eJournals Frühförderung interdisziplinär 40/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2021.art01d
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2021
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Interdisziplinäre Frühförderung: Anfänge – Herausforderungen – Neuorientierungen

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2021
Otto Speck
Der Begriff der „Frühförderung“ ist als ein offizieller Sammelbegriff aus der Erarbeitung der „Empfehlungen“ des Deutschen Bildungsrates „Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“ (1973) hervorgegangen. Bis dahin hatte es aus pädagogischer Sicht nur vereinzelte und jeweils auf eine bestimmte Behinderungsart bezogene Versuche zu einer Früherziehung, zumeist aufgrund privater Initiativen, gegeben, über die gelegentlich berichtet wurde. Erwähnt sei die „Betrachtung über geistesschwache Kinder“ von Traugott Weise (1820), in der als ergiebigste Entwicklungsstufe für Anregungen zur Sinneswahrnehmung und zur Sprach- und Begriffsbildung das Klein- oder Kleinstkindalter erkannt und empfohlen wurde. Erwähnt seien auch die Arbeiten von Armin Löwe (1965) zur Frühbetreuung hörgeschädigter Kleinkinder und der Modellversuch zur Früherziehung geistig behinderter Kleinstkinder von Ingeborg Thomae (1976, s. auch 1979). [...]
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5 Frühförderung interdisziplinär, 40.-Jg., S.-5 - 8 (2021) DOI 10.2378/ fi2021.art01d © Ernst Reinhardt Verlag Interdisziplinäre Frühförderung: Anfänge - Herausforderungen - Neuorientierungen Otto Speck FRÜHFÖRDERUNG NEU DENKEN 40. Jahrgang D er Begriff der „Frühförderung“ ist als ein offizieller Sammelbegriff aus der Erarbeitung der „Empfehlungen“ des Deutschen Bildungsrates „Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“ (1973) hervorgegangen. Bis dahin hatte es aus pädagogischer Sicht nur vereinzelte und jeweils auf eine bestimmte Behinderungsart bezogene Versuche zu einer Früherziehung, zumeist aufgrund privater Initiativen, gegeben, über die gelegentlich berichtet wurde. Erwähnt sei die „Betrachtung über geistesschwache Kinder“ von Traugott Weise (1820), in der als ergiebigste Entwicklungsstufe für Anregungen zur Sinneswahrnehmung und zur Sprach- und Begriffsbildung das Klein- oder Kleinstkindalter erkannt und empfohlen wurde. Erwähnt seien auch die Arbeiten von Armin Löwe (1965) zur Frühbetreuung hörgeschädigter Kleinkinder und der Modellversuch zur Früherziehung geistig behinderter Kleinstkinder von Ingeborg Thomae (1976, s. auch 1979). Ebenso waren im medizinischen Bereich Ansätze und Institutionen zur Frühdiagnostik und Frühtherapie für Kinder mit psycho-physischen „Erkrankungen“ oder Entwicklungsrückständen entstanden. Diese waren in den genannten „Empfehlungen“ des Deutschen Bildungsrates ausdrücklich bestätigt worden. Sie entsprechen den heutigen „Sozialpädiatrischen Zentren“. Sie sind ärztlich geleitet, arbeiten interdisziplinär, beziehen sich aber auf den gesamten Bereich von Kindheit und Jugend. Sie sind demgemäß personell und fachlich differenzierter und damit größer angelegt. Ihr Einzugsbereich ist deshalb auch ein überregionaler gegenüber den regional, familiennah angelegten Frühförderstellen (Speck 1973). Die Ausgangssituation Die landesweite Errichtung von Frühförderstellen ab 1974 ging in Bayern von einer Initiative des Kultusministeriums, d. h. vom Schulwesen aus, und stützte sich fachlich u. a. auf bestehende Ansätze einer „Hausfrüherziehung“ für hörgeschädigte Kleinkinder. Die schulrechtliche Begründung für diese Zuordnung der Frühförderstellen zum Schulsystem wurde dadurch gefunden, dass diese im Sinne des Sonderschulgesetzes als „schulvorbereitende Einrichtungen“ definiert wurden. Dies hatte zur Folge, dass diese - wie die genannten „schulvorbereitenden Einrichtungen“ - jeweils einzelnen Sonderschulen zugeordnet wurden. Da diese jeweils auf bestimmte Behinderungsarten bezogen waren, galt dies nun im Prinzip auch für die Frühförderstellen. Sie fungierten aber darüber hinaus auch als Anlaufstellen für Kinder mit jeweils verschiedenen Behinderungen. Dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, speziell Ministerialrat Alfons Brandl, kommt das Verdienst zu, 1974 durch eine Bekanntmachung den Aufbau eines landesweiten und regionalen Netzes von „Frühförderstellen“ initiiert zu haben (Brandl 1977). Die Entwicklung in den einzelnen Bundesländern verlief ähnlich, in Details aber auch verschieden. Da es sich um ein völlig neues System handelte, blieben anfangs Überraschungen, Skepsis und Kritik nicht aus und zwar aus den fachlich verschiedensten Richtungen. Sie reichten z. T. bis zur kompletten Ablehnung des pädagogischen Entwurfs. Ich war aber davon überzeugt, dass die sichtbar werdenden Probleme weithin auf Vorurteilen beruhten und sich deshalb aufklä- 6 FI 1/ 2021 Otto Speck ren und bewältigen ließen. Da weitgehende Übereinstimmung darin bestand, dass eine frühe Förderung und Therapie grundlegend wichtig für die weitere Entwicklung eines Kindes mit einer Behinderung sind, führten unsere vielfältigen Gespräche und Umorganisationen allmählich zu einem stimmigen Gesamtmodell. Auf die damit verbundenen Schwellen der Entwicklung der „Frühförderung“ möchte ich noch einmal zurückblicken. Entwicklungsschwellen und Weiterentwicklungen 1. Eigenständigkeit der Frühförderung Die rechtliche und funktionelle Anbindung der Frühförderstellen an die jeweiligen Sonderschulen, wie sie z. B. auch in Baden-Württemberg vollzogen wurde, erweckte verständlicherweise auch Skepsis: Wird dadurch die Frühförderung nicht „verschult“? Auch Sonderschullehrer klagten, ihnen werde wiederum eine zusätzliche und noch dazu eine nicht-schulische Aufgabe zugemutet. Aus behinderungsspezifischer sonderpädagogischer Sicht wurde auch der sämtliche Behinderungs- und Sonderschularten übergreifende Begriff der „Frühförderung behinderter Kinder“ kritisch gesehen. Zum Teil wurde darauf bestanden, dass sonderpädagogische Frühförderung nur behinderungsspezifisch betrieben werden könne, d. h. nur von entsprechend behinderungsspeziell ausgebildeten Sonderschullehrern und damit nur an den entsprechenden Sonderschulen. Diese sonderpädagogische Engführung des Begriffes „Frühförderung“ führte schließlich dazu, dass die von mir angestrebte und inzwischen neu errichtete Professur für Frühförderung an der Fakultät für Psychologie und Pädagogik vom Institut für Sonderpädagogik der Münchener Universität abgelehnt wurde mit der Begründung, der bereits berufene Professor verfüge nicht über eine sonderpädagogische Qualifikation in sämtlichen sonderpädagogischen Fachrichtungen. Demgegenüber zeigte sich in der Praxis, dass Frühförderung behinderter Kinder durchaus auch viele fachliche Inhalte und Kompetenzen umfasst, die über eine bestimmte sonderschulpädagogische Fachrichtung, aber auch über jegliche Sonderpädagogik hinausreichten, z. B. psychologische oder therapeutische, und dass diese vielmehr erst im fachlichen Miteinander ihre volle Wirksamkeit gegenüber einem Entwicklungsproblem entfalten könnten, denkt man etwa an die Elternberatung oder an kindliche Entwicklungsprobleme, die nur aus einer übergreifenden Zusammenschau verschiedener, z. B. entwicklungspsychologischer, sozialpädagogischer oder medizinisch-therapeutischer Befunde und Gesichtspunkte angegangen werden können. Eine zentrale Größe der „Frühförderung“ ist deshalb das Frühförderteam, das sich aus Fachleuten verschiedener Professionen zusammensetzt, wobei übrigens „Sonderpädagog*innen“ auch nur eine Minderheit bilden. Diese Entwicklung verstärkte auch die Einsicht, dass sich die „Frühförderung behinderter Kleinkinder“ als ein eigenes kompaktes interdisziplinäres System und als eine funktionell eigenständige Institution (z. B. gegenüber „der Schule“) zu verstehen hat, wenn sie sich behaupten will. 2. Interdisziplinarität Die institutionelle Bindung an die jeweilige Sonderschulart bildete auch in anderer Hinsicht ein Hindernis für eine Weiterentwicklung der Frühförderung, nämlich in Bezug auf den Aufbau einer interdisziplinären Frühförderung. Sie brachte ihr den Ruf einer zu großen Nähe zu einer künftigen Sonderschul-Laufbahn ein. Dagegen waren die im medizinisch-therapeutischen Bereich errichteten „Sozialpädiatrischen Zentren“ frei von diesem Vorurteil. Sie boten mit ihrem wesentlich größeren Einzugsbereich und auch ihrer fachlich differenzierteren interdisziplinären Fachkompetenz mehr 40. Jahrgang 7 FI 1/ 2021 Interdisziplinäre Frühförderung: Anfänge - Herausforderungen - Neuorientierungen offene Chancen an. Ihr Ausbau konnte regionale und familiennahe Frühförderstellen überflüssig machen. Dagegen aber behielten die regionalen Frühförderstellen als familiennahe Einrichtungen ihren besonderen Wert. Aus dieser Sicht ergab sich die Folgerung, dass auch deren Interdisziplinarität in einem Mindestmaß gesichert sein muss. Das bedeutete, dass auch für eine behinderungsbezogene Frühförderung nicht allein entsprechend behinderungsspezifisch ausgebildete Sonderschullehrer nötig sind, sondern auch Fachleute mit anderen Qualifikationen, z. B. Psychologen. - Für die Zukunft der Frühförderung war es ein großer Fortschritt, dass über Gespräche mit den Sozialpädiatrischen Zentren erreicht werden konnte, dass die Bezeichnung „Interdisziplinäre Frühförderung“ offiziell im Sozialgesetzbuch IX festgeschrieben wurde. Sie hat sich bis heute bewährt und die Kooperation verbessert. 3. „Frühe Hilfen“ Zu Anfang des neuen Jahrtausends hatte sich mit dem Namen „Frühe Hilfen“ ein neuer Dienst im Bereich der Hilfe für gefährdete Kinder vorgestellt. Da auch die „Frühförderung“ ursprünglich auch mit der Bezeichnung „Frühe Hilfen“ in der Öffentlichkeit vertreten worden war (BV Lebenshilfe), entstand eine gewisse Spannung zwischen beiden Institutionen. Sie war damit begründet, dass sich sowohl die „Frühen Hilfen“ als auch die Frühförderung auf Kinder in Armutslagen bezogen, jedoch nur diejenigen von ihnen für die Frühförderung in Betracht kamen und kommen, die zugleich „behindert oder von Behinderung bedroht“ sind. Es lag also zunächst nahe, das Gemeinsame der Bezugsgruppe in den Vordergrund zu stellen und beide zu einer Funktionsgruppe zusammenzufassen. Es lag auch ein Vorschlag vor, die Frühförderung in die „Frühen Hilfen“ einzubeziehen. Verschärft wurde dieses gespannte Verhältnis dadurch, dass im Rahmen der Inklusionsdiskussion die Frühförderung unter Exklusionsverdacht geraten war. Es wurde die These vertreten, dass es keine Institutionen mehr geben dürfe, die sich ausschließlich nur auf Kinder mit einer „Behinderung“ beziehen. Diese Ablehnung ging u. a. so weit, dass der einzige Artikel über „Frühförderung“ in der Neuauflage des „Handbuches der Behindertenpädagogik“ zugunsten eines allgemeinen Artikels über „Frühe Bildung“ gestrichen wurde. Begrenzten Anklang fand das neue und alternative Motto „Frühförderung für alle! “. Die Diskussion um die neuen „Frühen Hilfen“ endete damit, dass diese im Bundeskinderschutzgesetz 2012 verselbstständigt wurden und nun die Aufgabe übernahmen, den Schutz von Kindern in den ersten drei Lebensjahren vor Vernachlässigung und Misshandlung zu verbessern (Weiß 2013). 4. Kindertagesstätten als Partner Eine spürbar in das System der Frühförderung eingreifende Veränderung vollzog sich dadurch, dass sich die äußerhäusliche Erwerbstätigkeit so sehr ausgebreitet hat, dass der Hausbesuch als bisheriger Funktionsschwerpunkt weithin ausscheidet und aus der Haus-Frühförderung weithin eine Kindertagesstätten-Begleitung geworden ist. Damit veränderte sich der Aufgabenbereich der Familienorientierung der Frühförderung in einem empfindlichen Maße (Klein 2013). Die Eltern sind nun schwerer erreichbar, brauchten aber mehr Hilfe und Anregungen. Wieweit dieses Manko durch eine Beratung der Kindertagesstätten ausgeglichen werden kann, ist eine offene Frage. Abschließend lässt sich feststellen, dass die Interdisziplinäre Frühförderung einerseits eine Erfolgsgeschichte darstellt, dass sie aber andererseits immer wieder auch vor Herausforderungen stand und steht, auf die sie sich neu einzustellen hat. Dies ist an sich nichts Unge- 8 FI 1/ 2021 Otto Speck wöhnliches oder absolut Verunsicherndes. Wir haben uns heute auf einen vermehrten Wandel einzustellen, weil zu viele Dinge gesellschaftlich, ökologisch und technologisch in Bewegung geraten sind. Dabei wird es für uns wichtig sein zu erkennen, dass Bestand und Wandel zusammengehören, d. h. dass es keinen gedeihlichen Wandel oder eine bleibende Neuerung gibt, wenn nicht auch das Wesentliche erhalten bleibt. Umgekehrt bleibt, wie es in einem französischen Sprichwort heißt, alles umso mehr beim alten, je mehr sich ändert (Watzlawick et al. 1974, 19). Literatur Brandl, A. (1977): Der schulrechtliche und organisatorische Rahmen der pädagogischen Frühförderung. In: Speck, O. (Hrsg.): Frühförderung entwicklungsgefährdeter Kinder. München/ Basel, Ernst Reinhardt Verlag, 87 - 104 Klein, E. (2013): Familienorientierung in der Frühförderung. Frühförderung interdisziplinär 32 (2), 82 - 96, https: / / doi.org/ 10.2378/ fi2013.art05d Löwe, A. (1965): Hausspracherziehung für hörgeschädigte Kleinkinder. Marhold Verlag, Berlin-Charlottenburg Speck, O. (1973): Früherkennung und Frühförderung behinderter Kinder. In: Sonderpädagogik 1: Behindertenstatistik, Früherkennung, Frühförderung. Bd. 25 der Gutachten und Studien der Bildungskommission. Klett Verlag, Stuttgart Speck, O. (1977): Frühförderung entwicklungsgefährdeter Kinder. Ernst Reinhardt Verlag, München/ Basel Thomae, I. (1976): „Risiko-Kinder“. Benziger, Zürich/ Köln Thomae, I. (1979): Früh- und Elementarbereich. In: Bach, H. (Hrsg.): Handbuch der Sonderpädagogik, Pädagogik der Geistigbehinderten, 75 - 87, Berlin, Marhold-Verlag Watzlawick, P., Weakland, J. H., Fisch, R. (1974): Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels., Bern/ Stuttgart/ Wien, Verlag Hans Huber Weise, T. (1820): Betrachtung über geistesschwache Kinder. In: Klink, J. G. (Hrsg.) (1966): Zur Geschichte der Sonderschule, 46 - 54, Bad Heilbrunn, Klinkhardt Weiß, H. (2013): Interdisziplinäre Frühförderung und Frühe Hilfen: Kooperationspartner in präventiven Netzwerken und entwicklungsgefährdete Kinder und deren Familien. Frühförderung interdisziplinär 32 (2), 67 - 81, https: / / doi.org/ 10.2378/ fi2013.art04d 40. Jahrgang a www.reinhardt-verlag.de Handbuch zur interdisziplinären Frühförderung Das Handbuch bietet eine Grundlage für alle, die in der Frühförderung von Kindern mit einer kognitiven, sprachlichen oder motorischen Beeinträchtigung, einer Hör- oder Sehschädigung, einer sozial-emotionalen Entwicklungsstörung oder einer schweren Mehrfachbehinderung tätig sind. PraktikerInnen erhalten so einen umfassenden Überblick über das Arbeitsfeld und Leitlinien für die Frühförderung. 2017. 459 Seiten. 22 Abb. 10 Tab. (978-3-497-02691-3) kt