Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2021.art03d
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Lernen verstehen
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Franz Peterander
40 Jahre nach Erscheinen der einzigen deutschsprachigen Zeitschrift im Bereich der interdisziplinären Förderung von benachteiligten, entwicklungsauffälligen und behinderten Kindern, der renommierten Zeitschrift „Frühförderung interdisziplinär“, ist es sicher ein guter Anlass auch über inhaltliche Aspekte der Interdisziplinären Frühförderung zu reflektieren und sie weiter zu denken. Meine langjährigen Erfahrungen in Lehre, Forschung und Praxis zeigen, dass „Lernen“ eines der elementarsten Phänomene in der menschlichen Entwicklung darstellt. Die Frage des Lernens mit seinen vielschichtigen Ebenen hat mich seit jeher beschäftigt, und ist heute noch nicht einfach zu fassen. Dies ist zugleich auch eine der interessantesten und zentralsten Fragen in der Interdisziplinären Frühförderung. Was ist unter Lernen zu verstehen? Wie lernen wir mit Erfolg? [...]
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13 Frühförderung interdisziplinär, 40.-Jg., S.-13 - 19 (2021) DOI 10.2378/ fi2021.art03d © Ernst Reinhardt Verlag Lernen verstehen Franz Peterander 40 Jahre nach Erscheinen der einzigen deutschsprachigen Zeitschrift im Bereich der interdisziplinären Förderung von benachteiligten, entwicklungsauffälligen und behinderten Kindern, der renommierten Zeitschrift „Frühförderung interdisziplinär“, ist es sicher ein guter Anlass auch über inhaltliche Aspekte der Interdisziplinären Frühförderung zu reflektieren und sie weiter zu denken. Meine langjährigen Erfahrungen in Lehre, Forschung und Praxis zeigen, dass „Lernen“ eines der elementarsten Phänomene in der menschlichen Entwicklung darstellt. Die Frage des Lernens mit seinen vielschichtigen Ebenen hat mich seit jeher beschäftigt, und ist heute noch nicht einfach zu fassen. Dies ist zugleich auch eine der interessantesten und zentralsten Fragen in der Interdisziplinären Frühförderung. Was ist unter Lernen zu verstehen? Wie lernen wir mit Erfolg? Klar ist, dass sich im Laufe der Evolution vor 40.000 Jahren im menschlichen Gehirn Grundstrukturen ausgebildet haben, die die frühen Lernprozesse in einem so hohen Maße implizit unterstützen, wie dies im späteren Alter nie mehr der Fall ist - diese Tatsache könnte auch als eine sensible Phase für Lernen, sozusagen als window of opportunity, angesehen werden, die die Frühförderung für sich nutzt. Alle Fähigkeiten zur Interpretation der Umwelt, das Selbst und des eigenen Körpers im Zusammenhang mit der Realisierung individueller Lebensziele basieren auf dem frühen Lernen. Obwohl Personen aufgrund verschiedener Ausgangsbedingungen über unterschiedliche Lernpotenziale verfügen, kann durch lernwirksame Erfahrungen das persönlich mögliche Lernpotenzial sogar erweitert werden. Eine Vielzahl von Theorien zum Lernen bilden die Basis der Arbeit in der Interdisziplinären Frühförderung. In den letzten Jahrzehnten vollzog sich allerdings ein Wandel. Die zu Beginn der Interdisziplinären Frühförderung in den 70er-Jahren vorherrschenden behavioristischen Lerntheorien bildeten ein erstes wichtiges theoretisches Fundament der frühen Förderung von beeinträchtigten Kindern - das hat sich grundlegend geändert. Heute sind nicht mehr vorrangig die Techniken der Verhaltensmodifikation, Prinzipien des klassischen und der operanten Konditionierung die Leitbegriffe, um Lernen bzw. Veränderungsprozesse zu erklären. Die berechtigte Kritik am Behaviorismus bezieht sich vor allem auf eine verkürzte Sichtweise allein auf das beobachtbare Verhalten von Kindern, was zu einer eher defizitorientierten Sichtweise bei der Förderung geführt hat. Komplexe Lernprozesse wurden bei der Förderung nicht adäquat berücksichtigt. Mit der „Kognitiven Wende“ in der Psychologie wird heute ein starker Fokus auf die Förderung der mentalen Fähigkeiten von Säuglingen und Kleinkindern gelegt, wobei auch dem Bewegungslernen natürlich ein mentales Lernen zugrunde liegt. Die Darstellung der großen Bedeutung mentalen Lernens für den Fördererfolg bildet ein zentrales Anliegen dieses Beitrags - weniger die Vermittlung von diesbezüglichen Fördermethoden, über die die Frühförderer*Frühförderinnen ohnehin verfügen und die sie flexibel anpassen können. Im Vordergrund soll die Stärkung des Bewusstseins der Fachleute über die Bedeutung und Wirkungen der neuronalen Grundlagen bzw. der kognitiven Schemata des Lernens liegen, die alle Lernprozesse zentral FRÜHFÖRDERUNG NEU DENKEN 40. Jahrgang 14 FI 1/ 2021 Franz Peterander 40. Jahrgang moderieren und steuern. Jede*r Frühfördernde arbeitet mit dem Kind genau an diesem Punkt, auch wenn dies nicht offen sichtbar wird. Ohne neuronale Grundlagen entwickelt sich kein Gedächtnis, da Lernen nicht stattgefunden hat. Eine große Herausforderung für die Fachleute ist es, aus dem komplexen Verhalten und den Handlungen von Säuglingen und Kleinkindern Rückschlüsse auf die dahinter liegenden geistigen Prozesse zu ziehen, d. h. auf das kindliche Denken, ihre Ziele und Vorstellungen. Es lässt sich auch so formulieren: Fortschritte in den geistigen Fähigkeiten der Kinder bedeuten gleichzeitig auch Fortschritte in der Verhaltensentwicklung - ureigenste Ziele der Interdisziplinären Frühförderung. Vordenker einer kognitiven Psychologie Obwohl die Theorien von Jean Piaget über die kognitive Entwicklung von Säuglingen und Kindern mit der Formulierung seiner berühmten kognitiven Entwicklungsstufen keinesfalls in der Tradition von Lerntheorien zu sehen sind, hat er sich aus heutiger Sicht bereits vor 90 Jahren als Biologe und Entwicklungspsychologe mit Lernen und Denken beschäftigt und erste Grundlagen für eine Kognitive Psychologie formuliert. Er ging der Frage nach, wie Kinder denken und wie sich das Denken und die „Repräsentationen“ bei Kindern stufenweise entwickeln. Er spricht bereits 1926 in einem Buch über „die (geistige) Repräsentation der Welt bei Kindern“ (La représentation du monde chez l’ enfant“). Interessant ist, dass dieser Begriff der „Repräsentation“ - d. h. sich Vorstellungen über die Welt zu bilden - in den 70er- Jahren zum zentralen Begriff der Kognitionspsychologie geworden ist. Dieser „Lernbegriff“ sollte dazu beitragen, die Speicherung und Verarbeitung neuer Lernerfahrungen theoretisch besser beschreiben und die Konsequenzen dieser Gehirnprozesse beim Lernen besser empirisch untersuchen zu können. Im Unterschied zu Piaget ist die Kognitionsforschung heute mit der Gehirnforschung eng verbunden. Der wichtigste Beitrag von Piaget ist in der Formulierung eines Erklärungsmodells über die Organisation des Wissens und Könnens im Gedächtnis zu sehen. Er hat die Begriffe des „kognitiven Schemas“, der „Assimilation“, der „Akkommodation“ und der „Äquilibration“ eingeführt. Die Ausdifferenzierung seiner Schematheorie war sicher eine große Herausforderung für ihn, denn wie können die durch Erfahrungen mit der Umwelt bzw. die mit dem eigenen Körper gemachten Erfahrungen als Wissen im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden und für das Verhalten der Kinder Bedeutung erlangen? Piaget hat durch seine jahrzehntelangen detaillierten Beobachtungen von Säuglingen und Kindern bereits erkannt, dass ihre über neue Erfahrungen gemachten Lernprozesse so im Gedächtnis hinterlegt und gebündelt werden müssen, dass sie durch Erinnerung in Millisekunden einen Zugriff auf die Komplexität und Bedeutung von Informationen erlangen. In diesem Zusammenhang wurde die Entwicklungstheorie formuliert, dass die Weiterentwicklung des Denkens bei Kindern nur möglich sein kann, wenn neue Informationen zu immer komplexeren Schemata- und Ordnungsstrukturen im Gedächtnis führen. Mit dem Mechanismus der Assimilation wird erklärt, auf welche Weise neue Erfahrungen in die schon bestehenden einfacheren Schemata eingeordnet werden, und wie sich schon vorhandene Schemata fortlaufend auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen neu organisieren. Der Begriff „Hund“ wird demnach durch immer neue eigene Erfahrungen des Kindes mit Hunden wie auch durch die Art und Weise, wie Erwachsene über Hunde reden und mit ihnen umgehen, in ihrem Gedächtnis immer umfassender und differenzierter abgebildet. Die Prozesse der Assimilation, und in Variation der Akkommodation, stellen entscheidende Erklärungsmechanismen über das Lernen dar. Auf dieser Basis wird durch die Speicherung von Informa- 15 FI 1/ 2021 Lernen verstehen tionen ein immer komplexeres (Handlungs-) Wissen über Objekte, Personen, Beziehungen, Situationen, etc. im Gedächtnis aufgebaut. Auch wenn heute im Kontext von Forschungsarbeiten zur Informationsverarbeitung einige Modifikationen an dieser Schematheorie angebracht werden, bleiben Piagets Überlegungen bedeut-sam, denn sie haben die Forschung zur kognitiven Psychologie nachhaltig angeregt wie auch eine theoretische Grundlage für wichtige Forschungsarbeiten in der Neurobiologie über die Bedeutung von neuronalen Netzwerken geschaffen. Als erste Forscher einer neuen kognitiven Lern- und Handlungstheorie gelten die Gehirn- und Lernforscher Miller, Galanter und Pribram, die mit ihrem Buch „Pläne und Strukturen des Verhaltens“ (1960) die Kognitive Wende in der Psychologie eingeleitet haben. Ihre Arbeiten gelten als ein früher wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer Kognitiven Handlungspsychologie. Sie beschreiben einen kybernetisch interpretierten Handlungsablauf. Heute stehen mit Absichten, Zielvorstellungen und Plänen eher konkrete mentale Prozesse im Mittelpunkt der Erklärung von Handlungen. Speicherung neuer Erfahrungen und Lernen Neuronale Netzwerke Wie werden nun bewusst oder nicht bewusst gemachte neue Erfahrungen im Gedächtnis gespeichert? Donald Hebb (1949) hat in experimentalpsychologischen Studien schon früh die Theorie formuliert, dass immer dann, wenn Menschen sich später an etwas erinnern können, Lernen stattgefunden hat. Er wies die Bildung von neuronalen Netzwerken empirisch nach. Sein noch heute anerkanntes Lern-Prinzip bedeutet, dass wiederholte Lernvorgänge zu einer besseren Verknüpfung von Millionen von Neuronen zu ganzen Zellverbänden führen, indem Synapsen-Verbindungen verstärkt werden. Dieses Hebb’sche Lern-Prinzip hat sich als universell gültig für alle Organismen erwiesen. Es wurde damit eine Vorstellung darüber entwickelt, welche Wirkungen neue Erfahrungen, d. h. Lernen, auf die Speicherung von Informationen im Gedächtnis haben. Ein stabiles Netzwerk, wie z. B. ein neues Gewohnheitsmuster, kann sich demnach nur ausbilden, wenn durch die Wiederholung von Lernschritten spezifische neuronale Vernetzungen ausdifferenziert und gestärkt werden. Komplexe neuronale Netzwerke Sie führen dazu, dass Kinder die Bedeutungen von Objekten, Ereignissen, Situationen, Personen etc. entschlüsseln können und generell für sich selbst und die Welt ein Bewusstsein entwickeln - sozusagen als höchste Stufe der kognitiven Leistungsfähigkeit. Dies geschieht über die Vernetzung von komplexen neuronalen Netzwerken, was über eine Vielzahl von Feedbackschleifen und Rückkoppelungsprozessen möglich wird, wie dies der Nobelpreisträger Gerald Edelman (2007) in seiner Theorie der Bildung von neuronalen Gruppen entwickelt hat (Theorie der neuronalen Gruppenselektion - TNSG; reentry-process). Die große entwicklungspsychologische Bedeutung dieser empirisch bestätigten Theorie von Edelman für das Verstehen komplexer Lernprozesse, wie sie täglich auch in der Frühförderung stattfinden, hat der Neuropädiater Richard Michaelis so beschrieben: „Die Theorie der neuronalen individuellen Gruppenselektion ist in ihrer Bedeutung für Entwicklungsprozesse des Gehirns kaum zu überschätzen. … Denn sie besagt, dass die Entwicklung des Gehirns und seiner neuronalen Netzwerke … ausschließlich vom Individuum selbst und seinen sensomotorischen Aktivitäten in einem bestimmten Ökosystem geleistet werden muss. Neuronale Netzwerke werden nur durch eigene Aktivitäten strukturiert (Michaelis 2011, 144). Auch nach dem Neurobiologen Gerhard Roth (1997) 16 FI 1/ 2021 Franz Peterander 40. Jahrgang reicht kein Neuron und kein einzelner Neuronen-Verband allein aus, um ein Objekt wie z. B. einen Stuhl zu erkennen bzw. den Stuhl in seiner Bedeutung für das Kind zu erfassen. Er spricht hier von Meta-Repräsentationen: Bedeutungen können Objekten, Ereignissen etc. nur zugeschrieben werden, wenn sich durch neue Erfahrungen und Lernen im Gedächtnis immer mehr neuronale Netzwerke zu komplexen übergeordneten „neuronalen Gruppen“ zusammenbinden. Nur über diesen zentralen neurobiologischen Prozess entstehen Bedeutungen, wie z. B. „mein Stuhl“, „mein Dreirad“, „mein selbstgemaltes Bild“. Mentale Repräsentationen Der für das Verstehen des Lernens vielleicht zentralste Begriff der Kognitiven Psychologie ist die „Mentale Repräsentation“. Um durch neue Erfahrungen zu lernen, bilden bereits Säuglinge mit zwei Monaten auf der Basis des operanten Konditionierens einfache mentale Repräsentationen aus, um dann durch das Erleben des Alltags mit den Eltern, mit Peers, in der Frühförderung immer komplexere Repräsentationen aufzubauen. Für die Kognitionswissenschaften hat sich dieser Begriff der mentalen Repräsentationen als hilfreich bei der Erklärung erwiesen, auf welche Weise neue Erfahrungen neuronal im Langzeitgedächtnis gespeichert werden. Letztlich basieren alle menschlichen Gedächtnisinhalte auf der Grundlage von Repräsentationen unterschiedlicher Komplexität. Eine der komplexesten Stufen sind Wahrnehmungsrepräsentationen, d. h. Informationseinheiten, in denen auch komplexe Erinnerungen enthalten sind, die auf bewussten und nicht bewussten Erlebnissen beruhen (Siegel 2010). Ein Quantensprung in der Fähigkeit zur Ausbildung komplexer mentaler Repräsentationen erfolgt durch den Erwerb der Sprache bei Kindern, später durch Lesen und Schreiben. Das alles setzt nicht nur beim Kind, sondern auch bei den Frühfördernden komplexe mentale Repräsentationen bei ihrem Förderhandeln voraus. Auf welche Weise können die Experten der unterschiedlichen Berufsgruppen im interdisziplinären Team ein Kind unterstützen, damit es nach und nach immer komplexere mentale Repräsentationen aufbaut, um immer komplexere Fähigkeiten auf der Handlungsebene zur Verfügung zu haben? Tägliche Lernprozesse durch Modellernen, sprachliche Vermittlung, Einsicht, Spielen mit Peers, finden vielfach unbewusst statt. In diesem Zusammenhang sind vorrangig die Beziehungen der Kinder zu den Eltern und den Frühfördernden zu nennen. Dem selbstgesteuerten Lernen kommt beim eigenständigen Umgang des Kindes mit Materialen, mit Spielzeug, durch künstlerische Tätigkeiten (Malen, Musizieren, Tanzen) - in Gruppenwie Einzelsituationen - eine herausragende Bedeutung zu, weil sich durch selbstgesteuertes Lernen wegen der erlebten Intensität der selbst initiierten neuen Erfahrungen per se komplexere mentale Repräsentationen vernetzen. Den Lerngelegenheiten und Lernorten sind keine Grenzen gesetzt. Mit dem Aufbau, der Erweiterung und Stabilisierung von komplexen mentalen Repräsentationen geht noch ein weiterer wichtiger Lernmechanismus einher. Wenn sich beim Kind durch fortwährende variable Übungen und flexible Wiederholungen ein bestimmtes Denk- und Handlungsmuster und eine hohe Stabilität in einer bestimmten Fähigkeit aufgebaut hat, kommt es mehr und mehr zu einer Automatisierung, d. h. Gewohnheitsbildung des Fühlens, des Denkens, der Handlungen. Auf diese Weise können komplexe Leistungen ohne Nachdenken und ohne ständiges Überlegen schnell und effektiv realisiert werden (Bargh 2018). Wie schon erwähnt, erfolgt das meiste Lernen jedoch nicht bewusst. Dies ist beim Säugling bis zur Reifung des Hippocampus im 2. Lebensjahr grundsätzlich der Fall. Durch die Speicherung aller neuen Erfahrungen im impliziten, nicht 17 FI 1/ 2021 Lernen verstehen bewussten Gedächtnis ist eine gewollte Erinnerung an das Gelernte nicht möglich. Wie leistungsfähig das Langzeitgedächtnis der Kinder danach ist, wird deutlich, wenn sich Personen auch noch im hohen Alter an frühe Ereignisse als Fünfjährige erinnern können. Natürlich hat das Lernen lebenslang einen herausragenden Stellenwert. Ein Säugling mit einem Lernpotenzial von einem IQ 130 kann - wenn er/ sie unter sehr ungünstigen Lebensumständen aufwächst - vielleicht einen IQ von 90 erreichen. Dies macht das Lernen in der frühen Kindheit so herausragend bedeutsam (Stern und Neubauer 2013). Den fortschreitenden Prozess des Lernens haben Ericsson und Pool (2016) den Lesern ihres Buches durch eine „Treppen-Metapher“ treffend beschrieben: „Es ist wie eine Treppe, die man hochsteigt, während man sie baut. Jede Stufe versetzt einen in die Lage, die nächste zu bauen. Und diese wiederum ermöglicht den Bau der nächsten und so fort. Ihre vorhandenen mentalen Repräsentationen leiten Ihr Tun und ermöglichen Ihnen, dieses zu prüfen und zu bewerten. Wenn Sie sich zu etwas Neuem entschließen - dazu, eine neue Fähigkeit zu entwickeln oder eine bereits vorhandene zu schärfen - erweitern und schärfen Sie auch Ihre mentalen Repräsentationen, die es Ihnen wiederum ermöglichen, mehr zu erreichen als zuvor.“ (vgl. S. 129) Fähigkeiten entwickeln Mentale Repräsentationen spiegeln auf abstrakter und symbolischer Ebene Fähigkeiten wider, die nur über Lernen erworben werden können. Fördern und Lernen mit dem Kind ist ein sehr dynamischer Prozess, der ganz in der Gegenwart geschieht (Stern 2005). Das Gehirn steuert über evolutionär bedingte Grundstrukturen die kindliche Entwicklung. Aus dieser Sicht und auf der Basis der Kognitionspsychologie wurde z. B. ein Förder- und Lernansatz entwickelt, der sich zentral auf die Fähigkeit der Kinder zur Selbstregulation stützt (Duckworth und Seligman 2005). Diese Forscher konnten die Ergebnisse einer Langzeitstudie vorlegen, nach der die Fähigkeit zur Selbstregulation für den Lernerfolg entscheidender ist als die Intelligenz. Diese Ergebnisse werden wissenschaftlich kontrovers diskutiert, weil Intelligenzforscher davon überzeugt sind, dass letztlich die Intelligenz der entscheidende Faktor für Lernerfolg und Leistungsfähigkeit darstellt. Die heutige Hirnforschung zeigt hingegen, dass sich Lernprozesse im Gehirn niederschlagen und der Bildung komplexer neuronaler Netzwerke fast keine Grenzen gesetzt sind, die ja letztlich für positive wie auch für ungünstige Verhaltensänderungen des Lernenden verantwortlich sind. Hilfreiche Anregungen für Frühfördernde finden sich z. B. im Kontext der Selbstregulation bei Pauen (2019). Sie macht konkrete Vorschläge zur Stärkung der Selbstregulation bei beeinträchtigten Kindern. Frühkindliche Fähigkeiten - Künstliche Intelligenz Die moderne Entwicklungspsychologie betont mehr denn je die herausragende Fähigkeit zum komplexen und abstrakten Lernen schon im Säuglings- und Kleinkindalter. Interessante Einsichten erbrachten Forschungsergebnisse im Vergleich von Lernen in der frühen Kindheit mit der Leistungsfähigkeit der Künstlichen Intelligenz (KI) heute. Die am weitesten entwickelten KIs sind immer noch weit davon entfernt, Probleme zu lösen, die vierjährige Kinder „mit Leichtigkeit“ bewältigen (Gopnik 2019). Sie untersuchte, auf welche Art und Weise Säuglinge und Kleinkinder aus großen Mengen an Informationen bestimmte Muster erkennen. Zum Beispiel schaffen es bereits Vierjährige, allein mit ein oder zwei Beispielen so zu lernen, wie es ein „Top-down“-Reflexions-System (KI) mit Millionen von Daten leisten kann. Insbesondere sind dabei zwei Aspekte des kindlichen Lernens hervorzuheben: Kinder sind aktive Lerner. Sie „saugen“ nicht nur passiv Wissen auf, so wie 18 FI 1/ 2021 Franz Peterander 40. Jahrgang es die KI tut, sondern sie experimentieren wie Wissenschaftler: sie sind intrinsisch motiviert, durch Spiel und Erkundung aus ihrer Umwelt Informationen abzuleiten. Arbeiten von Alison Gopnik zeigen, dass dieses Lernen weitaus systematischer erfolgt, als man glauben möchte. Zudem sind Kinder im Unterschied zu heutigen KIs soziale und kulturelle Lerner. Menschen lernen nicht isoliert, sondern profitieren von dem gesammelten Wissen vergangener Generationen. Kindergartenkinder wie auch Kinder in der Frühförderung lernen, indem sie andere nachahmen und den Aussagen anderer zuhören. Aber sie gehorchen ihren „Lehrern“ nicht einfach blind. Stattdessen nehmen sie Informationen von anderen auf eine bemerkenswert subtile und aufmerksame Weise auf, indem sie komplexe Schlussfolgerungen darüber ziehen, von woher die Information stammt und wie vertrauenswürdig die Person ist. Sie verknüpfen dabei auch ihre eigenen Erfahrungen systematisch mit dem, was sie wahrnehmen. Es wurde empirisch nachgewiesen, dass Kleinkinder auch eher unwahrscheinliche Hypothesen aufstellen, als dies ältere Kinder und Erwachsene tun. Bisher ist allerdings fast nichts darüber bekannt, wie diese Art des kreativen Lernens und der Innovation möglich ist. Alison Gopnik führt dazu aus, dass bis dieses basale Paradoxon des Lernens nicht aufgelöst ist, auch die beste Künstliche Intelligenz nicht in der Lage sein wird, mit einem durchschnittlich begabten vierjährigen Kind zu konkurrieren. Praktische Bedeutung Das Lernen auf der Grundlage komplexer mentaler Repräsentationen hat in viele Lebensbereiche Eingang gefunden. Auf dem Edelman- Prinzip beruhen zum Beispiel weitgehend Computerspiele und die TV-Werbung, die mehr als erfolgreich dabei sind, ihre Inhalte und Wirkungen im Gedächtnis von Kindern und Erwachsenen tiefgreifend zu verankern. Das Videoportal „TikTok“ macht es eindrucksvoll vor. Viele Sinne werden über die Neuen Medien parallel multisensorisch angesprochen und die neuen Erfahrungen wiederum als komplexe mentale Repräsentationen im Gedächtnis in vernetzter Form abgespeichert. Ein schnelles und hochwirksames Lernen findet statt - und fördert so Spiel- und Kaufverhalten. Dieses offensichtlich erfolgreiche Lernprinzip könnte sich auch die Interdisziplinäre Frühförderung zunutze machen, wenn Lernen von Kindern und Eltern zukünftig, z. B. auch über eine Vielzahl von 1 - 2-minütigen lernorientierten Videoszenen auf einer multisensorischen Ebene erfolgt - das wäre ein neuer Weg effektiven Lernens, der sich aus den Forschungsergebnissen der Kognitiven Psychologie und der Neurobiologie unmittelbar ableiten lässt. Schluss Die Interdisziplinäre Frühförderung benötigt aus meiner Sicht eine noch stärkere Betonung der Förderung mentaler Fähigkeiten der Kinder, um das erreichte hohe fachliche Differenzierungsniveau in diesem Fördersystem wirkungsvoll zu nutzen. Zu solchen Überlegungen gehört auch, dass Inhalte aus der Vielzahl der pädagogisch-psychologisch-medizinischen Fördermöglichkeiten in neuer Weise geordnet und gedacht werden. Dies wird zum Beispiel über den Ansatz der Kognitiven Psychologie möglich, wobei frühere und neuere Lernkonzepte emergent zusammenzuführen sind - neue Ideen können daraus erwachsen. Lernen zu verstehen ist der Dreh- und Angelpunkt der Qualität der Arbeit der Fachleute verschiedener Disziplinen in der Interdisziplinären Frühförderung. Die Kognitive Psychologie, die Entwicklungspsychologie und die Neurobiologie ermöglichen im Zusammenwirken erweiterte Erklärungsansätze zum Lernen und damit zur Förderung von Kindern, die in der Zukunft zu nutzen sein werden. Otto Speck hat mit seinem wichtigen Buch „Hirnforschung und Erziehung“ 19 FI 1/ 2021 Lernen verstehen (2008) eine kritisch-reflexive Diskussion über Chancen und Risiken des Verhältnisses von Pädagogik und Neurobiologie angestoßen. Die Kognitive Psychologie unterscheidet sich von anderen Konzepten durch die Breite des möglichen Förderhandelns, das die Frühfördernden selbst kreieren und weiterentwickeln können, was meinen eigenen fachlichen Erfahrungen und meinen Überzeugungen entgegenkommt. Zudem handelt es sich hier im Gegensatz zu früher oft defizitorientierten Förderkonzepten um einen ressourcenorientierten Ansatz, der noch mehr wie andere die individuellen Lernpotenziale der Kinder in den Mittelpunkt der Förderung stellt. Literatur Bargh, J. B. (2018): Vor dem Denken - Wie das Unbewusste uns steuert. Droemer, München Duckworth, A. I., Seligman, M. E. P. (2005): Selfdiscipline outdoes IQ in predicting academic performance of Adolescents. Psychological Science 16 (12), 939 - 944, https: / / doi.org/ 10.1111/ j.1467-9280.2005. 01641.x Edelman, G. M. (2007): Das Licht des Geistes. Rowohlt, Hamburg Ericsson, K. A., Pool, R. (2016): Top - Die neue Wissenschaft vom bewussten Lernen. Pattloch, München Gopnik, A. (2019): AIs versus Four-Year-Olds. In: Brockman, J. (Ed.): Possible Minds - 25 Ways of Looking at AI. New York, Penguin Press Hebb, D. (1949): Organization of Behavior - A Neuropsychological Theory. Wiley, New York Michaelis, R. (2011): Motorische Entwicklung. In: Keller, H. (Hrsg.): Handbuch der Kleinkindforschung, 3. Auflage. Göttingen, Hans Huber, 815 - 859 Miller, G., Galanter, E., Pribram, K. H. (1960): Pläne und Strukturen des Verhaltens. Ernst Klett, Stuttgart Pauen, S. (2019): Wie funktioniert Selbstregulierung und was führt zu innerer Stärke? Fiduz 43, 30 - 32 Piaget, J. (1926): La représentation du monde chez l`enfant. Alcan, Paris Roth, G. (1997): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Siegel, D. (2010): Wie wir werden, die wir sind. Junfermann, Paderborn Speck, O. (2008): Hirnforschung und Erziehung. Ernst Reinhardt, München Stern, E., Neubauer, A. (2013): Intelligenz - Große Unterschiede und ihre Folgen. Deutsche Verlags- Anstalt, München Stern, D. (2005): Der Gegenwartsmoment. Brandes & Apsel, Frankfurt a. M. a www.reinhardt-verlag.de Sprechen fördern Dieses Buch gibt Eltern einen Überblick über den Verlauf der normalen Entwicklung des Sprechens und erläutert die dazu notwendigen Voraussetzungen. Mögliche Störungen werden aufgezeigt und erklärt. Zahlreiche Spielvorschläge regen zu einem kreativen Umgang mit dem Sprechen an. Die 8. Auflage wurde komplett überarbeitet. Walburga Brügge / Katharina Mohs So lernen Kinder sprechen Kinder in ihrer Sprachentwicklung begleiten 8., vollständig überarbeitete Auflage 2020. 121 Seiten. 12 Abb. 3 Tab. Innenteil zweifarbig. (978-3-497-03002-6) kt
