Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Kinder mit bislang unentdeckten Sehbeeinträchtigungen in IFF und Sozialpädiatrie
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2021
Verena Kerkmann
Nina Gawehn
Dominik T. Schneider
Seit 2017 ist im Rahmen der deutschlandweit ersten „Seh-Lotsen-Sprechstunde“ (SLS) in einem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) eine patienten- und ressourcenorientierte Vernetzung verschiedener Disziplinen etabliert, um die medizinische Versorgung zu verbessern und die Teilhabechancen bei (bislang unentdeckten) Sehbeeinträchtigungen zu erhöhen (vgl. Kerkmann 2019, Kerkmann et al. 2020). Als interprofessionelle Arbeitsgruppe ist die SLS in der Entwicklungsneuropsychologischen Ambulanz (ENPA) im Westfälischen Kinderzentrum in Dortmund verortet, da hier psychologische Entwicklungsuntersuchungen und Beratungen für Frühgeborene im Vorschulalter angeboten werden. Frühgeborene gelten als Hochrisikogruppe für okular und cerebral bedingte Sehbeeinträchtigungen (vgl. Dutton 2013).
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96 Frühförderung interdisziplinär, 40.-Jg., S.-96 - 102 (2021) DOI 10.2378/ fi2021.art10d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS Kinder mit bislang unentdeckten Sehbeeinträchtigungen in IFF und Sozialpädiatrie Versorgung erweitern und Teilhabechancen erhöhen durch interprofessionelle Zusammenarbeit Verena Kerkmann, Nina Gawehn, Dominik T. Schneider Seit 2017 ist im Rahmen der deutschlandweit ersten „Seh-Lotsen-Sprechstunde“ (SLS) in einem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) eine patienten- und ressourcenorientierte Vernetzung verschiedener Disziplinen etabliert, um die medizinische Versorgung zu verbessern und die Teilhabechancen bei (bislang unentdeckten) Sehbeeinträchtigungen zu erhöhen (vgl. Kerkmann 2019, Kerkmann et al. 2020). Als interprofessionelle Arbeitsgruppe ist die SLS in der Entwicklungsneuropsychologischen Ambulanz (ENPA) im Westfälischen Kinderzentrum in Dortmund verortet, da hier psychologische Entwicklungsuntersuchungen und Beratungen für Frühgeborene im Vorschulalter angeboten werden. Frühgeborene gelten als Hochrisikogruppe für okular und cerebral bedingte Sehbeeinträchtigungen (vgl. Dutton 2013). Neben Frühgeborenen können auch Kinder mit Diagnosen wie Tiefgreifende Entwicklungsstörungen, Lese- und Rechenschwierigkeiten, Hirnschädigung und -erkrankungen sowie Syndromen von Sehbeeinträchtigungen betroffen sein. Bereits nach der Geburt und bis in das späte Schulalter hinein ist entsprechend das kindliche Sehvermögen zu erfassen und im Entwicklungsverlauf zu beobachten. Dies geht aus der S2k-Leitlinie Visuelle Wahrnehmungsstörung hervor, die auf die Vielfalt von Ausprägungsformen okularer und cerebraler Sehbeeinträchtigung abhebt (vgl. AWMF 2017, Kerkmann und Stock-Mühlnickel 2019). Wer die S2k-Leitlinie Visuelle Wahrnehmungsstörung (AWMF 2017) liest, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit herausfordernd erleben, sich in der Vielfalt der professionellen Sichtweisen auf Sehbeeinträchtigung nicht zu verlieren. Sehbeeinträchtigung und Besonderheiten der Visuellen Wahrnehmung wirken als Risikofaktoren, die mit Entwicklungs- und Lernschwierigkeiten einhergehen, diese bedingen und verstärken können. Es gibt jedoch unzählige körperliche, seelische, psychische und soziale Faktoren, welche die Art und Ausprägung von Entwicklungs- und Lernschwierigkeiten von Kindern prägen können. Inwiefern Sehen bzw. die Visuelle Wahrnehmung Einflussfaktoren sein können, variiert von Fall zu Fall (vgl. AWMF 2017). Auf Basis der bisherigen 150 abgeschlossenen Fallberatungen in der SLS können wir zusammenfassen, dass im Kontext Sozialpädiatrie der Brückenbau zu Sehspezialist*innen lohnenswert ist und ein hoher Bedarf an interprofessionellem Austausch, der Weiterentwicklung von Fachwissen und Detektionsstrategien von Sehbeeinträchtigung besteht. Jedoch werden dringend entsprechend ausgebildete Fachkräfte im Kontext Sozialpädiatrie benötigt, die bei der Vielfalt der Übergänge in Diagnostik, Beratung und Unterstützung der Disziplinen wie Kinder- und Jugendmedizin, Augenheilkunde, Orthoptik, Augenoptik, (Neuro-)Psychologie und Ergotherapie den Überblick behalten und die Teilhabe und Lebensqualität der Kinder mit (bislang unentdeckten) Sehbeeinträchtigungen dabei in den Mittelpunkt stellen. 97 FI 2/ 2021 Aus der Praxis Diese Fachkräfte benötigen eine Qualifikation, die es ihnen ermöglicht, Techniken der sehbzw. entwicklungsbezogenen Fachberatung mit Techniken Systemischer Beratung zu kombinieren. In Kongruenz zur Systemischen Haltung gestalten wir die Beratung auf Basis des Auftrags von Familien. Wir werden und bleiben vor, während und nach Übergängen zu KiTa und Grundschule Ansprechpartner*innen für alle Familien und Fachpersonen, die ein Anliegen mit Bezug zum Sehvermögen eines Kindes oder Jugendlichen haben. Im folgenden Beitrag verzichten wir darauf, Studien zu Prävalenz und Inzidenz zu rezipieren, da dies an anderer Stelle umfassend übernommen wird (vgl. Lueck und Dutton 2015, Unterberger 2016, Walthes 2015). Mit dem folgenden Beitrag geben wir einen praxisorientierten Einblick in die Arbeit im Rahmen der Seh-Lotsen-Sprechstunde (SLS). Detaillierte Informationen zum Angebotsspektrum der Seh-Lotsen-Sprechstunde finden sich an anderer Stelle (vgl. Kerkmann 2019, Kerkmann et al. 2020). Wir fokussieren uns auf zwei Fallbeispiele, die in ähnlicher Weise im Kontext der IFF zu finden sein könnten. Anschließend entwickeln wir Impulse, wie Fachkräfte ohne oder mit geringem Vorwissen sich mit Sehspezialist*innen vernetzen, hilfreiche Informationen darlegen und die im Austausch gewonnenen Informationen wiederum sinnvoll in die eigene Frühförderarbeit integrieren können. Kinder mit (bislang) unentdeckten Sehbeeinträchtigungen im Rahmen der Frühförderung? Die folgenden Beispiele beschreiben Kinder 1 , die in unserem Hause im Kontext der IFF behandelt und hieraus der Seh-Lotsen-Sprechstunde 2 zugewiesen wurden. Fallbeispiel 1: Die Korrektur von Brechungsfehlern sichern Felix wurde im Alter von 3; 3 Jahren in der Seh- Lotsen-Sprechstunde vorgestellt. Der Junge weist anamnestisch eine gravierende kombinierte Entwicklungsstörung, eine Epilepsie sowie eine Sprachentwicklungsstörung auf. Der Junge lautiert, er bewegt sich rollend fort. Der Alltag der Familie ist wiederholt von vielen und langen Krankenhausaufenthalten und Therapien geprägt. Um ihn nicht zusätzlich zu belasten, wurde Felix zunächst im Rahmen eines Seh-Konsils in dem, ihm bekannten, Kontext der Physiotherapie im SPZ beobachtet. Die Kollegin hatte die Frage an die Sehlotsin, wie der Junge sieht und welche Unterstützungsmöglichkeiten es geben könnte. Eine augenärztliche Untersuchung war zuletzt bei stationärem Aufenthalt im zweiten Lebensjahr erfolgt. Demnach benötigte Felix keine Brille. Die Physiotherapeutin berichtete jedoch, es wirke häufig, als ob der Junge durch sie hindurchschaue. Die Mutter konnte bestätigen, dass die Reaktion auf ein Lächeln eher verzögert sei. Ob er Augenkontakt aufnehme, sei nicht sicher. Der Junge sei überdies blendempfindlich. Sein Lieblingsspielzeug, einen farbigen Ball, könne er überall entdecken, sich dorthin bewegen und ihn gezielt greifen. Auch farbig auffällige Gegenstände, die Geräusche produzierten, steuere der Junge gezielt an. Nach Beobachtung des Jungen im Rahmen der Physiotherapie wurde leitlinienbasiert eine Vorstellung zur ausführlichen Augenärztlichen Untersuchung in der Augenklinik vorgeschlagen. Das Ergebnis dieser erbrachte u. a. einen blassen Sehnerv, eine längere Fixation sei nicht beobachtbar und es liege eine hohe Kurzsichtigkeit vor (-8/ -7 Dioptrien). Der Junge erhielt daraufhin eine Brille, die er - zur Überraschung aller Beteiligten - umgehend akzeptierte. Die Mutter berichtete, dass Felix unter Tragen der Brille insgesamt wacher und freundlicher wirke und sei- 1 Die Namen der Kinder sind aus Datenschutzgründen geändert. Die Familien sind über die Veröffentlichung informiert und einverstanden. 98 FI 2/ 2021 Aus der Praxis nen Blick länger und ruhiger ausrichten könne. Der Mehrwehrt der Vorstellung im Rahmen der SLS bestand in diesem Fall darin, dass eine Sehbeeinträchtigung aufgedeckt wurde, die bislang unentdeckt geblieben war und die sich mittels einer Brille ausgleichen ließ. Fallbeispiel 2: Der Grundgedanke der ICF ganz konkret: Alltagsverhalten, Ergebnisse der Entwicklungsdiagnostik und augenmedizinische Untersuchungen für mehr Teilhabechancen integrieren Auf Ava sind wir im Vorschulalter durch eine Heilpädagogin im SPZ-Team aufmerksam geworden. Anamnestisch hat es in den ersten Lebensmonaten aufgrund einer Herzerkrankung und damit verbundenen Operationen massive Sauerstoffmangelzustände gegeben. Die psychologische Untersuchung im Alter von fünf Jahren ergab ein heterogenes Intelligenzprofil mit einer individuellen Stärke in den sprachlichen Fähigkeiten sowie verbalen Denkleistungen. Die Integration bisheriger Befunde und Verhaltensbeschreibungen ergab mit Bezug zum Sehen Schwierigkeiten beim Geradeausblick, Ablenkbarkeit beim Bearbeiten von Testaufgaben, Ablenkbarkeit beim Radfahren und mangelndes Gefahrenbewusstsein im Straßenverkehr sowie Schwierigkeiten, Dinge zu finden, die sich unmittelbar vor ihr auf einem Tisch befanden. Eine Augenerkrankung lag anamnestisch nicht vor, auch der Sehschulbefund war unauffällig. Das Mädchen erreichte in den Tests ein volles Stereosehen, eine Brille benötigte sie bei leichter Hyperopie nicht. Allerdings konnte die Orthoptistin eine sehr unruhige Fixation beobachten. Bei der Funktionalen Sehüberprüfung (vgl. Breitenbach und Freitag 2019, Henriksen und Laemers 2016, Hyvärinen und Jacob 2019) im Rahmen der Seh-Lotsen-Sprechstunde fiel auf, dass Ava eine volle bis überdurchschnittliche Sehschärfe bei Einzelzeichen im Leseabstand erreichen konnte. Demgegenüber war die Sehschärfemessung bei gruppierten Sehzeichen im Nahbereich ohne Orientierungshilfen nicht möglich. Augenfolgebewegungen sowie Konvergenzbewegungen der Augen waren nicht beobachtbar. Die Aufmerksamkeitsspanne war bei visuellen Anforderungen insgesamt deutlich verkürzt, bei Aufgaben mit motorischer Komponente zeigte das Mädchen dagegen ein ausdauerndes Spielverhalten. Farben und Abbildungen konnte sie sicher benennen und die Aufmerksamkeitsspanne erhöhte sich je nach Qualität der bildlichen Vorlage. Sie verlängerte sich in Abhängigkeit von n Komplexität (Förderfaktor: Reduktion von Komplexität), n Größe der Bilder (Förderfaktor: Vergrößerung), n Kontrast (Förderfaktor: Kontrastverstärkung). Im Rahmen der SLS begleiteten wir das Mädchen zur Sehschuluntersuchung in die Praxis der behandelnden Augenärzt*innen. Zuvor fand eine telefonische Befundintegration mit der behandelnden Orthoptistin statt, bei der wir ihren Hinweis auf die unruhige Fixation mit unseren Ergebnissen zu Barrieren und Förderfaktoren bei visueller Aktivität verbanden. Vor Ort wurde daraufhin eine Augenbewegungsstörung diagnostiziert und ein Lesestab mit Orientierungshilfe und Vergrößerungseffekt verordnet. Anschließend integrierten wir die Untersuchungsergebnisse aus der Beratung in der SLS mit denen des innerhäusigen psychologischen Fachbereichs. Wir gehen aktuell davon aus, dass das Mädchen aufgrund einer Kombination aus Auffälligkeiten im Bereich der Aufmerksamkeit, der Augenmotorik und der Visuellen Wahrnehmung dauerhaft eine Unterstützung beim Lernen in der Schule sowie Hilfen zur Orientierung und Bewegung, z. B. im Straßenverkehr, benötigen wird. Das Mädchen wird aktuell mit Förderschwerpunkt Sehen und körperlich-motorische Entwicklung in einer Grundschule inklusiv beschult. 99 FI 2/ 2021 Aus der Praxis Der Mehrwert der Beratung in der Seh-Lotsen- Sprechstunde liegt in diesem Fall aus unserer Sicht in dem präventiven Charakter, indem das Sehvermögen des Mädchens bereits vorzeitig in den Blick genommen wurde und ihre Sehbeeinträchtigungen somit entsprechend kein Grund für etwaige zukünftig auftretende Herausforderung beim Lernen und der Teilhabe am Unterricht sein dürften. Sich in Genauigkeit zu üben hilft beim interprofessionellen Austausch und der Nutzung von Leitlinien Sehen differenziert zu betrachten und sich in Konkretisierung zu üben, kann für den Austausch im Netzwerk hilfreich sein, um Fachperspektiven herauszuarbeiten und im Hinblick auf notwendige Maßnahmen in Diagnostik, Therapie und Unterstützung zu ergänzen. Gerade im Gespräch zwischen eher naturwissenschaftlich und eher geisteswissenschaftlich orientierten Disziplinen kann es mitunter zu Spannungen kommen. Das Beispiel von Ava zeigt, wie wertvoll die Integration beider Perspektiven sein kann, um zu verstehen, mit welchen Herausforderungen sich das Mädchen konfrontiert sieht. Um sich z. B. als Pädagog*in auf einen Austausch mit Ärzt*innen oder Psycholog*innen vorzubereiten, kann es zunächst hilfreich sein, sich grundsätzlich von einer dichotomen Herangehensweise im Sinne von „sieht“ oder „sieht nicht“ zu verabschieden. Stattdessen kann ein Blick auf die jeweilige Anforderung konkretisierend und brückenbauend wirken (vgl. Freitag et al. 2013). Denn je nach Art und Ausprägung einer Sehbeeinträchtigung kann es sein, dass ein Kind z. B. gern Bilder betrachtet und gleichzeitig massive Probleme aufweist, sich zu orientieren - und umgekehrt (vgl. Kerkmann et al. 2020, Hyvärinen und Jacob 2019, Zihl und Dutton 2015). Um im Kontext der IFF das Visuelle Verhalten gezielt zu beschreiben, bewährt sich in unserer Praxis zum Einstieg die Einteilung insbesondere in die trennscharfen Aktivitätsbereiche: n Sehen für Kommunikation und Interaktion n Sehen für Nahaufgaben n Sehen für Orientierung und Bewegung (vgl. Hyvärinen und Jacob 2019). Sich an diesen Alltagsbereichen zu orientieren und Fragen in Anlehnung an die SMART 3 -Regel zu formulieren kann helfen, eigene Beobachtungen und Fragen an das Netzwerk zu konkretisieren. So kann sich eine eher „schwammige“, globale Frage „Wie sieht das Kind? “ in einem ersten Schritt z. B. zu „Kann das Kind sein Sehen einsetzen, um zu kommunizieren? “ oder noch genauer „Richtet das Kind im Abstand von 2 Metern seine beiden Augen auf die des Gegenübers aus solange er spricht? “ wandeln. Bei der letzten Art eine Frage zu formulieren, dürften sämtliche Professionen Anknüpfungspunkte finden. Sie lädt zum Gespräch über Bedingungen und Herangehensweisen in Untersuchungen ein. Bei der Sehschärfeprüfung in der Augenarztpraxis etwa wird häufig die Sehschärfe in 3 Metern Distanz und unter Trennung des beidäugigen Sehens untersucht. Steht die Frage im Raum, warum ein Kind im Alltag keine Bilder betrachten mag, dann geht es jedoch um eine beidäugige visuelle Tätigkeit in der Distanz im Nahraum. So könnte die Frage lauten: „Kann das Kind beide Augen gleichzeitig und über fünf Minuten auf ein visuelles Angebot im Abstand von ca. 30 cm ausrichten? “, „Wie scharf sieht es, wenn es im Abstand von 30 cm mit beiden Augen offen ein Bild betrachtet? “ 2 Die Einrichtung der Seh-Lotsen-Sprechstunde in der Entwicklungsneuropsychologischen Ambulanz (ENPA) im Sozialpädiatrischen Zentrum Dortmund wurde ermöglicht durch die Förderung der Co-Autorin Dr. Verena Kerkmann im Rahmen des NRW-Landesprogramms „Karrierewege FH-Professur“ des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft sowie der Kooperation KlinikumDO gGmbH und der Hochschule für Gesundheit (hsg) in Bochum. 3 spezifisch, messbar, akzeptiert, realistisch und terminiert. 100 FI 2/ 2021 Aus der Praxis Die Fragen konstituieren sich aus beobachtbaren (Augenausrichtung), messbzw. variierbaren (Abstand, Zeit) und auf einzelne Sehfunktionen (Sehschärfe) bezogene Elemente. Bei Felix war es hilfreich, die Leitlinie Nr. 3 „Augenärztliche Basisdiagnostik bei Kindern vom beginnenden 3. bis zum vollendeten 6. Lebensjahr“ (BVA 2011) zu kennen, aus der hervorgeht, dass Felix auch im 3. Lebensjahr umfassend augenärztlich untersucht werden sollte. Zusätzlich gehört der Junge in Anlehnung an die LL Visuelle Wahrnehmungsstörungen mit seinen Vorerkrankungen und Beeinträchtigungen zur Risikogruppe für neurologisch bedingte Sehbeeinträchtigungen. Schließlich war auch praktisches Erfahrungswissen zur (Un-)Möglichkeit von sehbezogenen Untersuchungen bei komplexen Beeinträchtigungen hilfreich. Seine mangelnde Compliance erschwert eine eingehende Untersuchung der Augengesundheit. Unsere Erfahrung zeigt, dass die niedergelassenen Augenärzt*innen Kinder mit komplexen Beeinträchtigungen in Augenkliniken überweisen, da die Orthoptistinnen dort etwas mehr Zeit haben dürften und vielfältige Erfahrungen in der Untersuchung von kleinen Patient*innen mit besonderen Bedürfnissen haben. Wie Fachkräfte im Kontext IFF wertvolle Netzwerkpartner*innen werden Um zunächst aus Sicht der Frühförderung näher zu bestimmen, in welchem Alltagsbereich eine Sehbeeinträchtigung die Teilhabe negativ und/ oder positiv beeinflussen kann, kann es hilfreich sein, den Bezugspersonen entsprechend Fragen zu stellen. Es gibt qualitative Fragebögen, die bei einer ersten Bestandsaufnahme helfen können (z. B. Lueck und Dutton 2015). Eine theoretische Zusammenführung der Fragekategorien von Dutton mit den Aktivitätsbereichen von Hyvärinen und Jacob (2019) existiert u. W. bislang nicht. Ist ein Aktivitätsbereich im Alltag priorisiert, können gezielte Beobachtungen erfolgen. Mit Blick auf die Komponenten des bio-psycho-sozialen Modells der ICF-CY kann insbesondere die Perspektive auf die „Umweltfaktoren“ insofern weiterführen, als Fachpersonen in IFF die Sehbedingungen von Kindern beobachten und ihren wertvollen Beitrag im Netzwerk leisten können. Sie können die visuellen Angebote reflektieren und genau beschreiben, welche Attribute als Förderfaktoren oder Barrieren in Bezug auf Neugier und Ausdauer des Kindes wirken. In Anlehnung an das bio-psycho-soziale Modell der ICF-CY (WHO 2011) können alle sichtbaren und veränderbaren Komponenten betrachtet werden. Indem Fachkräfte in IFF ihre Spielmaterialien (Bereich: Nahaufgaben), ihr Make-up und ihre Kleidung (Bereich: Visuelle Kommunikation) und die visuelle Qualität der dinglichen Umgebung wie Türen, Treppenstufen und Möbel (Bereich: Orientierung und Bewegung) im Hinblick auf Farbenreichtum, Kontrast, Größe, Entfernung, Beleuchtung und Bewegung hin prüfen und mit eben solchen und weiteren Faktoren variieren, lässt sich mit wenig Aufwand konkret beobachten, ob sich das visuelle Interesse des Kindes, die Ausdauer und die Art und Dauer der Ausrichtung der Augen verändern lässt (vgl. Choy et al. 2020). Fazit Dem bio-psycho-sozialen Modell der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2011) folgend sind Beiträge der Familie, des Kindes und aller Fachpersonen im Netzwerk hilfreich und gleichwertig, um Kinder mit bislang unentdeckten Sehbeeinträchtigungen zu identifizieren und zu fördern. Die Beobachtungen aus dem Alltag bzw. zu förderlichen und eher hinderlichen Faktoren für visuelle Neugier und die Exploration von Kindern stehen der Bedeutung einer sorgfältigen augenärztlichen Untersuchung nicht nach. Sie können, im Gegenteil, dazu führen, dass Sehspezialist*innen Hinweise erhalten und auf dieser Basis weiterführende Untersuchungen planen. Hierzu ist ein vertrauensvoller und offener Umgang im Netzwerk förderlich. 101 FI 2/ 2021 Aus der Praxis Es gibt ein großes Spektrum von Sehbeeinträchtigungen, die sich auf Kommunikation, Orientierung und Nahaufgaben auswirken können. Die Sehbedingungen eines Kindes können Entwicklungsmotor oder eine -bremse sein. Fachkräfte der IFF müssen in Betracht ziehen, dass jedes Kind, das dort gefördert wird, auch eine Sehbeeinträchtigung aufweisen könnte, die möglicherweise bislang nicht erkannt wurde. Je konkreter die Hinweise auf visuelle Förderfaktoren und Barrieren sind, desto hilfreicher. Über eine erfolgreiche Vernetzung mit Sehspezialist*innen hinaus, können die im Rahmen der IFF identifizierten und modifizierten Kontextfaktoren dann unmittelbar zum Entwicklungsmotor im Rahmen der Förderung werden. Zukünftig weiten wir den Transfer von Praxis, Lehre und Forschung aus und nutzen Synergien bestehender Kooperationen. Neben der Verstetigung des Angebots SLS im SPZ ist die Evaluation ein wichtiger Schritt hin zum NRW- und deutschlandweiten, flächendeckenden Ausbau von Seh-Lotsen-Sprechstunden. Dr. Verena Kerkmann Prof. Dr. Nina Gawehn Hochschule für Gesundheit Department für Angewandte Gesundheitswissenschaften Gesundheitscampus 6 - 8 44801 Bochum E-Mail: Verena.Kerkmann@hs-gesundheit.de Prof. Dr. Dominik T. Schneider Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Beurhausstr. 40 44137 Dortmund Literatur Arbeitsgemeinschaft Medizinischer und Wissenschaftlicher Fachgesellschaften (AWMF): S2k Leitlinien Visuelle Wahrnehmungsstörungen (2017). In: https: / / www.awmf.org/ uploads/ tx_szleitlinien/ 022-020l_S2k_Visuelle-Wahrnehmungsstoerungen_ 2017-12.pdf, 28. 5. 2020 Berufsverband der Augenärzte Deutschlands e.V. (BVA), Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft e.V. (DOG) (2011): Leitlinie Nr. 3. Augenärztliche Basisdiagnostik bei Kindern vom beginnenden 3. bis zum vollendeten 6. Lebensjahr. In: https: / / www.dog.org/ wp-content/ uploads/ 2009/ 09/ leitlinie-Nr.-3-Augen% C3%A4rztliche-Basisdiagnostik-bei-Kindern.pdf, 28. 5. 2020 Breitenbach, S., Freitag, C. (2019): „Kannst du mir verraten, wie du das gemacht hast? “ Die Befragung visueller Strategien im Rahmen der funktionalen Sehüberprüfung. In: Drolshagen, B., Schnurnberger, M. (Hrsg): Sehen in Kontexten. Perspektiven auf Wahrnehmung, Sehbeeinträchtigung und Blindheit. Festschrift für Renate Walthes. Würzburg, Edition Bentheim, 103 - 114 Choy, D., Fuchs, J., Kerkmann, V., Postert, C. (2020): Schlüsselfaktor Umwelt. Kinder mit besonderen visuellen Wahrnehmungsbedingungen Betätigung ermöglichen. Ergotherapie und Rehabilitation 59, 14 - 18 Dutton, G. (2013): The spectrum of cerebral visual impairment as a sequel to premature birth: an overview. Documenta Ophthalmologica 127, 69 - 78, https: / / doi.org/ 10.1007/ s10633-013-9382-1 Freitag, C., Petz, V., Walthes, R. (2013): Gemeinsam sehen wir weiter… Eine Adaption des Visuellen Profils für frühpädagogische Berufe. Frühförderung Interdisziplinär 32, 150 - 159, https: / / doi.org/ 10.2378/ fi2013. art09d Henriksen, A., Laemers, F. (2016): Funktionales Sehen. Diagnostik und Intervention bei Beeinträchtigungen des Sehens. Edition Bentheim, Würzburg Hyvärinen, L., Jacob, N. (2019): What and How does this child see? 2. Auflage. Visitest Ltd., Helsinki Kerkmann, N., Gawehn, N., Schneider, D. T. (2020): Ergotherapeuten sind wichtige Netzwerkpartner. Die Seh-Lotsen-Sprechstunde. Ergotherapie und Rehabilitation 59 (1), 14 - 17 Kerkmann, V., Stock-Mühlnickel, S. (2019): Kindern und Jugendlichen Handlungsfähigkeit ermöglichen. S2k Leitlinie „Visuelle Wahrnehmungsstörung“ als Fundgrube für Ergotherapeuten. Ergotherapie und Rehabilitation 58, 18 - 22 Kerkmann, V. (2019): Die Seh-Lotsen-Sprechstunde. Neue Strategien interdisziplinärer Zusammenarbeit bei Sehbeeinträchtigung von Kindern im Kontext der Sozialpädiatrie. In: Drolshagen, B., Schnurnberger, M. (Hrsg): Sehen in Kontexten. Perspektiven auf Wahrnehmung, Sehbeeinträchtigung und Blindheit. Festschrift für Prof. Dr. Renate Walthes. Würzburg, Edition Bentheim 102 FI 2/ 2021 Aus der Praxis Lueck, A. H., Dutton, G. N. (2015): Vision and the Brain. Understanding Cerebral Visual Impairment in Children. AFB Press, New York Unterberger, L. (2016): Kindliche zerebrale Sehstörungen. Utz Verlag, München Weltgesundheitsorganisation (WHO) (2011): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen (ICF-CY ). Übersetzt und herausgegeben von Judith Hollenweger und Olaf Kraus de Camargo unter Mitarbeit des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI). Hans Huber Verlag, Berlin, https: / / doi.org/ 10.1016/ b978-3-437-31630-2.00016-4 Walthes, R. (2015): Cerebral bedingte Sehbeeinträchtigungen im Kindesalter. Projekt „ProVisioN“ zur funktionalen Überprüfung des Sehens. Der Augenspiegel. Zeitschrift für Klinik und Praxis, Heft Juli/ August, 36 - 38, In: https: / / www.pro-vision-dortmund.de/ sites/ default/ files/ DER AUGENSPIEGEL_8_15_Walthes.pdf, 28. 5. 2020 Zihl, J., Dutton, G. (2015): Cerebral Visual Impairment in Children. Visuoperceptive and Visuocognitive Disorders. Springer Verlag, Wien, https: / / doi.org/ 10.10 07/ 978-3-7091-1815-3 Beate Galm / Katja Hees / Heinz Kindler Kindesvernachlässigung - verstehen, erkennen, helfen 2. Auflage 2016. 171 Seiten. Innenteil zweifarbig. (978-3-497-02611-1) kt Wie kommt es zu Vernachlässigung? Wie schätzt man als Fachkraft die Gefahr für das Kind richtig ein? Unter welchen Folgen leiden die Kinder bei Vernachlässigung - oft ein Leben lang? Wie schauen die Familien aus, in denen vernachlässigte Kinder leben? Wie geht man mit den oft hochbelasteten Familien um? Welche frühen Hilfen bieten sich an? Die AutorInnen geben Antworten auf all diese Fragen und vermitteln anhand von Fallbeispielen einen Eindruck, wie sich Vernachlässigung in der Praxis zeigt. Risiken erkennen a www.reinhardt-verlag.de
