eJournals Frühförderung interdisziplinär 40/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2021
401

Neue Gedanken – Frühförderung in den nächsten 40 Jahren

11
2021
Helmut Hollmann
Ende September 1981 habe ich als absoluter Youngster meinen Dienst in der Klinik des Kinderzentrums München angetreten – 3 Tage vor Vertragsbeginn, aber als Pendler zwischen Köln und München war es zur damaligen Zeit nicht lohnenswert, den Aufwand der langen Bahnfahrt für nur 2 Tage zu machen. Wenn auch Verkehrsverbindungen für heutige Begriffe unvorstellbar langsam waren, war anderes hingegen zu dieser Zeit des Aufbruchs in der Entwicklungsförderung für Kinder mit Behinderungen äußerst ertragreich. [...]
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9 Frühförderung interdisziplinär, 40.-Jg., S.-9 -12 (2021) DOI 10.2378/ fi2021.art02d © Ernst Reinhardt Verlag Neue Gedanken - Frühförderung in den nächsten 40 Jahren Helmut Hollmann, Bonn FRÜHFÖRDERUNG NEU DENKEN 40. Jahrgang E nde September 1981 habe ich als absoluter Youngster meinen Dienst in der Klinik des Kinderzentrums München angetreten - 3 Tage vor Vertragsbeginn, aber als Pendler zwischen Köln und München war es zur damaligen Zeit nicht lohnenswert, den Aufwand der langen Bahnfahrt für nur 2 Tage zu machen. Wenn auch Verkehrsverbindungen für heutige Begriffe unvorstellbar langsam waren, war anderes hingegen zu dieser Zeit des Aufbruchs in der Entwicklungsförderung für Kinder mit Behinderungen äußerst ertragreich. Der Gedanke, dass es nicht nur schicksalhaft ist, wenn eine Familie ein Kind mit einer schwerwiegenden Entwicklungsstörung zu versorgen hat, sondern es vielmehr Chancen und Möglichkeiten gibt, therapeutisch und fördernd einzugreifen, übte eine besondere Faszination aus. Und ebenso schillernd wie viele Perspektiven in dieser Thematik waren, setzten sich auch die herausragenden Persönlichkeiten ein, die exponiert Veränderungen im Umgang mit behinderten Kindern einforderten, Methoden erdachten und organisatorische Strukturen schufen. Die Diskussionen zwischen Otto Speck als Exponent der pädagogischen Frühförderung und Theodor Hellbrügge mit einem medizinischen Therapieverständnis sind legendär und hatten mitunter eher den Charakter von Disputen im Ringen um die begründete Meinungshoheit. Auch 10 Jahre später, mit Übernahme der Leitung des SPZ Erftkreis in Brühl, waren noch reichlich Vorbehalte zwischen den Frühförderstellen und den inzwischen seit 1989 gesetzlich etablierten SPZ zu spüren, und übergreifende Kooperationen hatten häufig einen mehr tastenden Charakter. Heute, nochmals drei Jahrzehnte später, muten solche Erinnerungen fast anachronistisch an. Hans Schlack hatte in seinem ersten Lehrbuch „Sozialpädiatrie: Gesundheit - Entwicklung - Lebenswelten“ bereits 1995 formuliert: „Es ist unschwer vorherzusagen, dass der Bedarf an sozialpädiatrischen Leistungen steigen wird“. Dies ist begrifflich auszudehnen auf alle Bereiche der Förderung und Entwicklungsunterstützung für Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedarfen und umfasst dabei auch die Belange der Familien, von denen erwartet wird, dass sie nicht nur die Versorgung eines beeinträchtigten Kindes sichern, sondern es oft über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg umfassend und in allen Belangen betreuen. Dabei ist die Landschaft der Institutionen umfassend erweitert worden; Interdisziplinäre Frühförderzentren, „Bunte Kreise“ und „Frühe Hilfen“ sind ebenso intensiv wirksam wie Medizinische Nachsorge oder die Spezielle Pädiatrische Palliativmedizin. Durch die 2001 erfolgte Einführung des „Frühförder-Paragrafen“ im SGB IX ist die Existenz der mehr als 1.200 Frühförderstellen und Interdisziplinären Frühförderzentren in Deutschland abgesichert worden, und das Netz der Sozialpädiatrischen Zentren wurde in den vergangenen 40 Jahren von etwa 20 auf 164 Institutionen nahezu flächendeckend ausgebaut. Im Gegensatz zur institutionellen Frühförderung bestehen hier aber weiterhin gravierende ungelöste Finanzierungsprobleme in Bezug auf den Anteil der sog. nichtärzt- 10 FI 1/ 2021 Helmut Hollmann lichen sozialpädiatrischen Leistungen, was gerade aktuell 2020 existenziell gefährdenden Charakter entwickelt. Die Vielfalt der Institutionen spiegelt eine sich diversifizierende, zunehmend aufgabenspezifische Versorgungslandschaft. Standen zu Beginn der 1970er Jahre noch die eingangs skizzierten, scheinbar gegensätzlichen Positionen von medizinisch orientierten und pädagogisch geleiteten Ansätzen im Vordergrund, hat inzwischen zumindest auf der wissenschaftlichen Ebene ein breiter Konsentierungsprozess stattgefunden. Der Mythos vieler scheinbar heilbringender Methoden ist durch realistische Therapieevaluation genommen worden, und der zentrale Stellenwert von Familie und Bezugssystem im Sinne einer fördernden Umgebung hat sich in sämtlichen Studien weltweit durchgesetzt. Gleichzeitig ist deutlich geworden, welch hohe Bedeutung aufgabenspezifische und repetitive Vorgehensweisen haben, um zielgerichtet bestimmte Funktionen in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Hieraus haben sich wiederum völlig neue Interventionsansätze entwickelt, exemplarisch in der Ergotherapie oder im Bereich der geräteunterstützten Physiotherapie. Meilenstein in der Behandlung der spastischen Cerebralparese war dabei zunächst die roboterunterstützte Therapie auf dem Laufband, medikamentös vorbereitet und begleitet durch Injektionsbehandlungen mit Botulinumtoxin A. Letztere ist das herausragende Beispiel für die Verbindung von systematischer Forschung und klinischer Expertise. Dies setzt sich fort in der 2019 erfolgten Formulierung von Qualitätsindikatoren für die Behandlung der Cerebralparese. Versorgungsforschung zeigt somit zunehmend Auswirkungen auf die Gestaltung der individualisierten Behandlung und Förderung. Im Bereich der Medikation ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten wie bei medizinischfunktionellen Behandlungsmaßnahmen. Nach häufig initial euphorischen Reaktionen folgt die Konsolidierung der Erwartungshaltung auf der Basis der Verlaufsforschung. Hier hat die Behandlung mit Methylphenidat bei Störungen der Aktivitäts- und Impulskontrolle sowie beim Aufmerksamkeits-Defizit eine Vorreiterrolle gespielt, auch was die teils extrem emotional geführten kontroversen Diskussionen betrifft. Auf ganz anderer Ebene war dies bei der Einführung der „Neuen Antikonvulsiva“ in den 1990er Jahren zu beobachten, wobei hier das Levetiracetam seither einen enormen Zugewinn darstellt. Ganz aktuell stehen Enzymersatztherapien bei Speicherkrankheiten sowie die verschiedenen momentan in der Frühphase der klinischen Einführung noch konkurrierenden Ansätze der Behandlung bei Spinaler Muskelatrophie im Fokus. Parallel zu dieser kontinuierlichen Entwicklung hin zu immer spezifischeren und damit zielgerichteteren Interventionsmöglichkeiten hat sich durch die extremen Fortschritte in der Molekulargenetik eine völlig neue Perspektive bei der ätiologischen Klärung eines vorliegenden Störungs- und Krankheitsbildes ergeben. Dies eröffnet zwar meist keine unmittelbar anderen und damit besseren therapeutischen Ansätze, ermöglicht aber eine häufig wesentlich bessere prognostische Einschätzung auf der Basis von Gruppenvergleichen und löst in vielfältiger Weise die diffuse emotionale Problematik der Schuldvorwürfe in Verbindung mit der Ursachendiskussion. Gleichzeitig entstehen neue ethische Fragen durch die immer breiteren und mittlerweile technisch einfachen Zugangsmöglichkeiten zur Pränataldiagnostik mit der Konsequenz des Schwangerschaftsabbruches. Frühe Entwicklungsförderung verfügt somit über eine breite Palette an reichen Möglichkeiten. Die Anwendung verlangt gleichzeitig ein immer differenzierteres Wissen und eine hohe fachliche wie persönliche Qualifikation aller in diesem Bereich Tätigen. Dies ist in der Zusammenschau der vergangenen vier Jahrzehnte 40. Jahrgang 11 FI 1/ 2021 Neue Gedanken - Frühförderung in den nächsten 40 Jahren vielleicht die größte Herausforderung, nämlich sich aus tradierten Vorstellungen und geübten Vorgehensweisen zu lösen, um Raum zu schaffen für Ansätze und Planungen, die noch stärker auf dem aktuellen Stand der Neurowissenschaften basieren und in der Umsetzung konsequent eine mehrdimensionale Zielsetzung verfolgen. Die „Arbeitsgruppe Entwicklungsneurologie“ hat 1994 den Paradigmenwechsel in der Therapie unter dem Motto: „Das Kind als Motor seiner Entwicklung“ ausgerufen und über eine Woche hinweg in vielfältigen Vorlesungen und Seminaren beim Herbst-Seminar- Kongress Bad Orb an die bundesdeutschen Kinderärzte zu vermitteln versucht. Dabei sind Barbara Orth, Remo Largo, Richard Michaelis, Gerhard Neuhäuser und Hans Schlack davon ausgegangen, dass nicht die Methode entscheidend sei, sondern die Intervention an sich mit persönlichem Einsatz des*der Therapeut*in unter Einbezug vorrangig der Eltern. In der Fortschreibung dieses Vorgehens, das inzwischen weitestgehend anerkannt und praktiziert wird, ist heute erneut ein Paradigmenwechsel notwendig mit Präzisierung der Ziele von Therapiemaßnahmen und Interventionen einerseits und der Erweiterung um die übergeordnete Fokussierung auf Ermöglichung von Teilhabe mit Selbstständigkeit und schlussendlich Autonomie andererseits. Dies ist eine maximal anspruchsvolle Vorgehensweise, verlangt sie doch neben einer umfassenden Erkenntnis der Situation des Kindes die weitgehende Erfassung und Würdigung von Variablen, die die familiäre Situation sowie weitere Umweltfaktoren hinreichend genau charakterisieren. Mühelos wird in dieser Kontinuität sichtbar, dass sich diese Auffassungen vollständig decken mit den theoretischen Grundlagen, die zur Entwicklung der ICF geführt haben. Deren präzise formulierten Kodierungen mögen neu sein; die dahinter stehenden Modelle für die Entwicklung und Funktion sind es nicht, sondern werden in der Frühförderung und Sozialpädiatrie teilweise schon lange praktisch angewendet. Frühförderung und alle damit verbundenen ähnlichen Systeme der frühen Intervention waren immer schon im Selbstverständnis interdisziplinär. Mehrdimensionale Ansätze der Intervention verlangen aber darüber hinaus auch den Einbezug weiterer Systeme. Neben Pädagogik, Psychologie und Medizin ist dies in einer Gesellschaft der sich spaltenden Verhältnisse besonders die Jugendhilfe. Schier unbegrenzte Möglichkeiten, teilweise verbunden mit ausgeprägtem Anspruchsdenken, sind für einen Großteil unserer Bevölkerung zur Selbstverständlichkeit geworden. Dem stehen für etwa jeden fünften jungen Menschen unter 18 Jahren in Deutschland eingeschränkte Optionen mit reduzierter bis vernachlässigter Förderung und Wohlstandsarmut gegenüber. Sämtliche Forschungsdaten verweisen auf die hohe Abhängigkeit der kindlichen Entwicklung ebenso wie der psychischen Gesundheit von den fördernden oder eben hemmenden Kontextfaktoren. Es ist die besondere Herausforderung in einer pluralistischen und immer stärker sich differenzierenden postindustriellen Hochleistungsgesellschaft, diesen Spagat zu mindern und inhaltlich zu überwinden. Die Perspektive der Frühförderung in den kommenden 40 Jahren umfasst ohne Zweifel steigende Anforderungen. Dabei werden die klassischen Felder in der Betreuung von jungen Kindern, die behindert oder von Behinderung bedroht sind, unverändert fortbestehen. Hinzu gesellen sich aber die Anforderungen aus dem gesellschaftlichen Kontext. Dies bedeutet gleichzeitig, dass im Gegensatz zum aktuell oftmals zu beobachtenden Trend einer Reduzierung der mobil-aufsuchenden Dienste aus Kostengründen exakt die entgegengesetzte Vorgehensweise notwendig ist: nur durch eine Intensivierung der Betreuung im natürlichen und damit vor allem familiären Umfeld von insbesondere jungen Kindern, die von einer Entwicklungsstörung betroffen und in der Realisierung ihrer vorhandenen Ressourcen bedroht sind, wird es gelingen, hier 12 FI 1/ 2021 Helmut Hollmann Veränderungen zu generieren, die auch nachhaltig sind. Der Bereich der Medizin kann dazu verglichen zur historischen Entwicklung paradoxerweise Vorbild sein: die zunehmend in Modellprojekten verwirklichten Ansätze des „home treatment“ greifen genau diese Vorgehensweise auf, die von der Frühförderung vor 40 Jahren propagiert worden sind - somit eine „Wiederentdeckung“ altbekannter und bewährter Ansätze, darüber hinaus sehr gut evaluiert im Erreichungsgrad gerade solcher Kleinkinder, die in prekären Umgebungsmilieus leben. Um die Gelingensbedingungen zu optimieren, ist die systematische Erarbeitung von Strategien der professionsübergreifenden Kooperation erforderlich. Dies muss verstärkt aber auch die Zusammenarbeit umfassen, die die Grenzen von Institutionen und Systemen überschreitet. Hierin liegt die große zukünftige Anforderung bei gleichzeitigem Stopp des ungebrochenen Trends zu immer mehr Bürokratie im Sinne einer Pseudo-Kontrolle der Qualität. Dafür braucht es interdisziplinäre Fortbildungen und Kongresse. Neben vielfältigen regionalen Angeboten beispielsweise mit systemübergreifenden und interdisziplinären Qualitätszirkeln stehen hierzu das Fortbildungszentrum am Zentrum für Frühbehandlung und Frühförderung Köln sowie die Deutsche Akademie für Entwicklung und Gesundheitsförderung des Kindes und Jugendlichen in München als Zentralinstitutionen zur Verfügung. Der Interdisziplinäre Herbst-Seminar-Kongress für Entwicklungs- und Sozialpädiatrie in Brixen bietet seit ebenfalls fast 40 Jahren die entsprechende interdisziplinäre Plattform. Die Systeme der frühen familiären Hilfen ebenso wie der Entwicklungsunterstützung sind zweifelsohne breit aufgestellt und quantitativ gut vorhanden. In der konkreten Ausgestaltung braucht es aber mehr politischen Mut, die reichlich vorhandenen Möglichkeiten auch system- und bereichsübergreifend arbeiten zu lassen und so qualitativ auf dem aktuellen Stand der Kenntnisse in den Neuro- und Sozialwissenschaften zu gestalten. Ebenso ist es leider weiterhin unverändert erforderlich, die Finanzierungsgrundlagen für die Institutionen der frühen Entwicklungsdiagnostik und -förderung formaljuristisch zu stabilisieren; für die SPZ fehlen auch 31 Jahre nach ihrer Etablierung im SGB V diese Voraussetzungen, was skandalös ist. Grundsätzliche Mängel bestehen in der institutionellen außerfamiliären Betreuung; dies umfasst Krippen, Kindergärten und Schulen. Die Vielzahl der Aufgaben in der frühen Entwicklungsförderung wird nur dann erfolgreich angegangen werden, wenn für 20 % der heranwachsenden Bevölkerung bessere Basisbedingungen zu Spracherwerb und frühkindlicher Bildung flächendeckend und ausnahmslos geschaffen werden. Die individuelle Frühförderung für besonders benachteiligte, chronisch kranke oder von Behinderung bedrohte bzw. betroffene junge Kinder ergänzt dies zielgerichtet, kann aber den bevölkerungsbezogenen Ansatz nicht überflüssig machen. Literatur Bode, H., Straßburg, H. M., Hollmann, H. (Hrsg.) (2014): Sozialpädiatrie in der Praxis. 2. Aufl., München, Urban und Fischer/ Elsevier Largo, R. H. (2019): Kinderjahre. Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung. Vollst. überarb. Neuausgabe. Piper, München Michaelis, R., Niemann, G. W. (2017): Entwicklungsneurologie und Neuropädiatrie. Grundlagen, diagnostische Strategien, Entwicklungstherapien und Entwicklungsförderungen. 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, unter Mitarbeit von Renate Berger und Markus Wolff. Thieme, Leipzig, https: / / doi.org/ 10.1055/ b-0037-142427 Sarimski, K. (2017): Handbuch interdisziplinäre Frühförderung. Ernst Reinhardt Verlag, München/ Basel Schlack, H. G., Thyen, U., von Kries, R. (2009): Sozialpädiatrie - Gesundheitswissenschaft und pädiatrischer Alltag. Springer, Heidelberg, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-642-01477-2 40. Jahrgang