eJournals Frühförderung interdisziplinär 40/1

Frühförderung interdisziplinär
1
0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2021
401

Originalarbeit: Wird Sehen übersehen?

11
2021
Renate Walthes
Treten im Kindesalter Entwicklungsprobleme auf, wird das Sehen, wenn nicht eindeutig identifizierbare Probleme der Augen vorliegen, häufig nicht beachtet. Am Beispiel der U-Untersuchungen wird analysiert, welche visuellen Funktionen in den ersten Lebensjahren in der Pädiatrie überprüft werden. Viele Funktionen des kindlichen Sehens werden weder in der Pädiatrie noch in der Ophthalmologie berücksichtigt. Erste Ergebnisse des Projektes ProVisioN zeigen: werden bei unauffälliger Sehschärfe keine weiteren visuellen Funktionen überprüft, besteht die Gefahr, dass Verhaltensweisen vorschnell als Aufmerksamkeits-, Lern- oder Konzentrationsprobleme interpretiert werden.
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Frühförderung interdisziplinär, 40.-Jg., S.-24 - 37 (2021) DOI 10.2378/ fi2021.art05d © Ernst Reinhardt Verlag 24 Wird Sehen übersehen? Visuelle Probleme im Kindesalter Renate Walthes Zusammenfassung: Treten im Kindesalter Entwicklungsprobleme auf, wird das Sehen, wenn nicht eindeutig identifizierbare Probleme der Augen vorliegen, häufig nicht beachtet. Am Beispiel der U-Untersuchungen wird analysiert, welche visuellen Funktionen in den ersten Lebensjahren in der Pädiatrie überprüft werden. Viele Funktionen des kindlichen Sehens werden weder in der Pädiatrie noch in der Ophthalmologie berücksichtigt. Erste Ergebnisse des Projektes ProVisioN zeigen: werden bei unauffälliger Sehschärfe keine weiteren visuellen Funktionen überprüft, besteht die Gefahr, dass Verhaltensweisen vorschnell als Aufmerksamkeits-, Lern- oder Konzentrationsprobleme interpretiert werden. Schlüsselwörter: Sehen, U-Untersuchungen, cerebral bedingte Sehbeeinträchtigungen, funktionale Überprüfung des Sehens Vision is overlooked. Visual problems in early childhood Summary: If developmental problems arise in childhood, vision is often ignored unless there are obvious problems in the eyes. The U-examinations (medical records) are used as an example to analyze which visual functions are checked in pediatrics in the first years of life in Germany. Many visual functions are not taken into account in either pediatrics or ophthalmology. If a child has good visual acuity no further visual functions are usually checked. First results of the ProVisoN project show: there is a risk that behaviors will be prematurely interpreted as attention, learning or concentration problems. Keywords: Vision, German U-examinations (medical records), visual processing disorder (CVI), vision assessment ORIGINALARBEIT D ie im Titel enthaltende Frage „Wird Sehen übersehen? “ könnte einerseits mit „vielleicht“, andererseits mit „ja“ beantwortet werden, abhängig davon, was unter „Sehen“ verstanden wird. In der älteren Fachliteratur, aber auch auf aktuellen Internetseiten wie der des Kuratoriums „Gutes Sehen“, wird Sehen nahezu ausschließlich mit funktionsfähigen Augen in Verbindung gebracht. „Die Augen funktionieren dabei wie eine Filmkamera: Genau wie bei einem Kameraobjektiv fällt Licht durch die einzelnen Bauteile des Auges - Hornhaut, vordere Augenkammer, Pupille, Linse und Glaskörper - bis auf die Netzhaut. Dort wird das Licht gebündelt - es entstehen Bilder. Von der Netzhaut wandern diese über den Sehnerv zum Gehirn.“ https: / / www.sehen.de/ sehen/ das-auge/ 2. 4. 2020 Diesem Verständnis entsprechend werden Sehprobleme auf Veränderungen des Auges reduziert, auf Refraktionsveränderungen (Brechung des Lichts) wie Kurzsichtigkeit, Weitsichtigkeit oder Astigmatismus (Stabsichtigkeit), auf Rot- Grün-Sehschwäche, Glaukom (Grüner Star) oder Katarakt (Grauer Star) und Stellungsabweichungen der Augen (Strabismus, Schielen). 25 FI 1/ 2021 Wird Sehen übersehen? Der Vergleich des Sehens mit einer Kamera kann jedoch die für das Sehen zentrale Frage nicht beantworten: wie gelingt es, aus der riesigen Fülle von Informationen, die auf das Auge treffen, ein bedeutungsvolles, stimmiges Bild der Welt zu erzeugen? Fertige Bilder jedenfalls wandern nicht „von der Netzhaut … zum Gehirn“, sondern eher bedeutungsneutrale elektrische Impulse (Roth 1994). Seit der nobelpreiswürdigen Entdeckung von Hubel und Wiesel (1959), dass Zellen im visuellen Cortex richtungsspezifisch reagieren, wurde in umfangreichen Forschungen herausgearbeitet, wie das Gehirn die visuellen Informationen analysiert. Neurowissenschaftler sprechen, wenn es um das Sehen geht, vom „visuellen System“ und beziehen sich auf die Vielzahl komplex miteinander interagierender Elemente des zentralen Nervensystems, die am Sehen beteiligt sind. Sie übernehmen jeweils spezialisierte Aufgaben, und etwa 60 % der Großhirnrinde und circa 25 % der Gehirnareale sind beteiligt, wenn wir sehen. (Gegenfurther et al., http: / / www.allpsych.uni-giessen.de/ karl/ teach/ aka.htm, 2. 4. 2020) Beide Perspektiven werden von unterschiedlichen Professionen (Ophthalmologie/ Neuro- (psycho)logie) vertreten und finden sich in verschiedenen Überprüfungsinstrumenten repräsentiert. In diesem Artikel soll zunächst anhand der Kinderrichtlinie zu den U-Untersuchungen, bzw. den sogenannten ‚Gelben Heften‘, geprüft werden, welchen Stellenwert Sehen hat und wie das kindliche Sehen überprüft wird. In einem zweiten Schritt sollen vorläufige Ergebnisse aus einem Projekt zur Erhebung von Daten aus einer funktionalen Überprüfung des Sehens vorgestellt und die Frage diskutiert werden, wie visuelle Probleme im Kindesalter rechtzeitig erkannt werden können. 1 Früherkennungsuntersuchungen in der Pädiatrie Eine gute Quelle, um zu prüfen, welche Relevanz Sehen im Kindesalter hat, sind die Früherkennungsuntersuchungen, die in der kinderärztlichen Praxis durchgeführt werden, um frühzeitig Probleme in der kindlichen Entwicklung festzustellen. Diese Untersuchungen sind in den sogenannten „Gelben Heften“ dokumentiert, die in der ‚Kinder-Richtlinie‘ des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern in der Fassung vom 19. 11. 2019 festgelegt sind. Hier werden die Themen ‚Anamnese“‚ „orientierende Beurteilung der Entwicklung“ „Beobachtung der Interaktion“ (mit der primären Bezugsperson) und eine „eingehende körperliche Untersuchung“ dargestellt, bevor es um spezifische Beratungsangebote geht (Kinderrichtlinie 019 Bundesanzeiger AT 18. 12. 2019 B4). In der nachfolgenden Tabelle wurden mit Ausnahme der Anamnese (familiäre Vorbelastung durch Augenerkrankungen) und der Beratung (keine Angaben zum Thema) diejenigen Elemente extrahiert, die direkt bzw. indirekt Themen des Sehens betreffen. Im Unterschied zum Neugeborenen-Hörscreening steht kein Sehscreening zur Verfügung, das unmittelbar nach der Geburt eingesetzt werden könnte. Da sich die meisten Sehfunktionen erst nachgeburtlich entwickeln, ist ein Screening in den ersten Lebensstunden weder möglich noch sinnvoll, später (ab U4) allerdings wohl. Die Tabelle ist in die Bereiche Perzeption/ Kognition und soziale/ emotionale Kompetenz als Bereiche der zu beurteilenden Entwicklung, Kontakt/ Kommunikation als Beobachtung der Interaktion und Augen als Teilbereich der körperlichen Untersuchung gegliedert. Es kann bei der Analyse der angeführten Aspekte nicht jedes Detail berücksichtigt werden. Folgende Zusammenhänge sind aus der Perspektive „Sehen“ bemerkenswert: 26 FI 1/ 2021 Renate Walthes U Perzeption/ Kognition Soziale/ emotionale Kompetenz Kontakt/ Kommunikation Augen U2 3. - 10. Lebenstag morphologische Auffälligkeiten (z. B. Ptosis, Leukokorie, Bulbusgrößenauffälligkeiten, Kolobom) Nystagmus, Prüfung im durchfallenden Licht: Transilluminationsauffälligkeit bei Trübung der brechenden Medien U3 4. - 5. Lebenswoche Folgt mit den Augen einem Gegenstand nach beiden Seiten bis mindestens 45 Grad Aufmerksames Schauen auf nahe Gesichter nächster Bindungspersonen Wie U2 U4 3. - 4. Lebensmonat Fixiert ein bewegtes Gesicht und folgt ihm. Versucht durch Kopfdrehen Quellen eines bekannten Geräusches zu sehen … Blickkontakt kann gehalten werden. Reaktion auf Ansprache, erwidert Lächeln einer Bezugsperson (soziales Lächeln) Das Kind sendet selbst spontan deutliche Signale zur primären Bezugsperson und sucht mit Blick, Mimik, Gesten und Lauten Kontakt. Das Kind stellt in unbekannten Situationen Körper- oder Blickkontakt zur Rückversicherung zur primären Bezugsperson her. morphologische Auffälligkeiten Nystagmus Brückner-Test: Transilluminationsunterschied (z. B. bei Trübung der brechenden Medien, Strabismus, Anisometropie) Prüfung der Blickfolge mit einem geräuschlosen, das Kind interessierenden Objekt (z. B. Lichtquelle): Fixationsschwäche rechts/ links U5 6. - 7. Lebensmonat Objekte, Spielzeuge werden mit beiden Händen ergriffen, in den Mund gesteckt, benagt, jedoch wenig intensiv betrachtet (erkundet oral und manuell) Wie U4 Wie U4 U6 10. - 12. Lebensmonat Gibt der Mutter oder dem Vater nach Aufforderung einen Gegenstand. Verfolgt den Zeigefinger in die gezeigte Richtung Wie U4 Wie U4 Pupillenstatus: Vergleich Größe, Form, Lichtreaktion rechts/ links U7 21. - 24. Lebensmonat Stapelt 3 Würfel. Zeigt im Bilderbuch auf bekannte Gegenstände Wie U4 Wie U4 Tab. 1: U-Untersuchungen ausgewählte Angaben zum Thema Sehen (Quelle: Gemeinsamer Bundesausschuss: Kinderuntersuchungsheft 2016) u 27 FI 1/ 2021 Wird Sehen übersehen? 1) Die enge Koppelung von Perzeption und Kognition erschwert es, die Bereiche isoliert voneinander zu betrachten. Augenfolgebewegungen sind ebenso wenig ein Element der Kognition wie Fixationen, wie „gibt der Mutter oder dem Vater nach Aufforderung einen Gegenstand“ oder „mindestens drei Farben werden erkannt und benannt“, Elemente der Perzeption sind. Farbunterscheidungen sind auch bei Farbenblindheit anhand der unterschiedlichen Grauwerte möglich. Erfahrene Kinderärzte wissen sicherlich, welche Elemente sich worauf beziehen, für Eltern ist das nicht erkennbar. 2) Was als soziale/ emotionale Kompetenz betrachtet wird, hat durchaus visuelle Voraussetzungen. Ein aufmerksames Schauen auf nahe Gesichter bekannter Personen setzt Sehschärfe, die Fähigkeit zur Akkommodation, d. h. die Fähigkeit in Ferne und Nähe scharf zu sehen, Kontrastsehen voraus und erfordert Gesichter(wieder)erkennung. D. h. eine Auffälligkeit in diesem Bereich kann nicht eindeutig sozialer bzw. emotionaler Kompetenz zugeordnet werden. Das gilt auch für das sogenannte ‚soziale Lächeln‘ (Hyvärinen und Jacob 2019, 21). 3) Bei der Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion kann nicht aufgrund des Fehlens von Blickkontakt und Mimik ausschließlich auf Auffälligkeiten in der Interaktion geschlossen werden. Auch hier müssten die unter 2) genannten visuellen Funktionen als mögliche Ursache mitbedacht werden. 4) Die körperliche Untersuchung bezieht sich ausschließlich auf die Augen: deren Bau, die Stellung der Augen und die Augenbewegungen. Ab der U7 a werden Testverfahren hinzugezogen, die das Stereosehen sowie die Sehschärfe in der Ferne prüfen. Letzteres soll einäugig durchgeführt werden, mit dem Ziel, mögliche Differenzen im rechten bzw. linken Auge festzustellen, um der Gefahr einer Amblyopie (Schwachsichtigkeit) frühzeitig zu begegnen. Die Testverfahren werden Formwiedererkennungstests ge- U7 a 34. - 36. Lebensmonat Wie U4 + Hornhautreflexbildchen: auffällig (Strabismus) Stereo-Test (z. B. Lang- Test, Titmus-Test, TNO-Test): Sehtest (monokulare Prüfung, z. B. mit Okklusionspflaster): (Nonverbale Formenwiedererkennungstests, z. B. Lea-Hyvärinen-Test, Sheridan-Gardiner-Test, H-Test nach Hohmann/ Haase, mittels Einzeloptotypen in 3 m Abstand) Sehschwäche rechts, Sehschwäche links, Rechts-links- Differenz U8 46. - 48. Lebensmonat. Wie U7 a U9 60. - 64. Lebensmonat Mindestens 3 Farben werden erkannt und richtig benannt. Wie U7 u 28 FI 1/ 2021 Renate Walthes nannt, da es sich hierbei um Buchstaben oder Formen handelt, die von Kindern nicht benannt, sondern verglichen werden können. Ab der U8 kommen als Testverfahren diejenigen hinzu, bei denen eine Richtung angegeben werden muss, sie setzen also voraus, dass Kinder Richtungen anzeigen können. Die Augen als Organ stehen im Zentrum der Früherkennungsuntersuchungen zum Sehen. Die Sehfunktionen, die ab der U7 a überprüft werden, beziehen sich neben dem Stereosehen ausschließlich auf Verfahren, die die Sehschärfe in der Ferne überprüfen. Es stellt sich die Frage, weshalb das Sehen in der Nähe und das Kontrastsehen überhaupt keine Berücksichtigung finden. Beide Funktionen sind gerade im Kleinkindalter enorm wichtig. Probleme in diesen Bereichen können zu erheblichen Entwicklungsverzögerungen führen, wenn sie nicht frühzeitig erkannt werden (vgl. Käsmann- Kellner und Seitz 2012; Hyvärinen 2019). Verfahren, die nach dem preferential-looking (PL)- Prinzip arbeiten (LEA Gratings PL mit Linien oder Hiding Heidi PL mit Gesichtern), könnten bereits ab der U4 eingesetzt werden und so früh Hinweise auf mögliche Sehprobleme geben. 1 2 Sehen und cerebral bedingte Sehbeeinträchtigungen Die Frage, ob das Sehen im Kindesalter zu häufig übersehen wird bzw. nicht differenziert genug überprüft wird, beschäftigt unsere Arbeitsgruppe an der TU Dortmund seit vielen Jahren. In einem Schwerpunktheft „Sehen“ Ausgabe 3 (2013) dieser Zeitschrift haben wir in verschiedenen Artikeln darauf aufmerksam gemacht, dass es viele visuelle Probleme im Kindesalter gibt, die entweder nicht gefunden oder als Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen angesehen und behandelt werden (Walthes 2013, 132). Weshalb dies so ist, darüber kann eigentlich nur spekuliert werden. Auf der einen Seite wird das Sehen als einer der wichtigsten Sinne angesehen. Unsere Umwelt ist heute überwiegend visuell gestaltet (Medien, Smartphone, Lernprogramme, Spiele etc.) und stellt sehr hohe Anforderungen an das Sehen. Auf der anderen Seite wird allen anderen Themen der kindlichen Entwicklung in der Literatur mehr Aufmerksamkeit gewidmet als dem Sehen. Sinneswahrnehmungen, also Hören und Sehen, werden als gegeben hingenommen, wenn nicht explizit eine Hör- oder Sehschädigung diagnostiziert wurde. Insbesondere das Thema der „cerebral bedingten Sehbeeinträchtigungen“ - vergleichbar etwa einer Teilleistungsstörung - wird zu wenig berücksichtigt. Das Thema cerebrale Sehschädigungen (CVI), d. h. visuelle Probleme, die auf Schädigungen des visuellen Kortex und Zerebrums zurückzuführen sind, findet in verschiedenen Publikationen Beachtung. Insbesondere das Buch von Hall-Lueck und Dutton, „Vision and the Brain“ (2015), aber auch die Beiträge von Fazzi et al. (2012), Ortibus et al. (2019), Boot et al. (2010), Zihl und Dutton (2015) und Becher et al. (2018) zeigen, dass Pädiatrie und Neuropsychologie das Thema aufgegriffen haben. Das gilt leider nicht für den deutschsprachigen Raum. Hier sind die Publikationen der Münchner Arbeitsgruppe um Zihl (2011, 2012, 2015) die Ausnahme. 2.1 Das Forschungsprojekt ProVisioN Das Projekt an der TU Dortmund (2010 - 2018) ist bisher das einzige Projekt, das bei der Ermittlung visueller Probleme im Kindesalter 1 Leider können hier wegen copyright Problemen keine Abbildungen gezeigt werden. 29 FI 1/ 2021 Wird Sehen übersehen? breiter angelegt ist. Ein Einzelfall stellte uns vor viele bisher nicht beantwortete Fragen. Eine Jugendliche ohne Vorgeschichte, aber mit isolierten Problemen in Mathematik, einer sehr guten Sehschärfe in Ferne und Nähe, zeigte erhebliche Funktionsausfälle bei der Kodierung von Linien, beim visuellen Erkennen abstrakter Formen und Objekte (Walthes et al. 2009; Weigelt et al. 2017). Es gab weder einen ophthalmologischen noch einen neurologischen Befund, aber erhebliche Probleme zum Beispiel bei der Analyse von Tabellen und Grafiken oder im Alltag das Erkennen von Topfgrößen auf Glaskeramikkochfeldern. Zugleich waren komplexere visuelle Funktionen, die in der Literatur häufig als visuell-kognitive Funktionen beschrieben sind, wie z. B. Bildanalyse komplexer Szenen, Gesichtererkennung, Lesen nicht betroffen. Von einer funktionalen (ICF) und pädagogischen Perspektive betrachtet sind nicht die festgestellten Schädigungen alleinige Grundlage für pädagogisches oder therapeutisches Handeln, sondern visuelle Probleme bei verschiedenen Aufgabenstellungen, im Alltag oder im Kindergarten/ Schule. Das Projekt ProVisioN setzt seine Überprüfungen und Untersuchungen daher dort an, wo visuelle Probleme bestehen, diese aber durch eine Sehschädigung des Auges nicht zu erklären sind. Das Ziel des von der Heidehof- Stiftung Stuttgart unterstützten Projektes besteht darin, die Bandbreite visueller Probleme im Kindes- und Jugendalter zu ermitteln, eine umfassende funktionale Überprüfung des Sehens zu entwickeln und Unterstützungsmaßnahmen zu erproben und zu evaluieren. Wie sind die Familien auf das Projekt aufmerksam geworden? Zwar haben sich alle Familien über ein Kontaktformular direkt an uns gewandt, sie sind jedoch auf folgende Weise auf das Projekt aufmerksam geworden: keine Daten Beratungsstellen med./ psych. Fachpersonen med. Fachpersonen Sehen Pädagogik spezialisiert Pädagogik allgemein SPZ Therapeuten Eltern kontaktiert von/ durch n = 232 36,6 % 2,6 % 1,7 % 8,2 % 5,2 % 5,2 % 4,7 % 20,3 % 15,5 % Tab. 2: Studienteilnehmer empfohlen von … 30 FI 1/ 2021 Renate Walthes Wurden zu Beginn der Studie Eltern vor allem über die Einrichtungen der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik (s. Tab. 2 Pädagogik spezialisiert (Sehen)) auf das Projekt aufmerksam, so haben im Verlauf der Studie Anfragen über SPZs und medizinisches Personal zugenommen. Insgesamt haben Familien aus allen Bundesländern, aber auch einigen benachbarten europäischen Ländern an der Studie teilgenommen. Das Untersuchungsdesign dieser explorativen Studie geht über eine direkte funktionale Überprüfung des Sehens hinaus. Folgende Strukturelemente sind für die Ergebnisse besonders relevant. 1) Auswahl der Probanden: Nach einem Erstkontakt über das Kontaktformular von Pro- VisioN erfolgt ein ausführliches und vorstrukturiertes Telefonat (Transkription) mit den Eltern, bei dem orientiert an den vier Funktionsbereichen des Sehens die Beobachtungen der Eltern bezüglich des visuellen Verhaltens ihres Kindes eingeholt werden. Die vier Funktionsbereiche sind: Sehen für Kommunikation, Sehen für Orientierung und Bewegung, Sehen bei alltagsbezogenen Aktivitäten und Sehen bei Aufgaben in der Nähe (Hyvärinen und Jacob 2019, 10 - 12). Außerdem werden die Eltern aufgefordert, ein primäres Anliegen für eine Überprüfung des Sehens zu formulieren. 2) In Anschluss an das Telefonat werden die Eltern gebeten, uns alle Berichte, Gutachten und schriftlichen Diagnosen für eine Analyse zuzusenden, die für die Fragestellung relevant sein könnten. Auf diese Weise gewinnen wir einen guten Überblick über die bisherigen Diagnosen und getroffenen Maßnahmen. Abhängig vom Alter und der Geschichte des Kindes analysieren wir zwischen fünf und vierundvierzig Gutachten und Berichte pro Kind und erstellen eine chronologisch geordnete Analyse nach Aktenlage. 3) Um sicher zu gehen, dass okulare Themen die visuellen Probleme nicht bzw. nicht vollständig erklären, setzen wir einen Augenarztbesuch voraus, der nicht länger als 6 Monate zurückliegen sollte. 4) Orientiert an der Analyse nach Aktenlage und den Fragen der Eltern wird die ausführliche funktionale Überprüfung des Sehens geplant, dann aber mit Rücksicht auf aktuell sich ergebende Themen bzw. die Verfassung des Kindes ggf. modifiziert. Mit Prof. Hyvärinen, einer pädiatrischen Ophthalmologin und Spezialistin für das Sehen im Kindesalter, haben wir eine Batterie von 65 zu überprüfenden Funktionen entwickelt. Je nach Alter des Kindes und Fragestellung werden aus den Bereichen okulomotorische Funktionen, sensorische Funktionen, Funktionen einer frühen visuellen Prozessierung, Funktionen der inferotemporalen sowie parietalen Netzwerke Überprüfungsverfahren genutzt. Eine vollständige Liste der Überprüfungsverfahren (inklusive ICF-Codierung) findet sich unter www.provikit.de 5) Wenn es sich um Leseprobleme handelt oder sich in der funktionalen Sehüberprüfung herausstellt, dass das Abscannen von Texten oder Bildreihen schwierig ist, werden Analysen am Eyetracker (Analyse der Blickbewegungen) hinzugezogen. Auch die aktuelle Brillenversorgung wird berücksichtigt. 6) Die Eltern, nahe Bezugspersonen sowie die Fachleute, die in die Unterstützung des Kindes einbezogen sind, sind eingeladen, die Überprüfung mitzuverfolgen. Diese wird mit einem speziellen Kamerasystem (vier Perspektiven) aufgezeichnet und anschließend im interdisziplinären Team analysiert. Durchgeführt wird die Überprüfung von einer doppelqualifizierten Low-Vision-Spezialistin, Sonderpädagogin/ Orthoptistin. Die Familien erhalten zeitnah einen ausführlichen Bericht mit den Ergebnissen der funktionalen Überprüfung des Sehens und Empfehlungen für erforderliche weitere Maßnahmen, vor allem aber Hilfestellungen zum Umgang mit den visuellen Themen im Alltag. 31 FI 1/ 2021 Wird Sehen übersehen? 7) Nach einem Jahr wird in einem weiteren Interview evaluiert, ob und in welcher Weise Ergebnisse und Empfehlungen nützlich waren und ob weitere Fragestellungen und möglicherweise ein weiterer Besuch erforderlich sind. 8) Alle Daten werden in eine Datenbank eingepflegt und zurzeit analysiert. Eine solche Vorgehensweise ermöglicht einen vertieften Einblick in die Struktur des Umgangs mit kindlichen Strategien und visuellen Problemen, die für die Fachleute bis zu diesem Zeitpunkt nicht eindeutig zuzuordnen waren. 2.2 Funktionale Überprüfung des Sehens Um die Ergebnisse des Projekts besser einschätzen zu können, soll zunächst die Struktur der funktionalen Überprüfung des Sehens erläutert werden. Funktionale Diagnostik des Sehens folgt den Prinzipien „in Bezug auf “ sowie „unter der Bedingung von“. Sie prüft das Bedingungsgefüge, in dem visuelle Strategien gezeigt werden können, Schwierigkeiten bereiten oder nicht gezeigt werden können. D. h. funktionale Diagnostik kann differenziert prüfen, worin die jeweiligen Funktionsbeeinträchtigungen liegen. „In Bezug auf“ bedeutet, für welche Anforderung Sehen genutzt wird. Dies soll an drei Beispielen erläutert werden: Um ein Wimmelbild zu analysieren und bestimmte Elemente darin zu finden, benötigt man andere visuelle Funktionen als für Fußball- oder Handballspiele. In Bezug auf die Analyse eines Wimmelbildes werden z. B. folgende Sehfunktionen benötigt: Nahsehschärfe sowohl mit Einzeloptotypen wie als Reihensehschärfe, weil die Objekte eines Wimmelbildes sehr klein sind und nahe beieinanderliegen. Akkommodation/ Konvergenz, hier die Einstellung des Auges auf Nähe. Kontrastsensitivität, um Linien, Buchstaben, Objekte unterschiedlicher Kontraststufen sehen zu können. Formensehen, hier eher Objekt(wieder)erkennung, und ein zentrales Gesichtsfeld. Um Ballspiele erfolgreich spielen zu können sind hingegen andere visuelle Funktionen gefragt. Eine Nahsehschärfe ist nicht erforderlich, eine gute Sehschärfe für die Ferne hilfreich, Bewegungssehen ist essenziell, ebenso wie räumlich-perzeptive Wahrnehmung, um die räumliche Position eines Gegenstandes bestimmen zu können, Kontrastsensitivität, um einen grauen Ball vor einem blaugrauen Himmel sehen zu können, Auge-Hand-Koordination sowie ein zentrales, vor allem aber auch ein peripheres Gesichtsfeld. Visuelle Kommunikation erfordert vor allem Gesichtererkennung. Dabei sollte man wissen, dass ca. 2 % der Bevölkerung Schwierigkeiten haben, Gesichter zu erkennen bzw. wiederzuerkennen (Dalrymple et al. 2014). Wozu soll ich als Kind Blickkontakt halten und ein soziales Lächeln zeigen, wenn ich selbst nahe Bezugspersonen nicht am Gesicht erkenne? Aber auch Kontrastsensitivität ist erforderlich, um Schatten, Falten und auch Mimik sehen zu können, (Hyvärinen et al. 2014, 145). Akkommodation und Sehschärfe sind ebenfalls wichtige Bedingungen für eine erfolgreiche visuelle Kommunikation. Weniger bekannt ist, dass Bewegungssehen erforderlich ist, um Lippenbewegungen sehen zu können, um nicht durch diese schnellen Bewegungen irritiert zu sein. Diese Beispiele verdeutlichen, dass Sehen eine hoch spezialisierte Aktivität darstellt und dass es für eine adäquate Beurteilung des kindlichen Sehens nicht genügt, die Augen zu inspizieren und die (Fern-)sehschärfe zu testen. Mit Ausnahme des Bewegungssehens, für das nur eher grobe Instrumente zur Verfügung stehen (globale Bewegung, biologische Bewegung), gibt es für die Überprüfung aller anderen Funktionen kindgerechte Testverfahren. Die Vorteile einer funktionalen Überprüfung des Sehens sind ihr Alltagsbezug - es wird beidäugig offen 32 FI 1/ 2021 Renate Walthes geprüft bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen und Umgebungsbedingungen -, die Orientierung an der kindlichen Aktivität sowie die genaue Ermittlung eines Bedingungsgefüges, das zugleich Hinweise für Unterstützung liefert (Breitenbach und Freitag 2019, 103 - 114). 2.3 Sehen wird übersehen - Ergebnisse des Projektes ProVisioN Mehr als 200 Familien aus allen Teilen der Bundesrepublik haben an der explorativen Studie des Projektes ProVisioN teilgenommen (N = 232), das jüngste Kind war zum Zeitpunkt des Erstbesuchs 13 Monate alt, 19,3 Jahre der älteste Teilnehmer (Ø 8,4). 69 % der Kinder waren zum Zeitpunkt der Überprüfung im Kindergarten und Grundschulalter; 63,8 % sind männlich; 36,2 % weiblich. Im Unterschied zu allen bisherigen Studien zu CVI im Kindesalter mit einem hohen Anteil frühgeborener und extrem frühgeborener Kinder (Philip und Dutton 2014; van Genderen et al. 2012) überwiegen in unserer Studie reif geborene Kinder (61 %). Das primäre Anliegen der Eltern bezieht sich vor allem auf den Bereich Sehen in der Nähe (60 %). Je jünger die Kinder sind, desto eher stehen die anderen Fragen (Kommunikation, Orientierung) im Vordergrund. ‚Zwischen Sehen und Nicht-Sehen‘ wird kategorisiert, wenn Eltern sich fragen, ob ihr Kind überhaupt sieht und in manchen Bereichen eher Blindentechniken (Hören, Tasten), in anderen Sehendentechniken (sieht einen kleinen Legostein auf dem Boden liegen) beschreiben (Hogrebe 2019). Bei den älteren Kindern beziehen sich die Fragen vor allem auf das Lesen, die Analyse von Bildern und asthenopische Beschwerden (hier v. a. Kopfschmerzen bei länger andauernden visuellen Aufgaben in der Nähe). Während die Beschreibungen der Eltern alltagsnah und häufig sehr präzise sind, beziehen sich die Gutachten und Berichte der Fachleute auf die Fragestellungen, die diese vor dem Hintergrund ihrer Fachlichkeit beantworten können.  Aufgaben in der Nähe (60 %)  Orientierung und Bewegung (22 %)  Kommunikation und Interaktion (8 %)  Alltagsbezogene Aktivitäten (2 %)  Zwischen Sehen und Nicht-Sehen (8 %) Primäres Anliegen der Eltern n = 232 2,1 % 22 % 8 % 8 % 60 % Tab. 3: Anliegen Eltern an Sehüberprüfung 33 FI 1/ 2021 Wird Sehen übersehen? Ophthalmologische Gutachten haben ihren Schwerpunkt in der Befundung des Auges, der Refraktion und der Sehschärfe. In den Dokumenten, die uns vorliegen, fehlt häufig die Angabe, welche Sehschärfe wie gemessen wurde (Ferne/ Nähe, Einzeloptotypen oder Reihensehschärfetest, Optotype). Die psychologischen Gutachten beziehen sich auf Testergebnisse aus Entwicklungs-, Aufmerksamkeits-, Intelligenztests oder dem Wahrnehmungstest DTVP 2, FEW 2 (Büttner et al. 2008). Wenn die Kinder die Aufgaben nicht durchführen konnten, wurden mögliche zugrunde liegende visuelle Funktionen nicht in die Überlegungen einbezogen, da von der Validität der Testverfahren ausgegangen wird. Um zu verdeutlichen, welche visuellen Probleme selbst bei unauffälligen Sehschärfewerten in Nähe und Ferne auftreten können, sollen hier einige wenige Ergebnisse derjenigen Kinder und Jugendlichen mit einer Sehschärfe > 0.63 bei Kindern bis zum 7. Lebensjahr und 1.0 bei älteren Kindern und Jugendlichen dargestellt werden. Eine Sehschärfe > 0.63 wird zu Beginn der Grundschule als unauffällig angesehen (Weber 2007). Bei regelrechten Sehschärfenwerten (mit benötigter Brillenkorrektur) werden in der augenärztlichen Praxis sehr häufig keine weiteren Sehfunktionen überprüft, selbst wenn Eltern von visuellen Problemen berichten. In unserer Studie konnten je nach Alter der Kinder und deren Antwortmöglichkeiten nicht alle Kinder in allen Funktionen überprüft werden. Daher unterscheiden sich die jeweiligen Grundgesamtheiten. Die Brisanz dieser Tabelle 4 liegt darin, dass die visuellen Funktionen von Kindern mit einem der Norm entsprechenden Visus > 0.63 bzw. 1.0 weder beim Kinderarzt noch in der augenärztlichen Praxis weiter überprüft werden, wenn nicht okulare Auffälligkeiten vorhanden sind. Damit finden mögliche visuelle Funktionsbeeinträchtigungen keine Berücksichtigung und es wird nach anderen Ursachen gesucht. Eine herabgesetzte Akkommodation kann die visuelle Kommunikation beeinträchtigen. Es wird häufig beschrieben, dass Säuglinge quasi durch ihr Gegenüber „hindurchschauen“ und keinen Blickkontakt aufnehmen können. Beruht das Akkommodationsproblem auf einer Weitsichtigkeit, könnte dies leicht mit einer Brille gelöst werden. Häufig werden Eltern allerdings mit dem Satz vertröstet „das wächst sich aus“ und es geschieht nichts, es sei denn, es liegt ein Strabismus vor. Liegt eine Akkommodationsstörung vor, fehlt die Erfahrung der genauen Detailwahrnehmung in der Nähe. Das Bild ist in der Nähe verschwommen. Etwas mag aus der Ferne attraktiv erscheinen und die Kinder wollen es explorieren, verlieren dann aber scheinbar das Interesse, sobald sie es aus der Nähe betrachten wollen. Eindrückliche Beispiele finden sich bei Hyvärinen und Jacob (2019, 20 - 25). Visuelle Funktion Geprüft Visus > 0.63 N Unauffällig % Auffällig % Akkommodation (Nahpunktprüfung) 94 38,3 % 61,7 % Kontrastsensitivität Hiding Heidi, Lea contrast sensitivity charts 94 68,1 % 31,9 % Gratings (Linien) Lea gratings 64 35,9 % 64,1 % Trennsehschärfe/ Crowding 94 60,8 % 39,2 % Tab. 4: Visuelle Funktionen ProVisioN 34 FI 1/ 2021 Renate Walthes Kontrastsensitivität. Um die natürliche Umwelt in ihrer Tiefe und Vielfalt wahrnehmen zu können, ist Kontrastsensitivität unverzichtbar. Objekte haben Schattierungen wie auch Oberflächen. Fehlen diese Kontraste, erscheint alles flach und ununterscheidbar. Ein extremes Beispiel für geringe Kontraste ist eine große Schneefläche im Nebel. Auch für die visuelle Kommunikation ist Kontrastsensitivität enorm wichtig (s. o.). Viele Bilderbücher, aber auch Arbeits- und Testblätter sind mit Pastellfarben gestaltet, die ebenfalls häufig kontrastarm sind, wie z. B. grau vor rosa Hintergrund oder graue Linien und Texte auf Umweltpapier. Wenn Kinder hier Figur-Grund-Schwierigkeiten haben, kann dies auch an der Kontrastsensitivität liegen. Die in der U7 a verwendeten Sehtests sind Tests auf Vollkontrastniveau, es lassen sich deshalb keine Aussagen hinsichtlich der Kontrastsensibilität ableiten. Die Detailexploration ist unmittelbar abhängig von den Kontrastverhältnissen. Wenn eine Sehschärfenmessung mit Optotypen (Prüfzeichen) in geringem Kontrast von 2,5 % weniger als die Hälfte des ermittelten Sehschärfenwertes mit Optotypen in Vollkontrast ergibt, gilt dies als auffällig (Hyvärinen und Jacob 2019, 58). Üblicherweise wird Gittersehschärfe als Diskriminationssehschärfe (> 30 c/ deg) gemessen. In unserer Studie haben wir das Testinstrument (Lea Gratings) für zwei weitere visuelle Funktionen genutzt: für die Analyse der Linienrichtung und die der Qualität der Linien (Stiers et al. 2003). Auffälligkeiten in einem oder mehreren Bereichen hatten 64 % der getesteten Kinder. Dies ist ein Wert, der weitere differenzierte Studien nahelegt. Liniendiskriminierung und Linienkodierung gehören zu den frühen Prozessen der visuellen Informationsverarbeitung, sind elementar für Formanalyse und für das Lesen. Wenn Kinder bei der Überprüfung der Qualität der Linien (mit Brillenkorrektur) äußerten, dass sie verzerrte, unterbrochene oder bewegte Linienmuster wahrnahmen, ergaben sich für uns Hinweise für eine Überprüfung der Brillenkorrektur (Astigmatismus) und eine Gesichtsfeldmessung (zentrales Gesichtsfeld (N = 32). Hier haben wir bei 62,5 % der Kinder zentrale Gesichtsfeldausfälle feststellen können (geprüft mit statischer und kinetischer Perimetrie). Der Zusammenhang zwischen Gittersehschärfe, Qualität der Linien und Gesichtsfeld bedarf dringend weiterer Studien. Bei den Testverfahren zur Optotypensehschärfe (Buchstaben, Zahlen, Symbole, Landolt C) ist der Abstand zwischen den einzelnen Sehzeichen so groß wie das Sehzeichen selbst. Wird dieser Abstand auf 50 % bzw. 25 % verkleinert, erscheinen die Sehzeichen gruppiert und ähneln Wörtern, in denen zum Beispiel das „W“ einen größeren Raum einnimmt als das „I“. Werden bei den Überprüfungen der Reihensehschärfe und der Trennsehschärfe zwei oder Abb. 1: Zeichnung eines Jungen, wie er die Linien (0,5 und 4 cpcm) des Lea-Grating-Tests sieht - hier werden nur Ausschnitte der Gratings gezeigt (vgl. dazu auch Hvärinen und Jacob 2019, 47) Quelle: Walthes 35 FI 1/ 2021 Wird Sehen übersehen? mehr Visusstufen Unterschied festgestellt, spricht man von Crowding (Dekker et al. 2012). Bei Kindern mit Leseschwierigkeiten kann Crowding vorliegen. Selbst wenn nur eine der Funktionen, die hier dargestellt sind, verändert ist, sind die Auswirkungen für die Bewältigung von Aufgaben offensichtlich. Da Kinder mit diesen Sehbedingungen von Anfang an leben und sie Unterschiede nicht kennen, können sie selbst nicht darauf aufmerksam machen. Die Strategien, die sie anwenden, sind hoch interessant, wenn man darauf achtet und sie befragt (Breitenbach und Freitag 2019). Leider werden diese fast ausschließlich als Konzentrations- und Aufmerksamkeitsproblem gesehen oder als Vermeidungsstrategie interpretiert. Da Kinder nur das tun können, wozu sie in der Lage sind, führt das Nicht-Verstehen sehr häufig zu einem Erleben von Nicht-Können, von Anderssein und hat Auswirkungen auf ihr Selbstbewusstsein. Eines der wichtigsten Ergebnisse des Projektes ProVisioN besteht darin, dass Kinder und Jugendliche mit großer Verwunderung feststellten, dass sie trotz der kleinen, größeren und komplexen visuellen Probleme Aufgaben gut lösen können, wenn die entsprechenden Bedingungen gegeben sind. Werden hier Teilfunktionen des Sehens zu wenig berücksichtigt, so ergibt eine funktionale Überprüfung der Kinder im Frühförderalter, bei denen die Eltern die Frage äußern, ob und was ihr Kind sieht, ein anderes Bild. Sie beschreiben dann oft, dass ihr Kind kleine Objekte (z. B. Gummibärchen) auf dem Boden sieht, aber im Bilderbuch nichts erkennen kann. Viel zu wenig bekannt ist der Unterschied zwischen Lokalisierung und (Wieder-)erkennung. Lokalisierendes Sehen, oftmals auch „Wo“ Sehen genannt, bedeutet entdeckendes Sehen: ich sehe „da ist etwas“ und greife danach oder gehe dorthin. Das bedeutet aber nicht, dass ich das ‚etwas‘, das ich sehe, auch erkennen kann. Um einen Gegenstand, eine Form, ein Bild erkennen zu können, sind andere visuelle Prozesse erforderlich als für das lokalisierende Sehen. Die Literatur über das visuelle System unterscheidet hier dorsale Funktionen von ventralen Funktionen (Milner und Goodale 2008). Auge-Hand-Koordination, lokalisierendes Sehen, Orientierung im Raum werden dorsalen Funktionen zugeschrieben. Detailanalyse, erkennendes Sehen, Bildanalyse werden den ventralen Funktionen zugeordnet. Auch wenn die Forschung mittlerweile wesentlich differenziertere Netzwerke identifiziert hat, das Modell der zwei visuellen Systeme (dorsal und ventral)‚ kann erklären, weshalb Menschen nach etwas greifen können, sehen, wo etwas ist, aber rein visuell nicht erkennen können, was es ist. Einige Kinder greifen sehr schnell nach dem Objekt und können dann sofort sagen, um was es sich handelt, weil die taktile Information genügt. Einige Kinder sind auch in der Lage, häufig genutzte Objekte visuell wiederzuerkennen. Trotzdem sind sie eher auf akustische und taktile Informationen angewiesen. Zwar ist es für einige Eltern zunächst einmal erschütternd, wenn wir darauf verweisen, dass im Grunde Blindentechniken die geeignetere Lernform für ihr Kind seien und sie ihr Kind nicht mit visuellen Angeboten überfrachten und überfordern sollten. Da sie während der visuellen Überprüfung mitverfolgen konnten, unter welchen Bedingungen ihr Kind eine Aufgabe lösen konnte, erleichterte dies den Umgang. 3 Zusammenfassung und Relevanz für die Praxis Wie die Ergebnisse unserer Studie zeigen, werden Teilfunktionen des Sehens tatsächlich zu häufig übersehen oder für nicht relevant gehalten. Dabei haben sie erhebliche Auswirkungen auf Entwicklung und Lernen. Zugleich wird, wenn das Kind in einem Bereich visuelle Aktivität zeigt, generalisiert und angenommen, dass es auch in anderen Bereichen sehen könnte. Aus unserer Perspektive wäre Folgendes dringend erforderlich: 36 FI 1/ 2021 Renate Walthes 1) Die Entwicklung von Sehscreening-Verfahren für Kinder 2) Größere repräsentative Studien zu visuellen Funktionen. Auf zwei neue Screeningverfahren kann bereits verwiesen werden: das „Assessment tool for visual perception deficits in cerebral visual impairment“ CVIT 3 - 6 (https: / / psytests.be/ clinicians/ test-centrum/ cvi-t.php) von der Universität Leuven (Vancleef et al. 2020, 2020 a) und ein Sehscreening mit Lea-Testverfahren für das Sehen in der Nähe für Kinder im Vorschulalter www.provikit.de der TU Dortmund. Beide Verfahren können von Fachleuten in der Frühförderung durchgeführt werden. In beiden Fällen stellt sich für die Situation in Deutschland die Frage: „und dann? “ Wohin können Kinder mit Auffälligkeiten im Sehen überwiesen werden? Wer kann umfassend, d. h. sowohl ophthalmologisch wie auch neuropsychologisch und funktional, Überprüfungen vornehmen? Geht es um Hörprobleme, existiert ein ausgebautes System der Pädaudiologie. Vergleichbares, also eine Pädvisiologie, existiert nicht. Die Frühförderstellen für Kinder mit Sehbeeinträchtigungen können eine Anlaufstelle sein, erforderlich wäre ein interdisziplinäres Team mit Fachleuten aus der Pädiatrie, Ophthalmologie, Orthoptik, Neuropsychologie und Fachleuten für die funktionale Überprüfung des Sehens. Einen ersten Versuch stellt das „Sehlotsen-Projekt“ der Entwicklungsneuropsychologischen Ambulanz des Sozialpädiatrischen Zentrums/ Neuropädiatrie in Dortmund dar, das aus der Zusammenarbeit mit dem Projekt ProVisioN entwickelt wurde (Kerkmann 2019). Mit kollegialer Fachberatung, einem Sehkonsil im Rahmen des regulären Assessments und einem Case Management in Kooperation mit beteiligten Ärzten, Therapeut*innen und Frühfördereinrichtungen werden hier wichtige Schritte zur Sensibilisierung für das Sehen unternommen. Weitere Projekte, Forschungen und gesundheitspolitische Bemühungen sind erforderlich, um der Überprüfung des Sehens im Kindesalter den Stellenwert zu verschaffen, den es aus der Perspektive von Fachleuten, aber auch aus der Perspektive der bisher übersehenen Kinder verdient. Prof. Dr. Renate Walthes Mallnitzer Weg 6A 58454 Witten E-Mail: renate.walthes@tu-dortmund.de Literatur Becher, T., Breitenbach, S., Herting, C., Walthes, R. (2018): Sehe ich etwas, was Du nicht siehst? Cerebral bedingte Sehbeeinträchtigungen bei Kindern mit Cerebralparese. Neuropädiatrie in Klinik und Praxis 1, 10 - 15 Boot, F. H., Pel, J. J., van der Steen, J., Evenhuis, H. M. (2010): Cerebral Visual Impairment: Which perceptive visual dysfunctions can be expected in children with brain damage? A systematic review. Research in Developmental Disabilities 31 (6), 1149 - 1159, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.ridd.2010.08.001 Breitenbach, S., Freitag, Chr. 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