eJournals Frühförderung interdisziplinär 40/4

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Originalarbeit: Umfrage zum Kenntnisstand in verschiedenen Arbeitsfeldern über Traumata bei Kleinkindern und deren Familien

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2021
Giulietta von Salis
Patricia Lannen
Heidi Simoni
Wenn Kinder in der hochsensiblen Entwicklungsphase der frühen Kindheit schwierigen Lebensereignissen oder -umständen ausgesetzt sind und nicht entsprechende familiäre und/oder fachliche Unterstützung erhalten, kann dies schwerwiegende Folgen auf ihre Entwicklung und Gesundheit haben. Um zu untersuchen, was es brauchen würde, um Kleinkinder und ihre Familien bei Anzeichen einer Traumafolgestörung besser identifizieren und unterstützen zu können, wurde eine Umfrage zur aktuellen Versorgungssituation und Bedarfsanalyse durchgeführt. Dafür wurden 18 Fachpersonen interviewt, neun im Kanton Zürich tätige Fachpersonen und neun national und international tätige ExpertInnen. Die Resultate der Interviews und die Folgerungen daraus werden in diesem Artikel dargelegt.
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175 Frühförderung interdisziplinär, 40.-Jg., S.-175 - 186 (2021) DOI 10.2378/ fi2021.art16d © Ernst Reinhardt Verlag Umfrage zum Kenntnisstand in verschiedenen Arbeitsfeldern über Traumata bei Kleinkindern und deren Familien Giulietta von Salis, Patricia Lannen, Heidi Simoni Zusammenfassung: Wenn Kinder in der hochsensiblen Entwicklungsphase der frühen Kindheit schwierigen Lebensereignissen oder -umständen ausgesetzt sind und nicht entsprechende familiäre und/ oder fachliche Unterstützung erhalten, kann dies schwerwiegende Folgen auf ihre Entwicklung und Gesundheit haben. Um zu untersuchen, was es brauchen würde, um Kleinkinder und ihre Familien bei Anzeichen einer Traumafolgestörung besser identifizieren und unterstützen zu können, wurde eine Umfrage zur aktuellen Versorgungssituation und Bedarfsanalyse durchgeführt. Dafür wurden 18 Fachpersonen interviewt, neun im Kanton Zürich tätige Fachpersonen und neun national und international tätige ExpertInnen. Die Resultate der Interviews und die Folgerungen daraus werden in diesem Artikel dargelegt. Schlüsselwörter: Trauma/ PTSD bei Kleinkindern, Identifikation von traumabetroffenen Familien, therapeutische Versorgung von traumabetroffenen Familien What knowledge about trauma in young children and their families is available in different fields of work? A survey. Summary: Exposure to adverse experiences during the highly sensitive period of early childhood without adequate support from the family and/ or professionals can seriously impact children‘s development and health. In order to find out what may be needed to better identify and treat young children and families who show signs of traumatic stress disorder, a survey was conducted in order to shed light on existing services and analyze needs as perceived by the field. 18 professionals were interviewed, nine professionals in the canton of Zürich and nine Swiss and international experts. The results of the interviews and corresponding conclusions are presented in this article. Keywords: Trauma/ PTSD in young children, identification of traumatized families, specialized treatment of PTSD in young children and their families ORIGINALARBEIT Ausgangslage W enn Kinder schwierigen Lebensereignissen und -umständen ausgesetzt sind, kann dies schwerwiegende Folgen auf ihre weitere Entwicklung haben und ihre Rechte auf Schutz, Förderung und Teilhabe verletzen. Es ist empirisch gut belegt und entspricht der Erfahrung, dass fehlendes Erkennen und Behandeln von Traumata in der frühen Kindheit einen erheblichen negativen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Kindes haben können (Saunders und Adams 2014, Van der Kolk 2005, De Young und Landolt 2018). Nebst persönlichem Leiden können traumatische Erlebnisse in der Kindheit vermehrte Gesundheitsprobleme oder sogar einen verfrühten Tod verursachen. Dies geht mit großen gesellschaftlichen Herausforderungen einher und verursacht insbesondere hohe Kosten für das Gesundheitswesen (Huebner et al. 2016, Felitti 1998, Habetha 2012). 176 FI 4/ 2021 Die Auswirkungen von chronischem Stress und von akuten oder anhaltenden traumatisierenden Erfahrungen sind während der entwicklungspsychologisch und neurologisch hochsensiblen frühen Kindheit besonders prägend. Chronischer Stress in dieser Phase kann die Biochemie des Gehirns permanent beeinflussen (Shonkoff und Phillips 2000). Frühkindliche Entwicklung vollzieht sich wesentlich im Austausch mit Bezugspersonen und wird von der Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen stark beeinflusst. Kleine Kinder sind angewiesen auf Bezugspersonen, die psychisch ausreichend gesund sind und adäquat auf ihre Äußerungen und Bedürfnisse eingehen können (Dawson et al. 2003). Junge Kinder können traumatisiert, d. h. in ihrer psychischen Verarbeitung überfordert werden, durch ein einmaliges oder durch mehrere Ereignisse, die nicht primär mit der Beziehungsqualität zwischen ihnen und ihren Bezugspersonen zusammenhängen. Sie können aber auch durch Merkmale ebendieser nahen Beziehungen traumatisiert werden. So haben Kinder von traumatisierten oder anderweitig psychisch kranken Eltern ein erhöhtes Risiko, in der Eltern-Kind-Beziehung ungünstigen Erlebnissen ausgesetzt oder nicht ausreichend vor belastenden Erfahrungen geschützt bzw. bei deren Verarbeitung unterstützt zu werden. Viele Studien haben gezeigt, dass kindliche und elterliche Symptome als Folge von traumatischen Erlebnissen korrelieren (Scheeringa und Zeanah 2001, Yehuda et al. 2001). Die transgenerationalen Übertragungsmechanismen von Traumata werden intensiv beforscht (Schechter und Rusconi 2014). Das Erkennen von chronischem Stress und Traumata sowie der Umgang damit erfordern in der frühen Kindheit eine transgenerationale und relationale Herangehensweise: „There is no such thing as a baby…“ (Winnicott 1975). Dies bedeutet auch, dass Fachpersonen, die mit jungen Kindern oder mit deren Eltern im Kontakt sind, sich passend zu ihren Aufgaben mit der Thematik beschäftigen sollten. Diese Erkenntnisse sind in allen Arbeitsfeldern und Angeboten der frühen Kindheit hoch relevant, sei es, weil sich genau dort Möglichkeiten der Früherkennung von Auffälligkeiten ergeben, weil bestimmte heilsame Erfahrungen möglich sind oder weil Brücken zu Abklärung und Therapie geschlagen werden können. In familienergänzenden Betreuungseinrichtungen oder in Spielgruppen können die Symptome anhaltender hoher Belastung oder sogar einer eventuellen Traumatisierung falsch, z. B. als Hyperaktivität oder als oppositionelles Verhalten verstanden werden. Derartige Fehlinterpretationen können zu unpassenden, retraumatisierenden erzieherischen Haltungen und Handlungen führen (Van der Kolk 2005). Ebenso fatal können in Kontexten wie der Mütter- und Väterberatung oder der kinderärztlichen Praxis das Übersehen oder verfehlte Einschätzen von Anzeichen traumatisierender Beziehungsdynamiken sein. Im deutschsprachigen Raum sind uns keine Studien bekannt, die erforschen, wie das schon verbreitete Wissen zu Traumata in der frühen Kindheit in verschiedenen Arbeitsfeldern umgesetzt wird. In den USA hingegen gibt es schon einige Untersuchungen dazu. Als Beispiel kann die Studie von Loomis und Felt (Loomis und Felt 2021) genannt werden, in der die Umsetzung in Vorschulsettings von formalem Wissen zu Traumata und die Möglichkeit, dieses Wissen und die Praxis zu reflektieren, untersucht wird. Aktuelle Studie In dieser explorativen Studie ging es darum, anhand von einigen Interviews mit Fachpersonen aus verschiedenen Arbeitsfeldern zu beleuchten, ob sie mit traumatisierten Kleinkindern in Kontakt kommen und wie sie diese Giulietta von Salis, Patricia Lannen, Heidi Simoni 177 FI 4/ 2021 Kenntnisstand über Traumata bei Kleinkindern erkennen, d. h. auf welche Anzeichen sie dabei besonders achten. Die Fachpersonen wurden weiter darüber befragt, ob sie selber traumapädagogische Instrumente kennen und einsetzen und inwiefern sie mit auf Diagnose und Behandlung von Traumata in der frühen Kindheit spezialisierten TherapeutInnen vernetzt sind. Ferner ging es in der Studie darum, von TraumaexpertInnen zu erfahren, wie sie die Versorgung betroffener Kleinkinder und Familien einschätzen. Diese Umfrage sollte also zu einer Klärung beitragen, was es brauchen würde, um Kleinkinder und ihre Familien bei Anzeichen einer Traumafolgestörung besser identifizieren und unterstützen zu können. Vorgehen Im Rahmen dieser Studie führte eine Psychologin (die Erstautorin dieses Beitrags) von Mai bis September 2019 insgesamt 18 Interviews. Die Gespräche wurden entweder persönlich oder telefonisch als leitfadengestützte, halbstrukturierte Interviews durchgeführt. Die Leitfäden wurden in Anlehnung an Helfferich (Helfferich 2014) erstellt und in Anlehnung an Mayring (Mayring 2007) inhaltsanalytisch ausgewertet. Befragt wurden neun Fachpersonen der Grundversorgung im Kanton Zürich: vier Kita-Leiterinnen, zwei Mütter- und Väterberaterinnen, die Leiterin der Pflege eines städtischen Spitals, eine Fachperson eines Kinderheims und ein Mitglied einer Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde. Sie wurden so ausgewählt, dass eine gewisse Vielfalt an Arbeitsfeldern der betreuerischen und beratenden oder medizinischen Grundversorgung sowie VertreterInnen des Kindesschutzes interviewt wurden. Folgende Fragen wurden ihnen gestellt: 1. Begegnen Ihnen Kinder (unter 4 Jahren), bei denen Sie traumatische Erlebnisse vermuten? Woran können Sie dies merken oder wie erfahren Sie davon? Wie würden Sie Traumata bei jungen Kindern definieren? Wie sieht es mit traumatischen Belastungen von Eltern/ Betreuungspersonen von Kindern aus? Wie erkennen Sie das? Wie viele Kinder schätzen Sie in ihrem Arbeitskontext als von einem Trauma betroffen ein? Wie viele Betreuungspersonen/ Eltern? 2. Wie gehen Sie vor, wenn Sie vermuten, dass ein Kind traumatisiert ist? Und wie, wenn Sie bei seinen Eltern eine Traumatisierung wahrnehmen? Ist Trauma ein Thema in Ihrem Team? Haben Sie und Ihr Team Weiterbildungen dazu besucht? Benutzen Sie Leitfäden/ Werkzeuge/ Konzepte zur Identifizierung von traumatisierten Kindern und Familien? 3. Welche Hilfestellungen/ Vorgehensweisen/ Instrumente zur Identifizierung im Falle von traumatisierten Kindern und Familien kennen Sie? Braucht es neue? 4. Wie gehen Sie im pädagogischen Alltag oder in Ihrer Beratung damit um, wenn eine Traumatisierung festgestellt wurde? 5. Wie stellen Sie fest, dass eine zusätzliche spezialisierte Unterstützung notwendig ist? Wie läuft eine eventuelle Triage? Arbeiten Sie regelmäßig mit TherapeutInnen oder spezialisierten Stellen? 6. Welche Initiativen zur Identifizierung im Falle von traumatisierten Kindern und Familien kennen Sie? (Eigene, fremde? ) 7. Welche Initiativen zur Intervention im Falle von traumatisierten Kindern und Familien kennen Sie? (eigene, fremde? ) 8. Haben Sie Empfehlungen, mit wem ich sonst noch reden sollte? Zudem wurden neun schweizerisch und international tätige KlinikerInnen und ExpertInnen interviewt: fünf Professoren mit klinischer und Forschungstätigkeit im Bereich der Kinderpsy- 178 FI 4/ 2021 chiatrie und Traumapädagogik, eine Projektleiterin des Schweizerischen Roten Kreuz, eine Traumapädagogin und zwei klinisch tätige Therapeutinnen. Ihnen wurden diese Fragen gestellt: 1. Kennen Sie Prävalenzstudien zur Frage, wie viele Kinder in der allgemeinen Bevölkerung von einem Trauma betroffen sind? Wie viele Eltern von Kleinkindern? Spezifische Prävalenzstudien (MigrantInnen, platzierte Kinder …)? 2. Gibt es in der frühkindlichen Versorgung und/ oder Elternberatungsstellen einen ungedeckten Bedarf an Trauma-Identifikation und -Intervention? 3. Gibt es Initiativen zur besseren Identifizierung von traumatisierten Kleinkindern und Familien? 4. Welche Instrumente zur Identifizierung von traumatisierten Kindern und Familien gibt es? Braucht es neue? 5. Welche Interventionsmethoden gibt es in der frühkindlichen Versorgung, um mit traumatisierten Kindern und deren Familien umzugehen? 6. Wie triagieren Fachpersonen traumabetroffene Familien? Welche therapeutischen Möglichkeiten gibt es? Stellen, Therapiemethoden, Netzwerke? 7. Haben Sie Empfehlungen, mit wem ich sonst noch reden sollte? Hinweise auf Initiativen im englischen Sprachraum? Alle Befragten wurden um Einschätzungen zu ihrer eigenen Arbeit wie zu anderen Arbeitsbereichen gebeten. Resultate Wahrnehmung traumabelasteter Kleinkinder und Familien in verschiedenen Arbeitsfeldern Die neun befragten Fachpersonen der Grundversorgung hatten sehr unterschiedliche Einschätzungen zum Vorkommen von traumabetroffenen Familien mit Kleinkindern in ihren Arbeitsfeldern. Eine Kitaleiterin berichtete, dass sie gar nicht damit konfrontiert sei, drei schätzten bis zu 20 % betroffene Kinder und Familien. Die befragten Personen brachten Traumata bei Kleinkindern häufig mit Migrationssituationen in Verbindung. Die Fachperson eines Kinderheims berichtete, dass in ihrer sowie anderen stationären Einrichtungen, die sich an hochbelastete Bevölkerungsgruppen richten, traumabetroffene Familien ein großer Teil der Zielgruppe ausmachten. Grundsätzlich seien hier die Fachpersonen gut informiert. Auch für Spitäler und Kinderschutzbehörde (KESB), so berichteten die zwei Fachpersonen aus diesen Arbeitsfeldern, seien es oft potenziell traumatische Lebensereignisse, welche die Familien mit ihnen in Kontakt bringen würden. Die befragten Personen sagten, dass auch andere Berufsgruppen gute Kenntnisse über Traumatisierungen in der frühen Kindheit bräuchten. Genannt wurden: Kinderärzte, Rechtsanwälte, die Erwachsenenpsychiatrie, die Polizei, Hebammen und Pflegepersonal. Ein Experte wies darauf hin, dass in Genf große Anstrengungen unternommen werden, diese verschiedenen Berufsgruppen auf Traumata aufmerksam zu machen. Bei häuslicher Gewalt gebe es auch an verschiedenen Orten schon eine gute Vernetzung zwischen Polizei und KESB. Sieben der neun in der Grundversorgung tätigen Personen wiesen darauf hin, dass sie kein spezialisiertes Wissen zu Traumata hätten. Keine von ihnen erachteten es als ihre Aufgabe oder in ihrer Kompetenz, gesicherte Diagnosen zu stellen. Ihre Rolle sei es hingegen, Anzeichen von untypischem Verhalten zu erkennen und zu verstehen. In gewissen Fällen erhielten sie Informationen über eine Familie, die traumatische Erlebnisse vermuten ließen. Die verschie- Giulietta von Salis, Patricia Lannen, Heidi Simoni 179 FI 4/ 2021 denen Äußerungen der Befragten zur Diagnose „Traumafolgestörung“ lassen auf ein grundsätzliches Verständnis und gewisse Kenntnis schließen. Hier zwei Zitate, welche dies illustrieren: n „Traumata sind Ereignisse, Verletzungen, Übergriffe körperlicher oder psychischer Natur, die die Kinder nicht verarbeiten können. Sie tauchen je nach dem wieder auf in Form von Flashbacks, Trigger. Aber vielfältige Symptome, das ist das Schwierige am Ganzen.“ (KESB Behördenmitglied) n „Ein Trauma ist für mich etwas, das einen belastet, das im Unterbewusstsein fest arbeitet, wovon man träumt, das eine Schwere gibt im Leben, das einem den Blick für das Schöne nimmt, fürs Positive im Leben, das einen immer wieder einholt. Etwas, das Spuren hinterlässt. Es braucht nur etwas, und zack, ist es wieder hier, ein Triggerpunkt. Das ist ein Trauma, das einen plötzlich lähmen kann.“ (Kita Leiterin) Wie werden Traumafolgen bei Kleinkindern erkannt? Keine der Fachpersonen der Grundversorgung gaben an, Instrumente zur Identifikation von Traumata zu benützen. In der Mütter- und Väterberatung jedoch werde mit einem Ampelsystem zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung gearbeitet. Alle Fachpersonen schilderten, wie sie bei Verdachtssituationen Befinden und Verhalten der Kinder sowie die Eltern- Kind-Interaktion beobachten, Elterngespräche führen, sich mit anderen Fachpersonen oder Behörden vernetzen und sich darauf konzentrieren, das Familiensystem zu stützen und zu stärken. Teamarbeit und -supervision wurden als wichtige Arbeitsinstrumente genannt, um beunruhigende Beobachtungen zu besprechen und Handlungsbedarf zu bestimmen. Die Fachpersonen nannten auch Risikofaktoren, welche sie auf mögliche Traumatisierungen aufmerksam machen, so Flucht und Migration, Unfälle oder Krankheiten, eine schwierige Geburt oder Vorgeschichte der betreffenden Schwangerschaft, Trennungen des Kindes von den Eltern, schwierige soziale Verhältnisse, Arbeitslosigkeit, Konflikte, Suchtverhalten oder psychische Krankheiten der Eltern. Zwei der neun befragten ExpertInnen betonten, dass betroffene Familien manchmal nur schlecht erreicht würden. Es brauche daher aufsuchende Arbeit oder Angebote an den Orten, die Familien sowieso besuchen, wie zum Beispiel die Kinderarztpraxis oder die Kita. Geflüchtete Familien würden meist durch alle Maschen fallen. Die befragten ExpertInnen nannten verschiedene Entwicklungen und Herausforderungen bei der Diagnostik von Traumata bei jungen Kindern. Zwei machten auf die laufende Debatte um die Definition von Trauma und Traumafolgestörungen (PTSD) im Kleinkindalter aufmerksam. Die Diagnose von PTSD bei Kindern existiere erst seit 2013 im DSM-V, sei aber für 0 - 3-jährige Kinder nicht valide. Ein Experte sagte: „Das Wissen, wie sich Traumafolgestörungen bei Kleinkindern zeigen, ist sicher schlechter als bei älteren Kindern. Die ganz jungen Kinder reagieren häufig breit.“ Die befragten ExpertInnen nannten einige schweizerische und internationale (vor allem deutsche und US-amerikanische) Initiativen zur Identifikation von traumatisierten Kindern und Kleinkindern, nämlich spezialisierte Weiterbildungen, staatliche, kantonale oder städtische Programme, Beratungsstellen, Kinderschutzgruppen, Schulpsychologische Dienste für Kinder ab dem Schulalter, Webseiten und Angebote von Vereinen. Genannt wurden zudem verschiedene diagnostische Instrumente, sowohl solche für PsychologInnen oder PsychiaterInnen als auch Fragebögen für Eltern oder SozialarbeiterInnen. Als besonders geeignetes Tool, um komplexen Traumastörungen gerecht Kenntnisstand über Traumata bei Kleinkindern 180 FI 4/ 2021 zu werden, wurde der Katalog von Van der Kolk zu „Developmental Trauma Disorder“ (Van der Kolk 2005) hervorgehoben. Welche traumapädagogischen und -therapeutischen Ansätze sind bekannt und werden eingesetzt? In den Interviews wurden sehr verschiedenartige traumapädagogische und therapeutische Ansätze erwähnt. So zum Beispiel Therapiemethoden, die sich an das Kind, die Familie oder an Gruppen wenden, aber auch Programme, welche die elterlichen Kompetenzen stärken, sowie standardisierte Vorgehensweisen im Kinderschutz und Grundsätze der Traumapädagogik. In der Grundversorgung Die Fachpersonen von Kitas erklärten ihre pädagogischen Ansätze für den Fall, dass sie bei Kleinkindern Traumata vermuteten. Diese seien: Bedürfnisse der Kinder genau beobachten, mit den Eltern Gespräche führen, das Familiensystem unterstützen, die Bezugsperson-Kind- Arbeit verstärken, sich ggf. mit TherapeutInnen der Kinder austauschen, Vernetzungsarbeit, die Arbeit im und mit dem Team intensivieren. Die befragte Fachperson eines Spitals listete die eigene Arbeit zur Traumaprävention auf: Schmerzverminderung bei medizinischen Eingriffen z. B. mit anästhesierenden Pflastern oder Lachgas, Eltern und Geschwister einbeziehen, Comfort Positioning, Orientierung der Kinder und Kinderführungen. Die Fachperson aus dem Kinderheim vertrat die Ansicht, dass traumapädagogische Ansätze in den stationären Angeboten schon gut verankert seien. Sie würden folgende Elemente einschließen: das Suchen nach einem klaren Rahmen für das betroffene Kind, vertieftes Verständnis für das Kind gewinnen, Arbeit mit dem Kind an der Emotions- und Nähe- Distanz-Regulation, Zusammenarbeit mit dem Netzwerk von involvierten Fachpersonen, Fallbesprechungen und Supervisionen, Beruhigungs- und Stabilisierungsmaßnahmen für das Kind, Reduktion der Anzahl von Bezugspersonen, Rückzugsorte für die Kinder schaffen, den Kindern immer eine möglichst gute Orientierung durch relevante Informationen ermöglichen. Spezialisierte Therapieangebote Zu den Therapiemethoden meinten zwei ExpertInnen, dass verhaltenstherapeutische Ansätze sowie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing ist eine von Dr. Francine Shapiro entwickelte Psychotherapiemethode zur Verarbeitung dysfunktional gespeicherter Erinnerungen, die zu verschiedenen Störungsbildern führen, siehe https: / / emdr-institut.ch/ ueber-emdr.html) auf Kleinkinder angepasst werden könnten und dass narrative Ansätze gute Wirkungen zeigten. Tiefenpsychologische Therapien seien nur wenig oder gar nicht wissenschaftlich untersucht. Evidenzbasierte Methoden würden hier in der Schweiz fast nicht angewandt, obwohl es evidenzbasierte Therapiemethoden wie die Child and Parent Psychotherapy von Lieberman und Van Horn (Lieberman und Van Horn 2015) oder die Trauma Systems Therapy von Glenn Saxe (Saxe et al. 2015) gäbe. In Genf und Lausanne werde eine videobasierte Interaktionsanalyse mit psychodynamischem Fokus, „Modified Interaction Guide“ (McDonough 2000), angeboten. Ferner wurden weitere Programme zur Stärkung der Eltern-Kind-Beziehung genannt. So die beziehungsorientierten Interventionsprogramme S.A.F.E. und B.A.S.E. von Karl Heinz Brisch (Brisch 2007), die nicht beim Vorliegen von Traumata, sondern präventiv eingesetzt würden. Ein weiteres Programm, das Mütter in ihrem Bindungsaufbau zum Kind stütze, sei dasjenige von Professor Dr. Matthias Franz, Giulietta von Salis, Patricia Lannen, Heidi Simoni 181 FI 4/ 2021 Projektleiter von PALME, der „Präventiven Gruppenintervention für alleinerziehende Mütter, geleitet von ErzieherInnen“, am Klinischen Institut für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Drei ExpertInnen nannten verschiedene Ausbildungen für Traumatherapien in Zürich und an anderen Orten der Schweiz. Ein Experte erwähnte aber, dass nur 5 von 100 bisherigen AbsolventInnen des einen spezialisierten Studiengangs mit Kleinkindern arbeiten. Der Auftrag öffentlicher kinderpsychiatrischer Dienste schließe im Prinzip die Versorgung von Kleinkindern ein, es sei ihm aber unbekannt, inwiefern diese Dienste tatsächlich von Familien mit Kleinkindern in Anspruch genommen würden und die Angebote auf sie ausgerichtet seien. Bestehende Netzwerke und Versorgungsketten Alle Fachpersonen aus der Grundversorgung gaben an, externe TherapeutInnen oder den kinderpsychiatrischen Dienst zu empfehlen, wenn sie eine zusätzliche spezialisierte Unterstützung als notwendig erachteten. Die empfohlenen TherapeutInnen seien nicht immer spezialisierte TraumatherapeutInnen. Im befragten Kinderheim gebe es intern auf Traumafolgen spezialisierte Therapieplätze. Alle befragten Personen machten auf bestehende oder im Aufbau begriffene Netzwerke aufmerksam. Diese bestünden aus den Kinderschutzgruppen von Spitälern, verschiedenen städtischen und kantonalen Angeboten und Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe, privaten Beratungsstellen und niedergelassenen TherapeutInnen. Als internationales Vorbild eines Netzwerks und einer Internetplattform nannte ein Experte das National Child Traumatic Stress Network (www.nctsn.org). Was braucht es, um die Versorgung zu verbessern? Trotz bestehender Netzwerke waren die befragten Personen mehrheitlich der Meinung, dass die Versorgung von Familien mit Kleinkindern, die von Traumata betroffen sind, im Kanton Zürich, in der Schweiz und auch international mangelhaft sei. Von den befragten Fachpersonen der Grundversorgung antworteten vier Personen, dass es eine Beobachtungshilfe und Schulung von Mitarbeitenden brauche. Drei andere betonten, dass es eine Auffrischung und Vertiefung des Themas brauche zu den Fragen: Wie erkennt man ein Trauma? Wie wirkt sich ein Trauma auf die Entwicklung aus? Zwei Personen wünschten sich mehr Personal, eine Person sagte, sie brauche gut informierte Mitarbeitende, damit sie nicht alleine auf die Thematik des Traumas sensibilisiert sei. Es brauche eine gute Vernetzung, niederschwellige und besser bekannte Anlaufstellen, mehr spezialisierte TraumatherapeutInnen für Kleinkinder und mehr Abklärungsstellen, die speziell auch die Väter einbeziehen würden. Bemängelt wurde, dass die Triage oft an nicht-spezialisierte TherapeutInnen erfolge. Alle interviewten KlinikerInnen und ExpertInnen waren sich einig, dass ein Bedarf sowohl an besserer Identifikation wie Intervention bei Verdacht auf ein Trauma bestehe. Einerseits brauche es in der Grundversorgung Wissen darüber, wie sich Traumafolgestörungen bei Kleinkindern zeigten, andererseits brauche es eine bessere Versorgung mit spezialisierten Therapieplätzen. Ein Experte meinte, es sei äußerst wichtig, parallel besseres Erkennen von traumatisierten Kleinkindern und Familien sowie eine gute Versorgungskette aufzubauen. Das sei eine „Herkulesaufgabe“ und sei nur in einem überschaubaren Radius der Versorgung, z. B. in der Mütter- und Väterberatung der Stadt Zürich, umsetzbar, falls es nicht ein na- Kenntnisstand über Traumata bei Kleinkindern 182 FI 4/ 2021 tional angelegtes, gut finanziertes Projekt wie das National Child Traumatic Stress Network in den USA sei. Drei ExpertInnen meinten, dass Traumafolgen im Zusammenhang mit Migration recht gut bekannt seien, es aber eine massive Unterversorgung in der Behandlung gäbe. Fünf ExpertInnen wiesen darauf hin, dass mehr spezifisches Wissen über Traumata in allen Berufsgruppen, die direkt mit Kindern zu tun haben, vorhanden sein müsste und dieses mehr Bedeutung in diversen Ausbildungen bekommen sollte. Besonders wichtig sei dies bei KinderärztInnen, da diese mit fast allen Kleinkindern und ihren Familien in Kontakt stünden. Zwei der befragten Personen machten darauf aufmerksam, dass bei Kleinkindern eher auf frühe und kumulative Belastungen, die zu mannigfachen Auffälligkeiten führen, geschaut werden müsse, statt spezifisch auf Traumata. Der Begriff „Trauma“ sei im Frühbereich nicht immer hilfreich. Auch die anderen ExpertInnen wiesen darauf hin, dass man überlegen müsse, ob der Fokus auf Traumata gerichtet werden sollte oder eher auf „Kinder, um die man sich sorgt“. Zwei der ExpertInnen in Traumapädagogik stellten fest, dass alle Fachpersonen gewisse strukturelle Bedingungen benötigten, um traumapädagogisch zu arbeiten, so zum Beispiel Raum, um nachzudenken, eigene Gefühle und Reaktionen zu erkennen, sowie Zeit für Teamzusammenarbeit, Selbstfürsorge und Supervision. Eine Expertin wünschte sich klarere Differenzierungen in der Diagnostik zwischen Entwicklungsverzögerung und Traumatisierung mit Fokus darauf, welche Hilfe ein Baby braucht. Eine weitere Expertin fand, es brauche mehr Personen in der Kinderpsychiatrie und -Psychotherapie mit Kompetenzen im Frühbereich und im transkulturellen Bereich. In Institutionen brauche es Personal, das über gute Mentalisierungsfähigkeit verfüge und um die Wichtigkeit von Narrativen in der Behandlung von traumatisierten Familien Bescheid wisse. Ein Experte stellte sich ein Supervisionstelefon mit niederschwellig erreichbaren ExpertInnen als hilfreich vor. Diese könnten eventuell diagnostische Instrumente benützen für die Triage. Zudem fände er es wichtig, den Einbezug von Eltern in die Traumatherapie von Kindern zum Schwerpunkt zu machen. Ein anderer Experte verwies auf das „Co-Location“-Modell, also auf aufsuchende Arbeit von traumatherapeutisch geschulten Personen an Orten, wo Familien sich aufhalten und sich sicher fühlen (beim Arzt, in der Kita). Diese Arbeit müsste schon pränatal einsetzen. Die Schwierigkeit, traumatisierte Kleinkinder und Familien zu erreichen und mit ihnen Allianzen einzugehen, wurde auch von einer weiteren Expertin besonders hervorgehoben. Diskussion Diese Studie ist explorativ, und durch die kleine Anzahl an interviewten Personen sind die Erkenntnisse nur begrenzt aussagekräftig bzw. nicht zu verallgemeinern. Die befragten Personen arbeiten in wichtigen Berufen und typischen Arbeitsfeldern der frühen Kindheit. Es sind jedoch nicht alle Arten von Angeboten, die für die gesundheitliche und betreuerische Grundversorgung junger Kinder und ihrer Familien relevant sind, erfasst. Die befragten Personen repräsentieren auch nicht ihre Berufsgruppe. Und es sind uns keine Referenzstudien über den Umgang einzelner Berufsgruppen mit frühkindlichen Traumatisierungen im deutschsprachigen Raum bekannt. Trotzdem eröffnet die explorative Studie, ganz ihrem Ziel entsprechend, Einblicke in die Versorgung von traumatisierten Kleinkindern und Bezugspersonen und in Trends in der Wahrnehmung und im Umgang mit frühen Traumatisierungen. Giulietta von Salis, Patricia Lannen, Heidi Simoni 183 FI 4/ 2021 Traumata erkennen In den Resultaten der Befragung kommt zum Ausdruck, dass zwar Konsensbestrebungen zur Diagnose von Traumata in der frühen Kindheit bestehen, es aber laufende, teils kontroverse Diskussionen unter ExpertInnen dazu gibt. Es geht zum einen um die Unterscheidung von akuten, potenziell traumatisierend wirkenden einmaligen und klar identifizierbaren Ereignissen versus Lebensumständen, die ein junges Kind anhaltend psychisch überfordern. Diese Unterscheidung ist den befragten Personen bewusst. Eng damit verbunden ist in der frühen Kindheit ganz besonders die Frage nach der Rolle naher Bezugspersonen bzw. des Beziehungsgeschehens sowohl bei der Entstehung wie bei der Verarbeitung von Traumata. Traumatisierendes Interaktions- und Beziehungsverhalten kann zudem in Traumata der Bezugspersonen wurzeln. Bei nicht spezialisierten Fachpersonen scheint es ein grundsätzliches Verständnis der Diagnose Traumafolgestörung zu geben. Trotz sehr unterschiedlichem Wissenstand ist den Fachpersonen im Feld bewusst, dass ein Trauma eine gravierende psychische Überforderung meint, die zu gewissen Auffälligkeiten im Fühlen, Denken und Verhalten führt und spezifischen fachlichen Umgang erfordert. Es kommt in den Interviews jedoch deutlich zum Ausdruck, dass es für manche Arbeitskontexte mit Personen, die nicht diagnostisch und therapeutisch tätig sind, einer Schärfung des Verständnisses von Traumata und ihrer Auswirkungen auf die Entwicklung bedarf. Dies trotz der sicher richtigen Feststellung, dass die Fachpersonen der Grundversorgung es nicht als ihre Aufgabe erachten, Diagnosen zu stellen, sondern für Auffälligkeiten aller Art aufmerksam zu sein. In den stationären Einrichtungen wie Kinderheimen scheint schon viel Wissen über Trauma und Traumapädagogik vorhanden zu sein. Auch im Spitalkontext gibt es Konzepte zu Trauma und Traumaprävention. In Kitas und der Mütter- und Väterberatung ist das Wissen über Traumata mit unterschiedlicher Präzision vorhanden, aber es ist eine große Aufmerksamkeit für Auffälligkeiten im Verhalten von Kindern auszumachen und es werden vielfältige Ansätze im Umgang damit eingesetzt. Kinderschutzthemen sind recht gut verankert und viele Personen haben dazu auch schon Weiterbildungen besucht. Die sehr unterschiedlichen Einschätzungen des Vorkommens traumatisierter Kinder in den Kitas legen die Frage nahe, ob diese eine tatsächliche Varianz abbilden oder ob Trauma an verschiedenen Standorten unterschiedlich gut erkannt wird. Falls Letzteres zutrifft, bleibt offen, ob das Problem eher unter- oder eher überschätzt wird. Die allerdings diesbezüglich eng begrenzten Hinweise aus der Umfrage legen nahe, dass in Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden nur diffuse Kenntnisse zu Traumata in der frühen Kindheit vorhanden zu sein scheinen, obwohl Familien mit Schwierigkeiten und potenziell traumatischem Erleben und eventuell entsprechendem Verhalten eine der Zielgruppen dieser Behörden sind. Die interviewten Personen sagen aus, dass Arbeitsfelder wie die Erwachsenenpsychiatrie, Gerichte und Polizei noch nicht viel Information zu Traumata in der frühen Kindheit besitzen. Eine spezielle Zielgruppe für die Traumasensibilisierung, dies ist ebenfalls aus den Antworten der Befragten ersichtlich, sind KinderärztInnen. Aufgeworfen wurde auch die Problematik, dass manche Familien durch bestehende Angebote in der Grundversorgung schlecht erreicht werden. Müssen hier noch weitere Bestrebungen wie beispielsweise größere Informationskampagnen unternommen werden oder können auch diese Familien mit einer verbesserten Sensibilisierung von Fachpersonen, wie z. B. der KinderärztInnen, erreicht werden? Kenntnisstand über Traumata bei Kleinkindern 184 FI 4/ 2021 In der Bevölkerungsgruppe der Migrantenfamilien wird gehäuftes Vorkommen von Traumata vermutet und es wurde ebenfalls mehrfach betont, dass für diese Gruppe die Versorgung noch ungenügender sei als für die allgemeine Bevölkerung. Diese Ergebnisse der Befragung zeigen, dass die Verbindung von Traumata mit Migrationserfahrungen bei fast allen Befragten auf dem Radar ist. Sie legen jedoch auch nahe, dass diese Verbindung recht pauschal hergestellt wird und es an einer Differenzierung mangeln könnte. Zudem ist offen, wie es um die systematische Zusammenarbeit mit transkulturell geschulten bzw. im Migrationskontext tätigen Personen steht. Allerdings wurden auch keine Fachpersonen mit entsprechender Erfahrung befragt. Einige Antworten sowohl der befragten Fachpersonen im Feld wie der befragten ExpertInnen lassen auf gegenseitig lückenhafte Kenntnisse über Angebote und Arbeitsweisen sowie über entsprechende Anknüpfungspunkte für die Zusammenarbeit im Versorgungsnetz schließen. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil die befragten Personen sich fast alle entweder im Rahmen ihrer Aufgaben oder aufgrund ihrer Spezialisierung bereits mit von Traumata betroffenen Kleinkindern und ihren Familien auseinandersetzen. So wurde beispielsweise nicht erwähnt, dass an verschiedenen Orten in der Schweiz kinderpsychiatrische Sprechstunden für Abklärung und Behandlung typischer Störungen des frühen Kindesalters angeboten werden oder dass manche Abteilungen von Polizeidiensten, die im Bereich Kinderschutz, häuslicher Gewalt und Menschenhandel tätig sind, sich intensiv mit Anzeichen von Traumatisierung auseinandersetzen, oder aber dass es verschiedene Beobachtungsmethoden gibt, die speziell auf das Erkennen von Ressourcen und Risiken früher Beziehungsdynamiken in der Grundversorgung ausgerichtet sind. Von mehreren ExpertInnen wurde darauf hingewiesen, dass bei sehr kleinen Kindern eine zu enge Fokussierung auf „Trauma“ nicht zielführend sei. Wichtig sei vielmehr auf Kinder mit unspezifischen Dysregulationen oder auf „Kinder, um die man sich sorgt“, zu achten. Dies entspricht der oben erwähnten Mahnung von befragten Fachpersonen, verschiedene Auffälligkeiten aufmerksam wahrzunehmen. Bestehende Initiativen, Netzwerke und die Versorgung stärken Die interviewten Fachpersonen haben verschiedene bestehende Netzwerke erwähnt. Um die Versorgung von betroffenen Kleinkindern und ihren Familien zu verbessern, wäre es nötig, diese auf den lokalen, kantonalen, nationalen und internationalen Ebenen zu inventarisieren, zu stärken, an weiteren relevanten Stellen bekannt zu machen und untereinander zu vernetzen. Die Triage könnte somit auf allen Ebenen gestärkt werden. Von allen befragten Personen wurde bemängelt, dass die Triage oft an nicht-spezialisierte TherapeutInnen erfolge. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil immerhin von der Hälfte der Befragten auch spezialisierte Beratungsstellen, Institutionen oder niedergelassene TherapeutInnen erwähnt wurden. Wichtig erscheint mit Blick auf unterschiedliche Kompetenzen und Aufgaben, dass alle Personen, die mit Kleinkindern und Familien arbeiten, sich immer wieder darüber Klarheit schaffen können, was sie selber machen können oder müssen und wann eine Triage notwendig scheint. Eventuell wären auch vermehrte Öffentlichkeitsarbeit und Kampagnen zur Informationsverbreitung notwendig. Bei all diesen Bemühungen gälte es sorgfältig darauf zu achten, das Konzept von Trauma in der frühen Kindheit und in Familien ausreichend differenziert zu vermitteln. Dies er- Giulietta von Salis, Patricia Lannen, Heidi Simoni 185 FI 4/ 2021 scheint auch wichtig, um zu vermeiden, dass die Diagnose Trauma zu einer Modediagnose verkommt, die nicht mehr hilfreich ist. Es wäre fatal, wenn damit sogar andere Probleme verschleiert würden. Traumapädagogische Ansätze sollten noch verbreiteter bekannt sein und angewendet werden, z. B. in Kitas, Spielgruppen, Kindergärten, Asylzentren und -unterkünften. Zudem braucht es mehr auf die frühe Kindheit spezialisierte therapeutische Angebote. Es gibt verschiedene Ausbildungen für Traumatherapien in Zürich und an anderen Orten der Schweiz. Es scheint aber, dass auch deren AbsolventInnen eher nicht mit Familien und Kleinkindern arbeiten. Der Auftrag öffentlicher kinderpsychiatrischer Dienste schließt die Versorgung von Kleinkindern ein. In der Befragung wurde jedoch nicht klar, wie verbreitet und fundiert ihre Angebote tatsächlich für Kinder ab Geburt bis zum Kindergartenalter und ihre Familien ausgerichtet sind. Sehr wichtig ist es, wie ein Experte betont, dass parallel mit einer verbesserten Sensibilisierung die Versorgungskette aufgebaut werden kann. Es darf nicht passieren, dass Fachpersonen zwar kompetent traumabetroffene Familien mit Kleinkindern identifizieren, diese jedoch weder einen adäquaten Umgang im Alltag erfahren noch eine therapeutische Versorgung erhalten können. Fazit und Bedeutung für die Praxis Die Studie zeigt, dass Konzept und Auswirkungen von Traumata recht breit bekannt sind, also ein grundsätzliches Verständnis darüber besteht. Die Kenntnisse über frühkindliche Traumata und deren Manifestationen bedürfen aber für eine adäquate Versorgung der Vertiefung und interdisziplinären Verbreitung. Um die Identifikation und Unterstützung von traumatisierten oder belasteten Familien mit Kleinkindern zu verbessern, bräuchte es: n gezielte Informationen und Weiterbildungsangebote zur Schärfung des Verständnisses von Traumata für spezifische Berufsgruppen, die mit Kleinkindern und ihren Familien im Kontakt sind; n ein Inventar über Initiativen, Programme und Netzwerke auf einer breit bekannten Informationsplattform; n eine bessere Zusammenarbeit von (Teil-) Netzwerken untereinander; n eine wesentliche Verstärkung und bessere Zugänglichkeit der spezialisierten therapeutischen Versorgung betroffener Familien. Diese vier Aufgaben müssen regional und parallel angegangen werden, damit das Identifizieren von betroffenen Familien tatsächlich zu einem adäquaten Umgang mit den Kindern im Alltag und bei Bedarf zu einer spezialisierten Behandlung führen kann. Regionale Initiativen, die diese Schritte umsetzen, sollten evaluiert werden. So können die Erkenntnisse genutzt und erfolgreiche Modelle verbreitet werden. Finanzierung Diese Studie wurde von der Stiftung Generationen-Dialog und einer weiteren Stiftung unterstützt. Ganz herzlichen Dank! Giulietta von Salis Patricia Lannen Heidi Simoni Marie Meierhofer Institut für das Kind Pfingstweidstr. 16 8005 Zürich Schweiz E-Mail: vonsalis@mmi.ch lannen@mmi.ch simoni@mmi.ch Kenntnisstand über Traumata bei Kleinkindern 186 FI 4/ 2021 Literatur Brisch, K. H. (2007): Prävention von emotionalen und Bindungsstörungen. In: von Suchodoletz, W. (Hrsg.): Prävention von Entwicklungsstörungen. Göttingen, Hogrefe, 167 - 181 Dawson, G., Ashman, S. 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