Möglichkeiten und Impulse zur praktischen Umsetzung von Frühförderaspekten im Rahmen von Spielkontexten exemplifiziert werden.
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97 Frühförderung interdisziplinär, 39.-Jg., S.-97 - 105 (2020) DOI 10.2378/ fi2020.art09d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS 1. Sequenzen eines Frühförderangebots mit spieltherapeutischer Ausrichtung 1.1 Zum Beispielkind Thomas Der gerade sechs Jahre alt gewordene Thomas wurde im Rahmen einer Frühförderinstitution vorgestellt. Er befand sich im letzten Kindergartenjahr. Die gemeinsame Arbeit begann kurz nach den Weihnachtsferien, zum September stand die Einschulung in die erste Klasse an. Thomas wurde als Junge beschrieben, der oft traurig sei und das Gefühl habe, „nichts wert“ zu sein. Seit anderthalb Jahren, also etwa zu dem Zeitpunkt, als sein Bruder begann, Laufen zu lernen, verlor er mehr und mehr sein Selbstbewusstsein und verhielt sich seinen Eltern gegenüber zunehmend verweigernd. Besonders in der Beziehung zu seinem kleineren Bruder sei Thomas sehr verletzlich gewesen und fühlte sich benachteiligt. Sehr auffallend war seine Schwierigkeit, mit anderen spielerisch in Kontakt zu treten. So endeten kindliche Raufereien und sportliche Aktivitäten mit dem Vater meist in heftigen Auseinandersetzungen. Thomas könne dann Ernst und Spiel immer wieder nur schwer unterscheiden, hätte sich dann „nicht mehr unter Kontrolle und schieße gewaltig übers Ziel hinaus“, so sein Vater. Auch Spielinteraktionen mit Gleichaltrigen versuchte der Junge zu dominieren. Konnte er sich nicht durchsetzen, so wurde er handgreiflich. 1.2 Aufbau einer Beziehungsebene und gemeinsamer Handlungen In den ersten gemeinsamen Sitzungen machte Thomas einen zwar aufgeschlossenen, aber zugleich unsicheren Eindruck. Er begann sogleich hektisch, die verschiedenen Kisten mit Playmobilfiguren aus dem Regal zu zerren und zu begutachten, ohne richtig ins Spiel zu finden. Es entstand das Gefühl beim Frühförderer, Thomas habe Angst, etwas falsch zu machen, sich für das Falsche zu entscheiden. Das Spiel schien für den Jungen - so das Erleben der Frühförderkraft - keine zwanglose Angelegenheit zu sein, sondern vielmehr eine zu bestehende Prüfung. Der Frühförderer bemerkte bei sich selbst eine Unruhe und um Thomas zu entlasten, äußerte er: „Vielen Kindern, die das erste Mal hier sind, fällt es bei den verschiedenen Spielsachen schwer, sich zu entscheiden, und sie werden dann auch oft Spielen als konkrete Methode Zwei Praxisbeispiele aus den Bereichen Kommunikation, Sprache und sozial-emotionale Frühförderung Christoph Schiefele, Mathias Menz, Niels Schwindt, Stephan Gingelmaier Spielen als originäre Tätigkeit des kindlichen Alltags kann in der interdisziplinären Frühförderung eine wichtige Rolle bei der zielgerichteten Gestaltung von Interaktionen übernehmen. Mithilfe von zwei unterschiedlichen Beispielkindern* sollen Möglichkeiten und Impulse zur praktischen Umsetzung von Frühförderaspekten im Rahmen von Spielkontexten exemplifiziert werden. * Die Namen der Beispielkinder wurden aus Datenschutzgründen geändert 98 FI 2/ 2020 Aus der Praxis ganz unruhig - vielleicht weil sie mich ja am Anfang auch noch gar nicht richtig kennen und Angst haben, etwas falsch zu machen“. Thomas dachte kurz nach, nahm sich dann die Figuren der „Safarithemenwelt“ und meinte „Spiel mit! “ Auffallend genau versuchte er nun, die Abbildung auf der Verpackung nachzubauen. Darauf angesprochen meinte er: „Es soll ganz richtig sein.“ Die Frühförderkraft war daraufhin einigermaßen erleichtert, dass die Figuren noch vollständig waren und meinte: „Da habe ich ja bisher zum Glück noch nichts Wichtiges verschlampt“. 1.3 Bezug zur kindlichen Lebenswelt Nach einer Weile erzählte Thomas, dass bei seinem Vater auch immer alles „so richtig gebaut werden müsse“ und die Eltern als Strafe für Unordnung, oder wenn er „böse“ war, seine Spielsachen auf den Speicher brächten. Aufgrund von Beobachtungen der Eltern-Kind- Interaktion und Thomas‘ Äußerungen entstand die Hypothese, dass seine Eltern ihm durch ihr vermeintlich rigides Verhalten die Möglichkeit erschwerten, sich im Spiel auszuprobieren, und in einem Als-ob-Modus (Fonagy et al. 2015) wichtige Entwicklungsaufgaben wie den Umgang mit Aggression und Rivalität zu erlernen. Um ihm die Möglichkeit zu geben, etwas freier zu spielen, wurde ihm erklärt, dass es bei den gemeinsamen Treffen kein richtig oder falsch gäbe und er wurde ermuntert, „einfach drauflos zu spielen“, ohne groß zu überlegen, was genau dabei herauskommen würde. Nun entstand nach und nach ein freudvolles und lebendiges Spiel, und Thomas bestimmte, dass der Frühförderer das Krokodil spielen sollte. So musste dieser nun versuchen, die anderen Tiere zu fressen, wurde aber vom Wildjäger (Thomas) mit dem Gewehr daran gehindert. Diese Konstellation wurde dann mit allen Tieren durchgespielt, der Frühförderer wurde immer wieder im Safarianhänger eingesperrt und es wurde zunehmend darüber gelacht, wie ungeschickt sich das „blöde Krokodil“ immer wieder von Neuem verhielt. Thomas „glänzte“ dann in seiner Rolle als Wildhüter - das Krokodil jammerte und bettelte aus seinem Käfig heraus um Gnade, wurde wieder freigelassen und versuchte erneut erfolglos das gleiche Spiel bei einem anderen Tier. Obwohl die Frühförderkraft die aus dem Spiel heraus zunächst undankbar erscheinende Rolle des Krokodils einnahm, bereitete auch ihm das gemeinsame Spiel Spaß. Dies lag sicher auch an der Bedeutung, die dem „blöden Krokodil“ von Thomas verliehen wurde, und der lustvollen Spieldynamik, die sich zwischen den beiden Spielpartnern entwickelte. Darüber ergab sich immer mehr das Gefühl, gemeinsam mit Thomas interaktionsspezifisch eine sichere Basis für die weitere Zusammenarbeit und zukünftige Spielkontexte zu schaffen. Um über das Spielen weiter aufzulockern und damit noch mehr Spiel- und Entwicklungsraum zu schaffen, meinte der Frühförderer: „Es macht ja manchmal unheimlichen Spaß, wenn einer der Blöde ist, und immer verkackeiert wird.“ Thomas war kurz irritiert, meinte dann aber spitzbübisch: „Ja schon, wenn DIE nicht mich ärgern“! Wer denn „DIE“ seien, wollte die Frühförderkraft wissen: „Die Mädchen aus dem Kindergarten.“ „Und warum ärgern die dich? “ „Weil sie nicht wollen, dass ich der Chef bin! “ 1.4 Zielorientierte Fortführung des Spielangebotes In der nächsten Stunde knüpfte Thomas an die vorangegangene an und entschied sich nun, auch die Playmobilschule in den Aufbau der Safaristation miteinzubeziehen, die Szene also kreativ zu erweitern. Er erschien in seinem Spielverhalten schon wesentlich freier und gestaltete den Aufbau des Spiels nach seinen Vorstellungen, während der Frühförderer in seiner Rolle als Krokodil weiterspielte. Nun wurden auch die Play- 99 FI 2/ 2020 Aus der Praxis mobil-Schulkinder ins Spiel miteinbezogen und weil diese „gemein“ waren, wurden sie mit dem Bus nach Afrika gebracht. Die Schulmädchen mussten dort in den Käfiganhänger und wurden vom Krokodil gebissen. Thomas wurde gefragt, ob die Mädchen nicht große Angst haben müssten und sie nicht wieder freigelassen werden sollten, doch Thomas meinte, das geschehe ihnen recht, er werde von ihnen ja auch immer geärgert. Als der Frühförderer die Jungs aus der Klasse zum Schwimmen in den Tümpel setzte, meinte Thomas, sie sollten da nicht hinein, da die Tiere in diesen „Stinker und Pippi machen“. Auf Nachfrage, wen man denn hineinsetzen könnte, meinte Thomas freudestrahlend „meinen kleinen Bruder“ und warf eine Babyfigur in den See. Für die Frühförderkraft war einerseits eine progressive Entwicklung im Spiel darin erkennbar, dass Thomas so offen seine Aggressionen thematisieren konnte, sie wurde aber andererseits auch besorgt, weil die offene Thematisierung potenziell auch heftige Schuldgefühle auslösen kann. Deshalb versicherte der Frühförderer Thomas gegenüber nochmals, dass alles im Spiel „unter uns“ bliebe und nichts davon an seine Mama ginge. Thomas schnippte grinsend die Figur aus dem Tümpel, als wolle er sagen „ist schon gut, ich habe verstanden“. Auf die Frage, wie es denn so sei mit seinem kleinen Bruder, meinte er: „Der macht immer meine Spielsachen kaputt und Mama hat ihn lieber als mich.“ Auf die Frage, warum er das denn denke, antwortete Thomas: „Weil nur ich geschimpft werde und Benni nie“. 1.5 Mentalisierungsaspekte im Spielkontext In den folgenden Stunden wurde nach Thomas‘ Wunsch an der Tischtennisplatte gespielt. Zuerst nach Regeln, doch er hatte aufgrund seiner Größe Schwierigkeiten und so wurde er zunehmend hektischer und frustrierter. Er schien geradezu zu vergessen, dass es „nur“ ein miteinander Spielen war, fing an, sich selbst zu entwerten und dem Therapeuten vorzuwerfen, ihn zu betrügen. Er schien wieder in einen Modus der psychischen Äquivalenz zu kommen und die Möglichkeit zu verlieren, ganz ohne Druck und ungezwungen zu spielen: Im Prozess des Erwerbs der Mentalisierungsfähigkeit hin zu einem reflexiven Modus (s. Beitrag Gingelmaier et al. in diesem Heft) bedeutet der Äquivalenzmodus, dass innen und außen von Handelnden noch nicht als getrennt unterschieden werden können. Innere Affekte (wie zum Beispiel Thomas’ Ärger), Gedanken und Wünsche werden als real erfahren und müssen physisch ausagiert werden (Hektik, Frustration, vielleicht auch, den Tischtennisschläger auf die Platte zu „donnern“). Dies ändert sich in der interpersonellen Entwicklung des Als-ob-Modus, wenn wie z. B. im Als-ob-Spiel eine Trennung zwischen innen und außen ausgemacht werden kann. Erst dies ermöglicht es Kindern, in andere Rollen zu schlüpfen (Fonagy et al. 2015, s. auch Beitrag Gingelmaier et al. in diesem Heft). Zunehmend können z. B. aversive Affekte (z. B. Ärger, Wut, Aggression) dann auch psychisch „verdaut“ und reguliert werden. Unter (Bindungs-)Stress fallen Menschen leicht in prämentalisierende Modi zurück. Bei Thomas könnte dies z. B. der Fall sein, wenn er aus dem vorsichtig gezeigten Als-ob- Modus, also einem spielerischen, intermediären Zugang (s. auch Beitrag Gingelmaier et al. in diesem Heft), etwa durch den Konkurrenzdruck beim Tischtennisspiel, den er oft mit seinem Vater empfindet, so starke innere Spannungen z. B. von Ärger, „Kleinheitsgefühlen“ und Selbstwertzweifeln empfindet, dass dann aus Spiel wieder Ernst wird. Dies kann auch als ein phasenweises Agieren im Modus der Äquivalenz verstanden werden. Diese Feststellungen berücksichtigend wurde der Spielmodus angepasst, sodass Thomas nun den Ball nur in hohem Bogen auf die Gegenseite spielen musste, und es wurde gezählt, wie oft hin- und hergespielt wurde. Thomas wurde dadurch immer sicherer und meinte dann, hier wäre es 100 FI 2/ 2020 Aus der Praxis auch nicht so schlimm, einen Fehler zu machen wie im Fußball oder mit seinem Vater, vielmehr sogar richtig lustig. So konnten beide darüber lachen, als Thomas den Ball in hohem Bogen, unerreichbar über den Kopf des Frühförderers hinweg spielte. Die Frühförderkraft fragte Thomas spielerischhumorvoll, wie man sich fühle, wenn man so ein guter Spieler sei, und er grinste und meinte „wie ein Superspieler“. Ob er denn denke, sein Papa würde auch mal gerne so mit ihm spielen, beantwortete Thomas scherzend: „Wenn der merkt, dass ich so gut spielen kann, dann freut er sich.“ 1.6 Ausweitung des Spielthemas auf die bevorstehende Einschulung Nach einer weiteren Stunde an der Platte und einigen Ballwechseln meinte Thomas: „Jetzt spielen wir Schule, ich bin die Lehrerin und du der Schüler.“ Thomas stellte nun an der Tafel Aufgaben, die er aus Vorschule und Kindergarten kannte. Obwohl der Frühförderer sich große Mühe gab, machte er immer alles falsch. Kein Ergebnis war richtig und Thomas meinte ganz autoritär: „Das ist falsch, du bekommst eine Strafe.“ Und so erfuhr der Frühförderer, „wie es ist, ständig das Falsche zu machen, egal wie sehr man sich auch bemüht“. „Was denkst du, wie fühle ich mich jetzt? “, wurde Thomas vom Frühförderer gefragt. Er dachte kurz nach und meinte dann: „Nicht gut - weil du alles falsch machst! “. „Geht es dir auch manchmal so? “, wollte der Frühförderer von Thomas wissen: „Ja, wenn Mama mit mir schimpft.“ So wurde das Spiel noch in einige Sitzungen wiederholt und es zeigte sich, dass Thomas in der Rolle der Lehrerin zunehmend weicher und weniger streng agierte. Ab und zu machte der Frühförderer sogar mal etwas richtig und wurde dann auch ein wenig von Thomas gelobt. Schließlich durfte auch die Frühförderkraft die Rolle des Lehrers übernehmen und Thomas konnte mit seinen Fähigkeiten glänzen. Daran anknüpfend wollte der Frühförderer wissen, wie Thomas sich als zukünftiges Schulkind fühle und Thomas meinte ganz ernst: „Das klappt schon - ich bin doch schlau.“ Nach seiner Einschulung konnte Thomas die Leistungsanforderungen der ersten Klasse ohne Probleme erfüllen und integrierte sich gut in die Klassengemeinschaft. Er konnte auch zwei Freunde finden, die er nachmittags regelmäßig traf, wodurch die Fokussierung auf die Geschwisterrivalität abnahm und Thomas seine Energie auf die anstehenden Entwicklungsaufgaben richten konnte. Auch die Auseinandersetzungen mit seinen Eltern wurden zunehmend seltener und verloren an Schärfe. Nach dem Halbjahr der ersten Klasse konnte die Frühförderung erfolgreich beendet werden. 1.7 Abschließendes zum Beispielkind Thomas Es lässt sich zusammenfassend sagen, dass diese Zusammenarbeit zwischen Thomas und dem Frühförderer über das Spiel zunehmend in einen intermediären Spielraum (Winnicott 1971) verlegt wurde bzw. dieser sich darüber aufbauen und verfeinern konnte. Es wurden damit auch wichtige Schritte der Symbolisierung gegangen: Heftige Gefühle wurden so zunächst spielerisch-fiktiv und zunehmend mit Realitätsbezug greif- und damit regulierbarer. Das Als-ob-Spiel in seiner zugleich freien und verbindlichen Form konnte dabei den Rahmen für wichtige Auseinandersetzungen und Veränderungen bieten, dadurch wurden schwierige Themen bespielt oder scherzhaft verhandelt und führten nicht mehr reflexartig zu Ärger, Druck oder Abbrüchen. Derart gestärkt konnte sich Thomas der Herausforderung Schule nicht nur kognitiv, sondern auch sozial-emotional stellen. 101 FI 2/ 2020 Aus der Praxis 2. Exemplarisches, sprachlichsoziales Handeln im Rollenspiel Für einen Blick in die Praxis mit dem Schwerpunkt des sprachlich-sozialen Handelns im Rahmen von Rollenspielen eines Frühförderangebotes wurde eine teilnehmende Beobachtung durchgeführt, bei der der fünfjährige Lian an einem Vormittag über eineinhalb Stunden beim Spiel beobachtet wurde. 2.1 Zum Beispielkind Lian Lian ist 5; 8 Jahre und wächst mehrsprachig deutschpersisch auf, wobei er das in der Familie vorherrschende Persisch laut Angaben der Eltern nur wenig nutzt. Lian besucht aufgrund seiner Schwierigkeiten im Bereich Pragmatik - Semantik eine integrative Kindertageseinrichtung. Lian hat einen eingeschränkten Wortschatz und es fällt ihm schwer, sich mit Gleichaltrigen auszutauschen. Er äußert sich in der Einrichtung häufig mit nonverbalen Mitteln und verwendet nur sparsam sprachliche Äußerungen, um sich mitzuteilen. Die Spielbeobachtung von Lian verwandelte sich bald in eine spielende Teilnahme. Ohne diese aktive Teilnahme wäre die Beobachtung nicht möglich gewesen. 1 Kern der Beobachtung war eine gemeinsame Rollenspielsituation, an der noch ein weiteres, jüngeres Kind (Ruben 3; 2) beteiligt war. Notizen während der Beobachtung wurden für die Auswertung mit einem Gedächtnisprotokoll sowie transkribierten Tonbandaufnahmen ergänzt. 2.2 Teilnehmende Rollenspielbeobachtung mit Lian Nach dem morgendlichen Sitzkreis in der Gruppe darf Lian wie die übrigen Kinder frei in der Einrichtung spielen. Bald wird klar, dass er außerhalb des Gruppenraums in der „Puppenecke“ spielen möchte. Die für Rollenspiele vorhergesehene Spielecke besteht aus einem mit kleinen Wänden abgeschirmten Bereich, in dem sich eine kleine Spielküche, ein Tisch mit Stühlen in der Mitte, ein Sitzkissen sowie Schränke mit Spielgegenständen befinden. Am Eingang zur Ecke steht ein Kaufladen. Lian nimmt sich einen Arztkoffer aus dem Schrank, was für den Frühförderer ein Anzeichen darstellt, dass er vielleicht Arzt spielen möchte. Dies bewegt den Erwachsenen dazu, in die Rolle eines Patienten mit Beinschmerzen zu schlüpfen. Die Rolle des Patienten greift Lian nicht weiter auf. Statt auf das Spielangebot „Beinschmerzen“ als Arzt einzugehen, weicht er diesem aus und erkundet beharrlich handelnd die Funktionen der Gegenstände im Arztkoffer. Das Entdecken von Gegenständen weitet sich auf weitere Gegenstände aus der Küche aus, die er der Frühförderkraft anbietet (Apfel, Eis usw.). Er bringt einzelne Gegenstände und nimmt diese kurz darauf wieder weg. Erw.: (Erwachsener) „Oh, ein Eis.“ Lian: „Ja, Eiscreme! (…) Du kriegst keine! “ Nimmt Eis weg. Das „Du-kriegst-kein“-Spiel wird mit ein paar weiteren Gegenständen fortgesetzt, bis Lian ein neues Spielthema und das dann dominierende einleitet: Lian: „Was willst du sein jetzt? Was willst du sein? Willst du Mama oder Papa sein? “ Erw.: „Ähm, ich bin ein Papa. Was bist du? Bist du ein Kind? Oder bist du auch ein Papa? “ Lian: „Ich bin ein Bruder. Papa? “ Erw.: „Ja.“ Lian: „Kannst du jetzt hier aufräumen? “ Diverse häusliche Tätigkeiten folgen, wobei vor allem Lian, als Bruder, seinen Papa anweist, was er wo aufzuräumen habe. Das Spiel bekommt 1 Die Balance zwischen Teilnahme und Beobachtung, das Abwägen, das mitgestaltende Teilnehmen ist letztlich eines der Wesensmerkmale der teilnehmenden Beobachtung als qualitative Methode der ethnografisch orientierten Sozialforschung (Breidenstein et al. 2015, Hitzler und Eisewicht 2016). 102 FI 2/ 2020 Aus der Praxis schließlich ein weiteres Thema, das durch den dreijährigen Ruben initiiert wird. Dieser geht ans Telefon und beginnt mit dem Hörer zu sprechen und reicht ihn an mich weiter. Erw.: Nimmt Hörer. „Oh Bruder, es ist für dich! Hier! Es ist die Mama! “ Lian: „Nein, des ist meine Schwester.“ Lian berichtet, dass die Schwester am Strand sei und auf einen Besuch warte. Auf diesen Besuch wird hin gespielt: Gemeinsam wird ein Rucksack gepackt, die Wohnung aufgeräumt und Essen für den Ausflug zum Strand gekocht. In einer Schublade mit Verkleidungsstücken findet Lian einen Batmanumhang, den er anziehen möchte. Lian: „Papa, kannst du mir helfen. Ich weiß nicht, was soll ich anziehen (sucht nach Verkleidung). Will ein Batman sein (lacht, holt Batmanumhang). (…) Kannst du mir helfen, hier beim Anziehen, Papa? “ Erw.: „Oh, da verwandelt sich der Bruder in Batman. Bist du jetzt der Batmanbruder? “ Nach einiger Zeit ist alles für den Strandbesuch bereit. Lian und der Erwachsene verlassen gemeinsam mit gepacktem Rucksack die Spielecke. Schnell wird klar, dass die beiden keinen geeigneten Ort finden, an dem der fiktive Strand sein könnte. Auf den Vorschlag, der Strand könnte am anderen Ende des Gangs bei einem Sofa sein, geht Lian nicht ein und er lenkt das Spiel wieder in die Puppenecke zurück. Zurück in der Ecke beginnt das „Aufräumspiel“ von Neuem, dieses Mal mit dem Ziel, den zuvor gepackten Rucksack auszuräumen: es erfolgen wieder diverse Anweisungen für den Papa, was er aufräumen müsse. Nachdem die Sachen aus dem Rucksack aufgeräumt sind, rückt der Arztkoffer erneut in den Mittelpunkt des Spielgeschehens: Zunächst findet kein symbolisches Spiel damit statt. Die Funktion der Gegenstände steht erneut im Vordergrund. Lian macht sich einen Spaß daraus, bei sich selbst im Mund Fieber zu messen und die Anzeige nach oben zu schrauben. Das Spiel wird erst wieder zum symbolischen Rollenspiel, als Lian so tut, als ob er ernster krank wird. Das Spiel wird an dieser Stelle abgebrochen, da ein Gong aus dem Gruppenraum ertönt, der für die Kinder ein Zeichen ist aufzuräumen. 2.3 Wie äußert sich sprachlich-soziales Handeln im Rollenspiel? Die Einordnung der Spielbeobachtung orientiert sich an ausgewählten Analysekategorien der Übersicht „sozialer Kompetenzen im Fokus des Sprachgebrauchs“ (vgl. Menz in diesem Heft). Im Fokus liegen ausschließlich die in der Spielszene beobachtbaren Kompetenzen im Bereich „Mit anderen kooperativ handeln“. Bewusste und unbewusste psychische Motive für die Wahl des Spielthemas und den Verlauf der Spielszene werden für die Fragestellungen des vorliegenden Beitrags untergeordnet berücksichtigt und sind nicht Gegenstand der Auswertung. Auch die Lebenswelt von Lian und biografische Bedingungen, die für sprachlich-soziales Handeln eine wichtige Rolle spielen (Menz 2018), finden für die Analyse und das Anliegen dieses Beitrags keine Berücksichtigung. 2.3.1 Das eigene Handeln auf andere abstimmen An unterschiedlichen Stellen werden von Lian oder dem erwachsenen Mitspieler Spielangebote gemacht. Alle Angebote beabsichtigen das gemeinsame Spiel weiterzuentwickeln. Damit wird das Interesse am kooperativen Handeln der Spielpartner deutlich. Anders als die Handlungen des jüngeren Mitspielers Ruben, der häufig den Spielraum verlässt oder immer wieder eigene nicht auf die Partner abgestimmte Handlungen initiiert (z. B. das klingelnde Telefon), sind die Handlungen von Lian kooperativ und wollen das gemeinsame Spiel weiterführen. Als Initiatoren der Spielange- 103 FI 2/ 2020 Aus der Praxis bote werden einerseits Gegenstände benutzt (z. B. Utensilien aus der Küche oder dem Arztkoffer) andererseits sind es symbolische Handlungen, die als Initiator dienlich sind (z. B. das fiktive Telefonieren des jüngeren Ruben, das aufgegriffen wird und in das gemeinsame Spiel integriert wird). Auch wenn Lians Angebote überwiegend ein kooperatives Grundmotiv haben, so bezieht sich sein kooperatives Interesse auf den erwachsenen Spielpartner. Er zeigt momentan wenig Interesse, das anwesende jüngere Kind (Ruben) in die Spielhandlung mit einzubeziehen. Es fällt auf, dass das Spiel seitens Lian eine bestimmte Zeit lang auf Handlungen mit kooperativem Grundmotiv besteht, die aber wenig geeignet erscheinen, um ein längeres kooperatives Spielscript aufzubauen: Lian bringt diverse Gegenstände (Eiskugel, Kamera, Toast). Nach der freudigen Reaktion des Erwachsenen über die Gegenstände äußert Lian konsequent: „Du kriegst keine! “ Er entzieht damit den Gegenstand, den er in den Fokus der gemeinsamen Aufmerksamkeit rückt, wieder aus dem Spielgeschehen, was jedes Mal das Ende der möglichen kooperativen Handlung mit diesem Gegenstand bedeutet 2 . Mit Blick auf die Symbolisierungsfähigkeiten kann festgehalten werden, dass sowohl Gegenstände und Spielhandlungen als auch Personen für das kooperative Spiel symbolisiert gebraucht werden: Symbolisch wird gepackt, gekocht und geputzt, damit die Schwester am fiktiven Strand besucht werden kann. Die Symbolhandlungen werden kooperativ mit dem anderen abgestimmt ausgeführt. Es zeigt sich immer wieder, dass sich Lian nicht auf alle symbolischen Handlungen mit kooperativem Motiv einlassen kann: Lian geht auf mehrere Vorschläge einer fiktiven Strandlocation nicht ein. Stattdessen lenkt er die Aufmerksamkeit unbeirrt auf Gegenstände aus der Verkleidungskiste. Mögliche nächste Schritte: Für die gezielte Unterstützung von Lians Kooperation mit anderen könnte im Rahmen des Frühförderangebots der Bereich Einstellung und Gefühle mit anderen teilen gezielt aufgegriffen werden: Durch die konkrete Benennung des subjektiven Emotionszustandes des Erwachsenen während der Interaktionen (z. B. „Ich bin traurig, weil du mir immer so streng befiehlst, was ich tun muss! “) ist eine Sensibilisierung für diese Thematik möglich. 2.3.2 Komplex mit anderen kommunizieren und Handlungen koordinieren Für das komplexe Kommunizieren und Koordinieren von Handlungen kommt im Spiel häufig die Form der Metasprache zum Einsatz. Auch Lian greift an einigen Stellen auf diese sprachliche Form zurück und er koordiniert damit das Spielgeschehen. Schon zu Beginn, indem er die Frage stellt: „Was willst du sein? Willst du Mama oder Papa sein? “, nutzt Lian die sprachliche Äußerung, um sein individuell geplantes Spielthema zum gemeinsamen Thema zu machen und eine Rollenverteilung zu steuern. An anderen Stellen koordiniert Lian das Spielthema eher implizit, verlässt dabei nicht den Spielrahmen, sondern initiiert symbolische Handlungen durch Äußerungen in seiner Rolle, beispielsweise als er die Spielidee des Erwachsenen (am Telefon sei die Mutter) zwar aufgreift, aber verändert und sagt: „Nein, des ist meine Schwester! “ Fortan hat die Schwester eine wichtige Rolle für das kooperative Spiel, da für den Ausflug mit der Schwester zum Strand Vorbereitungen getroffen werden. Mögliche nächste Schritte: Lian fällt es leicht, mithilfe der Metasprache das Spielgeschehen mit dem erwachsenen Mitspieler sowie dem jüngeren Kind zu koordinieren. Da er Schwierigkeiten hat, weitere und vor allem gleichaltrige Kinder mit in das Spiel einzubeziehen, wäre für eine komplexe Kommunikation das gemeinsame Spiel zwischen 2 Aus interaktionistischer Sicht könnte dieses Interaktionsschema Reiz anbieten - Reaktion abwarten - Reiz entziehen anderweitig analysiert werden, für die Auswertungskategorie Rollenspiel wirkt das gezeigte Verhalten interaktionshemmend. 104 FI 2/ 2020 Aus der Praxis Lian und Gleichaltrigen förderlich. Dies kann durch das gezielte Mitspielen der erwachsenen Förderkraft angeregt werden, die sich dann nach und nach aus dem Spielgeschehen zurückziehen und eine beobachtende Rolle einnehmen kann. 2.3.3 Differenzierung von Absichten des Handelns Lian greift an einigen Stellen auf die Absicht des Aufforderns zurück: Dabei entscheidet er sich teilweise für direkte Anweisungen („Und du musst auch hier aufräumen! “), teilweise bittet er um Hilfe („Papa, kannst du mir helfen, die Sachen da hinlegen? “). Generell hat das Helfen einen großen Stellenwert in der dargestellten Spielsituation. Der fiktive Papa wird häufig gebeten, dem Bruder zu helfen. Die dabei geäußerte Sprachhandlung um Hilfe bitten hat soziale Absichten und unterstützt dadurch das kooperative Spielthema, bspw. wenn sich Lian in seiner Bruderrolle an den Papa wendet. Sie bezieht sich direkt auf das Handeln des anderen mit der Bitte um Hilfe. Lian gelingt es hierbei zielführend, seine Intentionen dem Gesprächspartner zu vermitteln und seinen kommunikativen Zweck zu erfüllen. Eine weitere enthaltene Form sprachlicher Äußerungen des Rollenspiels besteht aus der Handlung Anweisung geben: Lian instruiert seinen fiktiven Vater durch genaue Aufräum- und Putzaufträge und ist auch hierbei aus pragmatischer Sicht kommunikativ erfolgreich, da der Spielpartner seine Ansagen zweckbezogen ausführt. Hierbei fällt auf, dass Lian zwar häufig zur Hilfe auffordert, seine Hilfe im Spielverlauf aber nicht selbst anbietet. Mögliche nächste Schritte: Um Lian gezielt im Handlungsfeld Für andere etwas machen zu unterstützen, könnten Rollenspielsituationen inszeniert werden, in denen die Hilfe von Lian notwendigerweise situationsspezifisch relevant wird: Beispielsweise wird Lian zunächst mehrfach konkret um Mithilfe beim Packen des Rucksackes oder dem Aufräumen der Wohnung gebeten. Als weiterführenden Schritt kann diese Beteiligung dann mit der Perspektive des Hilfe Anbietens so ausgebaut werden, dass der Erwachsene als Papa im Rahmen der bereits thematisierten Beinschmerzen (s. o.) nicht mehr laufen könne und daher keine Tätigkeiten mehr übernehmen könne. Lian als Sohn würde dann als Hilfe benötigt und müsste durch Abfragen der Haushaltstätigkeiten seine Hilfe anbieten (z. B. eine mögliche Zielstruktur: „Soll ich den Boden saugen? “). 2.3.4 An institutionalisierten Phänomenen teilhaben Im Spielverlauf wird an einigen Stellen deutlich, dass auch institutionalisierte Phänomene (auf sozialen Normen basierende Handlungen, s. Menz in diesem Heft) das Spielgeschehen beeinflussen. Der Glocken-Gong als Aufräumsignal knüpft an diese institutionalisierten Phänomene an und rahmt das Spielgeschehen: Abrupt brechen die Kinder ihre Spielhandlungen ab und beginnen (ohne dazu explizit aufgefordert zu werden) mit dem Aufräumen der Spielecke. Derartige soziale Normen beeinflussen, lenken, regeln und prägen das soziale Handeln, was dementsprechend Auswirkungen auf soziale Interaktionen hat. Im Rollenspiel lassen sie sich sowohl symbolisch als auch praktisch ausprobieren oder umsetzen. 2.4 Abschließendes zum Beispielkind Lian Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Rollenspiele aus Perspektive des sprachlich-sozialen Handelns sowohl eine hilfreiche diagnostische Erhebungsmethode als auch ein zielführendes Unterstützungselement ausgewählter Handlungsfelder darstellen. Mithilfe des dargestellten Spielrahmens wurde am Beispielkind Lian deutlich, dass sowohl sprachlich-kommunikative Lernfortschritte im Spiel getätigt und umgesetzt werden können (z. B. die Sprachhandlung um Hilfe bitten) als auch durch gezielte Handlungsstrukturierung seitens der Frühförderkraft (z. B. Interventionsmaßnahmen zur Ausweitung des Hilfe Anbietens von Kindern) individuelle Lernbereiche fokussiert werden können. 105 FI 2/ 2020 Aus der Praxis Dr. Christoph Schiefele Institut für Sprachen, Abteilung Deutsch Niels Schwindt JProf. Dr. Stephan Gingelmaier Psychologie und Diagnostik im Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung PH Ludwigsburg Reuteallee 46 71643 Ludwigsburg schiefele@ph-ludwigsburg.de niels.schwindt@ph-ludwigsburg.de gingelmaier@ph-ludwigsburg.de Dr. Mathias Menz Tannenberger Str. 62 72760 Reutlingen E-Mail: mathiasmenz@web.de Erich Kästner-Schule Reutlingen Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Förderschwerpunkt Sprache Literatur Breidenstein, G., Hirschauer, S., Kalthoff, H., Nieswand, B. (2015): Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. UTB Sozialwissenschaften, Kulturwissenschaften Bd. 3979. 2. Aufl. UVK Verlagsgesellschaft mbH; UVK/ Lucius, Konstanz/ München, https: / / doi.org/ 10.1163/ 25890581-090-02-90000014 Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L., Target, M. (2015): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Fachbuch. Klett-Cotta, Stuttgart Hitzler, R., Eisewicht, P. (2016): Lebensweltanalytische Ethnographie. Im Anschluss an Anne Honer. Standards standardisierter und nichtstandardisierter Sozialforschung. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel Menz, M. (2018): Bildung, Lebenswelt und Sprache. Biografische Studie über zwei Jungen vom Elementaralter bis in die Schulzeit. Schneider, Hohengehren Winnicott, D. W. (1971): Playing and Reality. London, Tavistock - Anzeige -
