Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Originalarbeit: Einschätzung inklusiver Praxis in Kindertagesstätten mit dem Inclusive Classroom Profile
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2021
Tobias Bernasconi
Stefanie K. Sachse
Sally Kröger
Trotz der aktuell großen Diversität der deutschsprachigen Inklusionsdiskussion und der Existenz unterschiedlicher Zielperspektiven besteht in den Einrichtungen der frühen Bildung die Notwendigkeit, inklusive Prozesse zu gestalten und zu analysieren. Das Inclusive Classroom Profile (ICP) von Elena Soukakou ist ein Beobachtungsbogen, der die Möglichkeit bietet, die inklusive Praxis in Kindertagesstätten zu analysieren und weiterzuentwickeln. Im vorliegenden Beitrag werden ausgewählte Aspekte inklusiver Praxis betrachtet und anschließend skizziert, wie in Gruppen und Einrichtungen die Entwicklung zu einer inklusiven Praxis mit dem ICP gestaltet werden kann. Abschließend werden erste Erfahrungen mit der deutschen Übersetzung des ICP dargestellt.
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Frühförderung interdisziplinär, 40.-Jg., S.-134 - 142 (2021) DOI 10.2378/ fi2021.art13d © Ernst Reinhardt Verlag 134 Einschätzung inklusiver Praxis in Kindertagesstätten mit dem Inclusive Classroom Profile Tobias Bernasconi, Stefanie K. Sachse, Sally Kröger Zusammenfassung: Trotz der aktuell großen Diversität der deutschsprachigen Inklusionsdiskussion und der Existenz unterschiedlicher Zielperspektiven besteht in den Einrichtungen der frühen Bildung die Notwendigkeit, inklusive Prozesse zu gestalten und zu analysieren. Das Inclusive Classroom Profile (ICP) von Elena Soukakou ist ein Beobachtungsbogen, der die Möglichkeit bietet, die inklusive Praxis in Kindertagesstätten zu analysieren und weiterzuentwickeln. Im vorliegenden Beitrag werden ausgewählte Aspekte inklusiver Praxis betrachtet und anschließend skizziert, wie in Gruppen und Einrichtungen die Entwicklung zu einer inklusiven Praxis mit dem ICP gestaltet werden kann. Abschließend werden erste Erfahrungen mit der deutschen Übersetzung des ICP dargestellt. Schlüsselwörter: Inklusion, inklusive Praxis, frühe Bildung, Individualisierung, Operationalisierung Analyzing and Refining Inclusive Practice in Preschool Classrooms. Applications of the Inclusive Classroom Profile Summary: Despite the current diversity in the German-speaking scientific discussion and the existence of different ideas and perspectives on inclusion, there is a need to guide and analyze inclusive processes in early education institutions. Here, the translated Inclusive Classroom Profile (ICP) by Elena Soukakou provides a structured observation tool to assess and support the implementation of inclusive practices in kindergarten and preschool classrooms. This paper presents some perspectives on inclusive practices and shows how the ICP can be used to support changes in inclusive preschool classrooms. Keywords: Inclusion, inclusive practice, early childhood education, individualization, observation ORIGINALARBEIT Einleitung D ie Gestaltung einer inklusiven Praxis in Kindertageseinrichtungen ist durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (United Nations 2006) von einem anzustrebenden Ziel zu einem konkreten Auftrag von deutschen Bildungseinrichtungen geworden. Kindertageseinrichtungen sind aufgefordert, sich so zu entwickeln, dass „Teilhabebarrieren beseitigt werden und jedes Kind wohnortnah betreut und individuell gefördert werden kann“ (Schelle und Friedrich 2015, 67). Im Kontext der Transformation hin zu einer inklusiven Praxis werden unterschiedliche Ziele verfolgt, z. B. das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung, die vorbehaltlose Anerkennung von Heterogenität oder die Implementierung inklusiver Praktiken (Grosche 2015, Prengel 2014). Eine Schwierigkeit besteht jedoch darin, die Qualität und die Umsetzung von ‚Inklusion‘ empirisch zu erfassen oder alltagspraktisch zu überprüfen. Entsprechend existieren nur wenige empirische Analysen zur Entwicklung einer inklusiven Praxis im Elementarbereich für den deutschsprachigen Bereich (z. B. Dilk und Dupuis 2011), was auch daran liegt, dass hier bisher noch keine geeigneten Instrumente zur Messung und Beurteilung inklusiver Praxis existieren (Schelle und Friedrich 2015). Für den englischsprachigen Raum hat Soukakou (2012) das Inclusive Classroom Profile (ICP) 135 FI 3/ 2021 Einschätzung inklusiver Praxis in Kindertagesstätten mit dem ICP entwickelt, welches im vorliegenden Beitrag genauer vorgestellt wird. Das ICP ist ein Beobachtungsbogen, der sowohl zur empirischen Einschätzung inklusiver Praxis in Kitagruppen, zur professionellen Reflexion der eigenen Praxis, aber auch als Kompetenzraster zur Beschreibung inklusionsförderlicher Verhaltensweisen von Fachkräften verwendet werden kann. Inklusive Praxis - Zielstellung und Umsetzung In der deutschsprachigen Diskussion rund um den Begriff ‚Inklusion‘ existiert eine Vielzahl verschiedener Konzepte, Ideen und Definitionen, welche versuchen, Inklusion zu beschreiben (Grosche 2015, Göransson und Nilholm 2014, Hinz 2013). Dabei werden beispielsweise Einstellungen und Haltungen, rechtliche Rahmenbedingungen, die Gestaltung von strukturellen Gegebenheiten in Bildungseinrichtungen oder die Notwendigkeit gesamtgesellschaftlicher Veränderungen fokussiert (Grosche 2015, Hinz 2013, Schlee 2012). Teilweise wird dabei die Aufmerksamkeit ausschließlich auf das Merkmal ‚Behinderung‘ ausgerichtet, ohne andere Differenzlinien (z. B. Geschlecht, kultureller Hintergrund etc.) zu bedenken. Diesem ‚engen‘ Inklusionsbegriff steht ein sog. ‚weiter‘ Inklusionsbegriff (z. B. Lindmeier 2017) gegenüber, der möglichst alle Heterogenitätsdimensionen miteinschließt und entsprechend fragt, in welcher Art und Weise Aspekte wie z. B. Geschlecht, soziale und kulturelle Zugehörigkeit etc. eine Rolle mit Blick auf die Teilhabe an unterschiedlichen sozialen Systemen spielen (u. a. Prengel 2016, DJI/ WiFF 2013, Sulzer und Wagner 2011). In der Praxis wird Inklusion - teilweise unter erheblichem Handlungsdruck - trotz der Existenz der unterschiedlichen theoretischen Linien bereits umgesetzt, indem Kontexte gestaltet werden, die dann als ‚inklusiv‘ deklariert werden, ohne die Dimensionen des Begriffes oder unterschiedliche Sichtweisen zu reflektieren und zu diskutieren (Bernasconi et al. 2017). Inklusive Praxis ist demnach abhängig von den jeweiligen Akteuren, deren Vorstellungen und Verständnis von Inklusion. Vor diesem Hintergrund stehen Bildungseinrichtungen im Elementarbereich aktuell vor der praktischen Aufgabe, inklusive Praxis umzusetzen und auszugestalten. Dabei kann folgendes Problem entstehen: Unterschiedliche Vorstellungen von Inklusion werden nicht explizit thematisiert und aufgelöst. Somit ergibt sich die paradoxe Situation, dass Inklusion realisiert werden soll, ohne dass eindeutig geklärt ist, welcher Zustand genau angestrebt wird und wie die Umsetzung in den verschiedenen Kontexten und Institutionen aussehen soll. Entsprechend stellt sich die Frage, wie diese Widersprüche pragmatisch behandelt werden können. Göransson und Nilholm merken dazu an: „we maintain that the operative definition - whatever that might be in the given context - ought to be clear“ (2014, S. 276). Hier soll dazu festgehalten werden: (1) Inklusive Praxis ist kein zu erreichender finaler Zustand, sondern muss immer wieder neu und kontextuell gestaltet werden. (2) Dabei können und sollten bestimmte Aspekte einer Analyse unterzogen werden, um die bisherige (inklusive) Praxis kritisch zu reflektieren und weiter zu entwickeln. (3) Im Fokus steht dabei das jeweilige Kind und die jeweilige Teilhabesituation. (4) Folglich liegt der Fokus inklusiver Kitapraxis insbesondere auf dem Prinzip der Individualisierung, welches als handlungsleitend verstanden wird. Für die Einrichtungen entsteht bei der Umsetzung inklusiver Praxis nun die Notwendigkeit, das eigene Handeln und die umgesetzten Schritte zu überprüfen. Zu diesem Zweck wurden in der Vergangenheit bereits einzelne unterstützende Instrumente entwickelt, wie z. B. der Index für Inklusion (Booth und Ainscow 2017) oder der Index für Inklusion in Kindertageseinrichtungen (GEW 2017, Booth et al. 2006). 136 FI 3/ 2021 Tobias Bernasconi, Stefanie K. Sachse, Sally Kröger Beide Instrumente richten sich an MitarbeiterInnen, Eltern, Angehörige, Träger sowie Akteure im Gemeinwesen, mit dem Ziel, Einrichtungen in ihrer Weiterentwicklung im Hinblick auf Inklusion zu unterstützen (GEW 2017). Dazu werden verschiedene Indikatoren beschrieben und Fragen formuliert, deren Beantwortung und Reflexion die Auseinandersetzung mit den eigenen Zielstellungen und mit der eigenen Praxis ermöglicht. Die Instrumente geben entsprechend wichtige Hinweise zur Veränderung der Praxis in Einrichtungen, sie bieten aber nicht immer konkrete und beobachtbare Merkmale an, die eine Einschätzung und Operationalisierung des aktuellen ‚Ist-Standes‘ inklusiver Praxis ermöglichen. Zwar werden Indikatoren häufig als Instrument für gelungene Inklusion genutzt, um beispielsweise soziale Gegebenheiten und Entwicklungen zu beschreiben - Einschätzungen über die Qualität tatsächlicher Realisierungen von inklusiver Praxis werden jedoch nur bedingt ermöglicht (Weber 2016). Bewertungsinstrumente, wie die Kindergartenskala 1 (KES-R, Tietze et al. 2018) oder der nationale Kriterienkatalog für pädagogische Qualität in Tageseinrichtungen (Tietze et al. 2003) können als Erhebungsinstrumente im Kontext von Inklusion ebenfalls nur bedingt herangezogen werden, da diese immer nur einzelne Kriterien inklusiver Aspekte beinhalten (Schelle und Friederich 2015). Schelle und Friederich verweisen bereits 2015 auf das Messinstrument Inclusive Classroom Profile (ICP) von Elena Soukakou (2012), das in Anlehnung an die Early Childhood Environment Rating Scale (ECERS-R) (Harms et al. 2005) entwickelt wurde und ein Beobachtungsinstrument zur Beschreibung und Einschätzung inklusiver Praxis in Kitagruppen (2 - 5 Jahre) darstellt (Soukakou 2016). Das ICP operationalisiert inklusive Praxis durch zu beobachtende Merkmale, welche als Indikatoren kurz und konkret bezüglich unterschiedlicher übergreifender Themen beschrieben werden. Entsprechend wird mit einem operativen Inklusionsverständnis gearbeitet, welches zwar nicht jeden Aspekt der theoretischen Diskussion aufgreifen kann, aber mit Fokus auf Individualisierung (Soukakou 2016) eine handlungspraktische Analyse und einen empirisch-forschenden Zugang ermöglicht. Zur Entwicklung des ICP Das Inclusive Classroom Profile wurde von Elena Soukakou in Großbritannien entwickelt. Mit der Entwicklung des ICP verfolgte die Autorin das Ziel, Hinweise aus der Forschung und Empfehlungen zur Umsetzung inklusiver Praxis so zu operationalisieren, dass diese sowohl bei der Beschreibung aktueller Praxis, bei der Identifikation von Veränderungspotenzial als auch in der Forschung verwendet werden können (Soukakou 2016). Ausgangspunkt der Entwicklung war auch hier die oben angesprochene paradoxe Situation, dass zwar ein gewisser Konsens über die Erfordernisse inklusiver Praxis besteht, gleichzeitig aber immer wieder Schwierigkeiten entstehen, wenn Einrichtungen bzw. Fachkräfte diese konkret umsetzen und in den Einrichtungen implementieren möchten. Das ICP versteht sich hier als Orientierungshilfe, die nicht nur übergreifende Dimensionen und prozessbegleitende Fragen, sondern operationalisierte Beschreibungen inklusiver Praxis aufzeigen möchte. Das ICP wurde in fünf Phasen entwickelt (Soukakou 2016): 1. Literaturreview zu Richtlinien und Qualitätsmerkmalen inklusiver Konzepte und zu Empfehlungen im Kontext „Früher Kindheit“ (u. a. Empfehlungen der gemeinsamen Stellungnahme der Division for Early Childhood und der National Association for the Education of Young Children, beide USA 2009); Analyse von Studien zu verschiedenen Aspekten inklusiver Praxis im Kontext ‚Früher Kindheit‘ mit Fokus auf die Wirksamkeit von speziellen Vermittlungsstrategien (z. B. National Professional Development Center on Inclusion 2011, Buysse und Hollingsworth 2009, Odom 137 FI 3/ 2021 Einschätzung inklusiver Praxis in Kindertagesstätten mit dem ICP et al. 2004). Eingeschlossene Themen waren u. a. die Adaption des Umfelds, Vermittlungsstrategien und Unterstützungsformen, Assistive Technologien, Beziehungen zwischen den Erwachsenen und Kindern sowie zwischen den Peers, alltagsintegrierte Interventionen, Diagnostik und Entwicklungsdokumentation, Zusammenarbeit mit den Familien sowie Einstellungen und Kompetenzen der Fachkräfte (Soukakou 2016). 2. Beschreibung der Merkmale inklusiver Praxis mit Fokus auf Individualisierung in Form von übergreifenden Themen (im ICP ‚Items‘ genannt). Die Beschreibung orientiert sich an bedeutungsvollen Zielen, die in Bildungs- und Förderprogrammen für Kinder mit und ohne Behinderung ausdifferenziert werden, wie z. B. das aktive Eingebundensein (engagement) der Kinder in Aktivitäten und Routinen, die Fähigkeiten der Kinder in verschiedenen Entwicklungsbereichen, die Selbstständigkeit der Kinder, die Entwicklung positiver, längerfristiger Beziehungen mit Erwachsenen und Peers, das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gruppe, die Einbindung der Familien (Soukakou 2016). 3. Operationalisierung der beschriebenen Items durch Entwicklung von Indikatoren und Kriterien, die eine reliable Einschätzung durch Beobachtung, Interview und Dokumenteneinsicht gewährleisten sollen. Ordnung der Kriterien, sodass eine graduelle Steigerung der Qualität, z. B. verstanden als Ausmaß der individuellen Eingebundenheit in einer sozialen Situation, abgebildet werden kann. 4. Einholen von Experteneinschätzungen von fünf ReviewerInnen aus unterschiedlichen Fachrichtungen zur Bewertung der beschriebenen Items sowie zum Inhalt, Struktur, Einsatz des ICP. 5. Durchführung von Pilotstudien zur Einschätzung der psychometrischen Eigenschaften des ICP in Großbritannien und in den USA: die ,United Kingdom Pilot Study‘ mit 45 inklusiv arbeitenden Gruppen (preschool classrooms) mit 112 Kindern zwischen 30 und 72 Monaten und die ‚North Carolina Pilot Study‘ mit 51 inklusiven Einrichtungen (Soukakou 2012, 2016, Soukakou et al. 2014). Aufbau und Einsatz des ICP Das ICP besteht aus einem Manual (Soukakou 2016) und einem Beobachtungsbogen (‚Research Version‘, Soukakou 2009). Der Beobachtungsbogen deckt insgesamt 12 aus der beschriebenen Analyse extrahierte ‚Items‘ ab, die als Themen im Kontext inklusiver, frühpädagogischer Praxis als besonders wichtig erachtet werden: Item 1 - Anpassung von Raum, Material und Ausstattung beschreibt, wie die Umgebung so an die Bedürfnisse der Kinder angepasst wird, dass diese in ihrer Selbstständigkeit unterstützt werden; Item 2 - Beteiligung der Erwachsenen an den Interaktionen der Kinder beschreibt, wie die Erwachsenen die Kinder so bei sozialen Erfahrungen unterstützen, dass die Kinder dauerhafte Beziehungen zu ihren Peers entwickeln können; Item 3 - Steuerung der Erwachsenen während frei gewählter Aktivitäten/ des Freispiels beschreibt, wie die Erwachsenen die Kinder sowohl bei individuellen und sozialen Aktivitäten als auch im Spiel so unterstützen, dass sich alle Kinder aktiv beteiligen können; Item 4 - Konfliktlösung beschreibt, wie die Erwachsenen die Kinder bei der Lösung von Konflikten unterstützen und inwiefern Strategien zur Prävention anhaltender Peer-Konflikte genutzt werden; Item 5 - Zugehörigkeit beschreibt, wie Chancengleichheit bei der Übernahme von Rollen und Verantwortung besteht und welche Strategien genutzt werden, um ein Zugehörigkeitsgefühl zu schaffen; Item 6 - Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern beschreibt, wie die Erwachsenen mit den Kindern in einen wechselseitigen und anhaltenden sozialen Austausch treten; 138 FI 3/ 2021 Tobias Bernasconi, Stefanie K. Sachse, Sally Kröger Item 7 - Unterstützung der Kommunikation beschreibt, wie die Erwachsenen Hilfestellung leisten und die kommunikativen Fähigkeiten der Kinder fördern; Item 8 - Anpassung von Gruppenaktivitäten beschreibt, wie Gruppenaktivitäten so angepasst werden, dass sich alle Kinder aktiv beteiligen können und dass sie bei Bedarf adäquate Unterstützung erhalten; Item 9 - Übergänge zwischen Aktivitäten beschreibt, wie Strategien und Maßnahmen umgesetzt werden, um die Übergänge zwischen Aktivitäten reibungslos zu gestalten und die Kinder mit Schwierigkeiten bei den Übergängen zu unterstützen; Item 10 - Feedback beschreibt, wie und wie häufig die Kinder Rückmeldungen zu positivem Verhalten, Bemühungen, ihrem Lernen sowie ihrer Entwicklung erhalten; Item 11 - Professionelle Elternarbeit beschreibt, wie die Elternarbeit hinsichtlich implementierter Richtlinien und Vorgaben realisiert wird; Item 12 - Beobachtung des Lernens der Kinder beschreibt, wie vorgegangen wird, um die Lernfortschritte der Kinder in Bezug auf ihre individuellen Ziele zu erfassen (Soukakou 2016, dt. 2019). Für die qualitativen Abstufungen der jeweiligen Items wird mit einer siebenstufigen Skala gerechnet; es werden jedoch pro Item nur auf 4 Stufen Merkmale beschrieben (s. Abb. 1). Diese Merkmale werden als Indikatoren bezeichnet und setzen z. B. an der individuellen Situation eines Kindes in der Praxis an oder fokussieren konkrete Handlungsweisen der Fachkräfte. Zu den einzelnen Items werden 9 - 12 Indikatoren angeboten; insgesamt umfasst das ICP 135 Indikatoren. Die meisten Indikatoren werden im Rahmen einer Beobachtung mit Ja, Nein und z. T. keine Angabe (KA) bewertet. Die Abb. 1 zeigt einen Ausschnitt aus der Skala zu Item 8 ‚Anpassung von Gruppenaktivitäten‘. Abb. 1: Auszug aus der ICP-Skala zu Item 8: Anpassungen von Gruppenaktivitäten (Soukakou 2009/ dt. 2019) 139 FI 3/ 2021 Einschätzung inklusiver Praxis in Kindertagesstätten mit dem ICP Hinweise zur Bewertung und Abgrenzung einzelner Indikatoren werden als ‚Bewertungskriterien‘ genauer erläutert (s. Abb. 2). Ergänzend zur Beobachtung (empfohlen wird eine Beobachtungszeit von 2,5 - 3 Stunden, Soukakou 2016) wird auch ein Interview durchgeführt und es wird an einzelnen Stellen um Dokumenteneinsicht gebeten (z. B. ob es schriftliche Vorgaben oder Richtlinien für die Elternarbeit gibt, Item 11, Soukakou 2009/ dt. 2019). Trotz der eher geringen Beobachtungszeit muss angemerkt werden, dass für eine Anwendung eine intensive Einarbeitung in das Verfahren notwendig ist. Auch der Umgang mit dem Rating kann in diesem Zusammenhang als zeitliche und inhaltlich-komplexe Herausforderung angesehen werden. Zusätzlich zu den 12 Doppelseiten mit den Items und Bewertungskriterien werden im Bogen Namen, Daten und die Situation erfasst, in der die Beobachtung durchgeführt wurde; am Ende existiert eine Kopie der Interviewfragen aus den einzelnen Items und Indikatoren, sodass diese vor oder nach der Beobachtung zusammenhängend gestellt werden können. Den Abschluss des Materials bildet ein Auswertungsbogen zum Eintragen der Werte der einzelnen Items sowie zur Berechnung eines Gesamtscores (mögliche Werte zwischen 1 und 7, Soukakou 2016). Dieser Score ermöglicht eine Einschätzung darüber, inwieweit in einer inklusiven Gruppe jedem Kind ein Zugang zu Lernangeboten und die Teilnahme an Gruppenaktivitäten ermöglicht wird (Soukakou 2012). Ein besonderer Fokus liegt hier auf dem aktiven Eingebundensein (engagement, Soukakou 2016). Das Inclusive Classroom Profile wurde 2019 im Rahmen des LINK-Projektes 2 (BMBF-Projekt im Rahmen des Metavorhabens „Qualifizierung des pädagogischen Fachpersonals für inklusive Bildung“) ins Deutsche übertragen. Dabei wurde der Titel geringfügig modifiziert, da die Abb. 2: Auszug aus den Bewertungskriterien zum ICP-Item 8: Anpassungen von Gruppenaktivitäten (Soukakou 2009/ dt. 2019). Gekürzte Ausführungen zu den Indikatoren 5.1. und 7.1. mit Hervorhebungen zur qualitativen und quantitativen Abstufung 140 FI 3/ 2021 Tobias Bernasconi, Stefanie K. Sachse, Sally Kröger wörtliche Übersetzung ‚Inklusives Klassenzimmer-Profil‘ falsche Assoziationen mit Blick auf die Einsetzbarkeit im schulischen Kontext hervorgerufen hätte. ‚Classrooms‘ meint im englischen Sprachraum aber explizit auch Kindertageseinrichtungen. Um eine zu große begriffliche Entfernung vom Original zu vermeiden, wurde deshalb mit dem Verlag der Titel ‚Inclusive Classroom Profile, deutsche Kindergartenversion‘ vereinbart. Im LINK-Projekt wird das ICP eingesetzt, um inklusive Praxis in Kindertagesstätten zu beobachten und einzuschätzen. Erste Erfahrungen zeigen, dass das Rating über Beobachtungen im Rahmen einer externen Evaluation als auch der Selbstreflexion mithilfe der ICP-Skalen, trotz einer Auswahl an 12 Items, ein komplexes Verfahren darstellt und gleichermaßen gewisse Vertrautheit mit dem Instrument sowie Beobachterkompetenzen voraussetzt. Als besonders hilfreich schätzen insbesondere Fachkräfte die konkreten Beispiele der ICP-Skalen und Bewertungskriterien ein. Dabei werden insbesondere die Items herausgestellt, die Aspekte wie Feedback, Konfliktlösung oder Zugehörigkeit betreffen. Während den Fachkräften die Bedeutung dieser Aspekte durchaus bewusst ist, sind die konkreten Beispiele hier die erforderliche Hilfestellung, um diese inklusiven Praktiken auch realisieren zu können. Einschätzung des ICP Das ICP ermöglicht es, verschiedene, klar benannte und beschriebene Merkmale inklusiver Praxis auf der Grundlage von systematischen Beobachtungen und Befragungen einzuschätzen. Der Beobachtungsbogen ist im Rahmen von Forschung zur Analyse und Evaluation inklusiver Praxis einsetzbar; kann aber auch zur Evaluation der eigenen Praxis durch pädagogische Fachkräfte verwendet werden. Darüber hinaus kann der Bogen als Gesprächsgrundlage und für Aus- und Weiterbildungszwecke dienen, da die vielen Beispiele zeigen, wie inklusives Arbeiten in der Praxis ausgestaltet werden kann. Im Fokus steht das Prinzip der Individualisierung. Auch wenn der Blick konzeptionell vordringlich auf Kindern mit Behinderung liegt, werden viele Items und Indikatoren so beschrieben, dass jedes Kind einer Gruppe hinsichtlich seiner Möglichkeiten zur Teilhabe und aktivem Einbezogensein beobachtet werden kann. Dieser Fokus auf alle Kinder ist insbesondere für die Elementarpädagogik sehr relevant, da Kinder hier nicht immer eine diagnostizierte Beeinträchtigung haben, jedoch vielfach präventive und individualisierte Entwicklungsförderung geleistet werden kann, wenn eine strukturierte Analyse von Ein- und Ausschlussprozessen erfolgt. Die Beschreibung der Merkmale ‚täglicher inklusiver Praxis‘ und der Möglichkeiten zur Analyse des Entwicklungsbedarfs aller Kinder in Kindertageseinrichtungen kann hier ein strukturiertes Vorgehen unterstützen. Durch den einmaligen Einsatz des ICP kann ein IST-Stand entsprechend konkret beschrieben und besprochen werden; denkbar ist aber auch der Einsatz vor und nach bestimmten Interventionen oder Veränderungsprozessen, wenn sich eine Einrichtung z. B. mit dem Index für Inklusion in Kindertageseinrichtungen als Orientierungshilfe als inklusive Einrichtung etablieren möchte. Bedeutung für die Praxis Inklusive Praxis bedarf der ständigen Reflexion des Handelns der Fachkräfte und der Rahmenbedingungen in den Einrichtungen der Elementarpädagogik. Das ICP kann hier eine wichtige Orientierungshilfe bieten, weil verschiedene Verhaltensweisen und Merkmale inklusiver Praxis konkret beschrieben sind. Beobachtung, Reflexion, Anleitung und Einschätzung inklusiver Prozesse werden so maßgeblich erleichtert - auch, weil im ICP 12 Items in den Fokus 141 FI 3/ 2021 Einschätzung inklusiver Praxis in Kindertagesstätten mit dem ICP genommen werden und somit eine relativ überschaubare Anzahl an Kriterien und Merkmalen beschrieben sind. Obwohl in der englischsprachigen Originalversion der Fokus auf „children with disabilities“ (Soukakou 2016, 1) liegt, so kann das ICP grundsätzlich für alle Kinder einer Gruppe verwendet werden, da im Zentrum der Analyse das einzelne Kind steht, dessen Möglichkeiten zur Teilhabe am Gruppengeschehen sowie mögliche Unterstützungsmaßnahmen im Sinne individueller Adaptionen beobachtet und beurteilt werden. Anmerkungen 1 Englischsprachiges Original: Early Childhood Environment Rating Scale (ECERS-R) 2 LINK-Projekt: Förderung von Literacy, Inklusion und Kommunikation; Finanzierung: Bundesministerium für Bildung und Forschung; https: / / www.fbz-uk.unikoeln.de/ projekte/ link Hinweis: Anfragen zur Nutzung der deutschen ICP-Version, zu Lizenzgebühren etc. sind an rights@brookespublishing.com zu richten. Prof. Dr. Tobias Bernasconi Pädagogische Hochschule Heidelberg Keplerstraße 87 69120 Heidelberg E-Mail: bernasconi@ph-heidelberg.de Dr. Stefanie K. Sachse Sally Kröger Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Pädagogik für Menschen mit Beeinträchtigungen der körperlichen und motorischen Entwicklung Habsburgerring 1 50467 Köln E-Mail: stefanie.sachse@uni-koeln.de s.kroeger@uni-koeln.de Literatur Bernasconi, T., Böing, U., Goll, H., Wagner, M. (2017): Inklusion und Exklusion von Schülerinnen und Schülern mit schwerer Behinderung. Behinderte Menschen 40, 41 - 47 Booth, T., Ainscow, M. (2017): Index für Inklusion. Beltz, Weinheim Booth, T., Ainscow, M., Kingston, D. (2006): Index für Inklusion. Tageseinrichtungen für Kinder. Lernen, Partizipation und Spiel in der inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW ), Frankfurt am Main Buysse, V., Hollingsworth, H. L. (2009): Research synthesis points on early childhood inclusion: What every practitioner and all families should know. Young Exceptional Children 11, 18 - 30 Deutsches Jugendinstitut e.V. 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