eJournals Frühförderung interdisziplinär 40/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2021.art06d
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2021
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Originalarbeit: Das DC: 0-5-Klassifikationssystem zur Diagnose von psychischen Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern

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2021
Alexander von Gontard
Psychische Störungen sind bei jungen Kindern häufig, können aber erkannt und wirksam behandelt werden. Dazu ist eine exakte Diagnose erforderlich. Das Klassifikationssystem DC: 0–5 wurde speziell für das Alter bis zu fünf Jahren entwickelt und ermöglicht altersspezifische Diagnosen. Besonders wichtig ist die erste Achse, die mögliche psychische Störungen beschreibt und erfasst. Das Ziel dieser Übersicht ist es, Mitarbeitern/-innen im Bereich der Frühförderung eine praxisorientierte Übersicht über die Vielfalt psychischer Störungen und ihrer Diagnose nach DC: 0–5 zu vermitteln. Die Erfassung psychischer Störungen hat eine hohe Relevanz für die Planung von Beratung und Therapie.
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Frühförderung interdisziplinär, 40.-Jg., S.-38 - 51 (2021) DOI 10.2378/ fi2021.art06d © Ernst Reinhardt Verlag 38 Das DC: 0 - 5-Klassifikationssystem zur Diagnose von psychischen Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern Relevanz für die Frühförderung Alexander von Gontard Zusammenfassung: Psychische Störungen sind bei jungen Kindern häufig, können aber erkannt und wirksam behandelt werden. Dazu ist eine exakte Diagnose erforderlich. Das Klassifikationssystem DC: 0 - 5 wurde speziell für das Alter bis zu fünf Jahren entwickelt und ermöglicht altersspezifische Diagnosen. Besonders wichtig ist die erste Achse, die mögliche psychische Störungen beschreibt und erfasst. Das Ziel dieser Übersicht ist es, Mitarbeitern/ -innen im Bereich der Frühförderung eine praxisorientierte Übersicht über die Vielfalt psychischer Störungen und ihrer Diagnose nach DC: 0 - 5 zu vermitteln. Die Erfassung psychischer Störungen hat eine hohe Relevanz für die Planung von Beratung und Therapie. Schlüsselwörter: DC: 0 - 5, Klassifikation, psychische Störungen, Säuglinge, Kleinkinder, Vorschulkinder The DC: 0 - 5 classification system for the diagnosis of psychological disorders in infants, toddlers and preschoolers - relevance for professionals in early intervention programs Summary: Psychological disorders are very common among young children, but can be assessed and treated effectively. An exact diagnosis is needed for specific therapy. The DC: 0 - 5 classification system was developed for the age group of up to 5 years and enables age-specific diagnoses. The first axis is of highest relevance, as it describes and defines psychological disorders of the child. The aim of this review is to provide a practical overview of the wide variety of possible disorders and their diagnosis according to DC: 0 - 5 for professionals caring for young children. The diagnosis of psychological disorders is of high relevance for planning counselling and therapy. Keywords: DC: 0 - 5, classification, psychological disorders, infants, toddlers, preschoolers ORIGINALARBEIT Einleitung P sychische Störungen sind bei jungen Kindern mit einer Prävalenz von 10 - 15 % genauso häufig wie bei Schulkindern (von Gontard 2019). Sie werden leider oft übersehen, nicht adäquat diagnostiziert und unzureichend behandelt. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass bei psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind-und Vorschulalter die rasante Entwicklungsdynamik und die enge Einbeziehung von Bezugspersonen eine größere Rolle spielen als zu späteren Zeiten. Andererseits sind die etablierten Klassifikationssysteme der ICD-10 (Remschmidt et al. 2001) und der DSM-5 (APA 2013; Falkai und Wittchen 2015) zur Erfassung vieler Störungen in diesem Alter nicht sensibel genug, weswegen die ‚Diagnostische Klassifikation seelischer Gesundheit und Entwicklungsstörungen der frühen Kindheit‘, kurz DC: 0 - 5, entwickelt wurde (Zero to Three 2016 und 2019). 39 FI 1/ 2021 Relevanz der DC: 0 - 5 für die Frühförderung Da manche Fachleute im Bereich der Frühförderung möglicherweise mit diesem neuen Klassifikationssystem wenig vertraut sind, ist es das Ziel dieser Arbeit, einen Überblick zur praktischen Relevanz der DC: 0 - 5 zu vermitteln. Dabei liegt der Fokus auf der ersten Achse der DC: 0 - 5, nach der mögliche psychische Störungen des Kindes klassifiziert und definiert werden. Historische Entwicklung Die DC: 0 - 5 ist ein multiaxiales Klassifikationssystem, das die Diagnose oder den Ausschluss psychischer Störungen im Alter von 0 - 5 Jahren ermöglicht. Sie wurde von der Zero to Three Organisation herausgegeben, die ihren Sitz in den Vereinigten Staaten hat. Es handelt sich um eine Non-Profit-Organisation, die sich seit 1977 intensiv für die Belange und das Wohlergehen von jungen Kindern und ihren Familien in der klinischen Arbeit und der Wissenschaft einsetzt. Eines ihrer wichtigen Projekte ist die Entwicklung von Klassifikationssystemen, die eine international akzeptierte, einheitliche Grundlage zur Diagnosestellung und Kommunikation mit klar definierten Begriffen und Störungsbildern ermöglichen. Dies erleichtert den klinischen und wissenschaftlichen Austausch und bietet eine gute Grundlage für die Forschung. Das erste Klassifikationssystem, die DC: 0 - 3, wurde schon im Jahr 1994 veröffentlicht und 1999 ins Deutsche übersetzt (Zero to Three 1994 und 1999). Über viele Jahre diente die DC: 0 - 3 als wichtiges, ergänzendes Klassifikationssystem in Praxen und Spezialambulanzen. Basierend auf klinischen Erfahrungen und Forschungsergebnissen wurde sie revidiert und als DC: 0 - 3R publiziert (Zero to Three 2005). Diese Version wurde leider nicht ins Deutsche übersetzt, bildete aber die Grundlage der deutschen AWMF- Leitlinien zu psychischen Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern (von Gontard et al. 2015). Beide Versionen, die DC: 0 - 3 und die DC: 0 - 3R, waren, wie ihr Name es ausdrückt, für das Alter von 0 bis 3 Jahren konzipiert, wurden aber oft in der Klinik auch für ältere Kinder angewendet. Allerdings fehlten wichtige Störungen, wie zum Beispiel die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und die Autismus Spektrum Störungen (ASS). Zudem hat die Forschungstätigkeit zu psychischen Störungen in der frühen Kindheit in den letzten zehn Jahren enorm zugenommen, sodass eine Revision dringend notwendig wurde (von Gontard 2019). Die DC: 0 - 5 hat die Defizite ihrer Vorgängerversion aufgegriffen und neu überarbeitet. In dem Manual kann man ihren Entstehungsprozess transparent nachvollziehen. Nach Sichtung neuer Forschungsergebnisse wurden Spezialisten in der ganzen Welt angeschrieben und um Vorschläge zur Revision gebeten. In mehreren Konsensusrunden wurden vorläufige Versionen erarbeitet, die wiederum öffentlich zur Diskussion gestellt wurden. Obwohl fast alle Mitarbeiter der DC: 0 - 5 aus den USA stammen, sind internationale Erfahrungen und Beiträge in die Formulierungen eingeflossen. Nachdem die DC: 0 - 5 2016 in englischer Sprache erschien, wurde sie übersetzt und 2019 in Deutsch veröffentlicht (Zero to Three 2016 und 2019). Sie wird auch Grundlage der neuen AWMF-Leitlinien sein, die 2020 überarbeitet werden (von Gontard et al. 2015). Die wichtigste Neuerung der DC: 0 - 5 ist die Erweiterung der Altersspanne, sodass jetzt auch vierbis fünfjährige Kinder diagnostiziert werden können. Zum anderen sind viele neue Störungen aufgenommen worden, die in der DC: 0 - 3R gefehlt haben. Auch neue Schwerpunkte sind gesetzt worden, unter anderem die Definition von Vorläuferstörungen von ADHS und ASS, die eine frühe Erkennung und Intervention ermöglichen. Zuletzt werden neu konzeptualisierte Störungen vorgestellt, wie zum Beispiel die dysregulierte Ärger- und Aggressionsstörung, die in der Praxis eine zunehmende Rolle spielt und den klinischen Fokus 40 FI 1/ 2021 Alexander von Gontard bei den externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten auf die Emotionsregulation verschiebt (Hussong et al. 2020). Zuletzt ist die Einführung der spezifischen Beziehungsstörung der frühen Kindheit ein absolutes Novum. Definiert als psychische Auffälligkeit des Kindes, die sich nur in einer speziellen Beziehung zeigt, weist sie auf ein Versagen der versorgenden Beziehung mit hoher Gefährdung des Kindes hin. Dass eine Beziehungsstörung zwischen zwei Menschen gleichrangig mit anderen, Kind-immanenten Störungen gewertet wird, bedeutet einen wichtigen Schritt für die Arbeit mit jungen Kindern. Aufbau der DC: 0 - 5 Die DC: 0 - 5 wird in Ergänzung zu den bisherigen Klassifikationssystemen der ICD-10 und der DSM-5 angewendet. Es können fünf Achsen unterschieden werden (Tab. 1): n Achse I: Klinische (psychische) Störung n Achse II: Beziehungskontext n Achse III: Medizinische Diagnosen n Achse IV: Psychosoziale Stressoren n Achse V: Entwicklungskompetenzen Mit Abstand am wichtigsten ist Achse I, die die klinischen psychischen Störungen beschreibt und erfasst. Sie ist unverzichtbar und sollte immer berücksichtigt werden (Tab. 3). Wegen ihrer hohen Relevanz werden die wichtigsten Störungen der Achse I in einem unteren Abschnitt detailliert behandelt. Nach Achse I kann auch eine schwere Beziehungsstörung erfasst werden, nämlich dann, wenn das Kind eine klinisch relevante Symptomatik in einer spezifischen Beziehung aufweist. Achse II erfasst den Beziehungskontext (Tab. 2). Es wird dabei zwischen der Versorgungsdimension der primären Bezugsperson und dem Netzwerk der versorgenden Umgebung des Kindes unterschieden. Mittels Skalen, die in dem Manual der DC: 0 - 5 abgedruckt sind, werden die Qualitäten der Beziehung wie auch der Umwelt in vier Stufen eingeteilt. Nur bei Stufe eins, d. h. eine gut adaptierte bis genügende Beziehung und Umgebung, ist der Schutz des Kindes gewährleistet. Ab Stufe zwei werden Risiken des Kindes erfasst. Bei Stufe vier, einer desorganisierten und gefährdenden Beziehung und Umgebung, ist die Sicherheit des Kindes nicht mehr gewährleistet und eine Intervention ist eindeutig und rasch notwendig. Achsen Inhalt Relevanz Achse I: Klinische (psychische) Störung Psychische Störungen des Kindes Siehe Tabelle 1 Sehr hoch, unverzichtbar Achse II: Beziehungskontext Versorgungsdimensionen der Beziehung und der Umgebung, jeweils in vier Stufen Hoch, aber in der Praxis schwer umsetzbar Achse III: Medizinische Diagnosen Erkrankungen des Kindes Können über die ICD-10 erfasst werden Achse IV: Psychosoziale Stressoren Stressoren und Risikofaktoren des Kindes Können über die ICD-10 erfasst werden Achse V: Entwicklungskompetenzen Checklisten zu Meilensteinen und Entwicklungskompetenzen des Kindes, nach Alter und nach Kompetenzbereichen gegliedert Praktische Entwicklungsgitter, ersetzen nicht Entwicklungsdiagnostik Tab. 1: Übersicht über Achsen I - V nach DC: 0 - 5 (2016) 41 FI 1/ 2021 Relevanz der DC: 0 - 5 für die Frühförderung Klinische Störungen nach Achse I und die problematischen Stufen drei und vier nach Achse II können, aber müssen nicht notwendigerweise koexistieren. So kann ein junges Kind zum Beispiel mit einer schweren ASS in einer gut adaptierten Beziehung und Umgebung aufwachsen. Andererseits können resiliente Kinder in einer gefährdenden Beziehung und Umgebung leben und noch keine eigene Störung aufweisen. Bei der spezifischen Beziehungsstörung nach Achse I weist das Kind eine heterogene Problematik auf, die sich jedoch nur in einer Beziehung, aber nicht in anderen zeigt. Meistens wird diese mit Stufen drei und vier der Achse II verbunden sein. Andererseits bedeutet eine Beurteilung auf Stufe drei oder vier der Achse II nicht notwendigerweise, dass eine spezifische Beziehungsstörung vorliegt, d. h. die Problematik des Kindes, wenn vorhanden, kann sich in mehreren Beziehungen manifestieren. Die Intention der Achse II ist mit Sicherheit begrüßenswert. Nach der Achse II werden die Beziehungsqualität und die Güte der versorgenden Umwelt des Kindes erfasst. Die vorgeschlagenen Beurteilungsinstrumente und die Konstrukte sind allerdings nicht empirisch überprüft. Schon die Beziehungsstörungen nach DC: 0 - 3R wurden nur wenig erforscht (von Gontard 2019). Ein wesentlicher Nachteil der Achse II nach DC: 0 - 5 ist die fehlende Angabe der Qualität der Bindungsstörung. In der Vorgängerversion konnte noch unterschieden werden zum Beispiel zwischen unter- und überinvolvierten, ängstlich/ angespannten, ärgerlich/ ablehnenden, vernachlässigenden und misshandelnden Beziehungen. Dies war für die klinische Einschätzung wichtig und geht bei der DC: 0 - 5 verloren. Zuletzt sind die Vorgaben der Achse II in der klinischen Praxis nur mit erheblichem zeitlichen Aufwand umzusetzen, weshalb viele Kliniken und Praxen darauf verzichten. Die DC: 0 - 5 soll in Ergänzung zu den bisherigen Klassifikationssystemen der ICD-10, bzw. DSM-5 verwendet werden. Es ist nicht notwendig, dass alle Achsen der DC: 0 - 5 in jedem Fall zur Anwendung kommen. Nach den AWMF-Leitlinien sind die ersten beiden Achsen der DC: 0 - 5 entscheidend. Die weiteren Achsen können natürlich verwendet werden, sind aber nicht zwingend notwendig (von Gontard et al. 2015). Falls nicht alle Achsen der DC: 0 - 5 zur Anwendung Stufen Versorgungsdimension Versorgende Umgebung Bemerkungen Primäre Bezugspersonen des Kindes Netz von versorgenden Beziehungen des Kindes der Umgebung 1 Gut adaptierte bis genügende Beziehung Gut adaptierte bis genügende Umgebung Spanne von ausreichend bis hervorragend, Schutz des Kindes gewährleistet 2 Belastete und besorgniserregende Beziehung Belastete und besorgniserregende Umgebung Besorgniserregende Interaktionsmuster und Erfahrungen, Belastung des Kindes 3 Eingeschränkte und gestörte Beziehung Eingeschränkte und gestörte Umgebung Klinische Besorgnis, Interventionen wegen erhöhten Risikos des Kindes erforderlich 4 Desorganisierte und gefährdende Beziehung Desorganisierte und gefährdende Umgebung Schwere, gefährdende Problematik, eindeutige Notwendigkeit zur Intervention zum Schutz des Kindes Tab. 2: Beziehungskontext nach Achse II der DC: 0 - 5 42 FI 1/ 2021 Alexander von Gontard kommen, sollten die Achsen des multiaxialen Klassifikationsystems der ICD-10 berücksichtigt werden, das in vielen Kliniken, Praxen und Beratungsstellen eingeführt ist. Auf der Achse III der DC: 0 - 5 werden somatische Erkrankungen des Kindes erfasst, die genauso gut über die ICD-10 klassifiziert werden können. Zur Erfassung psychosozialer Umweltstressoren nach Achse IV bietet die DC: 0 - 5 eine sehr ausführliche Checkliste, die in Einzelfällen hilfreich sein könnte. Im Gegensatz zur ICD-10 sind die Stressoren nicht auf die letzten sechs Monate beschränkt. Zuletzt bietet die DC: 0 - 5 für die Achse V altersbezogene Entwicklungsgitter, die praxistauglich sind. Der Entwicklungsstand des Kindes kann bezüglich seiner emotionalen, sozialen, sprachlich-kommunikativen, kognitiven und motorischen Entwicklung rasch eingeschätzt werden. Diese Entwicklungsgitter ersetzen jedoch keine standardisierte Entwicklungsdiagnostik. Nach einem Überblick über die fünf Achsen der DC: 0 - 5 wird im folgenden Abschnitt die Achse I ausführlich behandelt. Klinische psychische Störungen nach Achse I Grundlage einer zuverlässigen Diagnosestellung ist eine gute und exakte Diagnostik. In den AWMF-Leitlinien wird zwischen einer Basis- und erweiterten Diagnostik unterschieden (von Gontard et al. 2015). Die Basisdiagnostik ist klinisch orientiert und kann bei entsprechender Ausbildung in jedem professionellen Kontext durchgeführt werden. Sie umfasst eine genaue Anamnese, einen psychopathologischen Befund, eine Interaktionseinschätzung und eine körperliche Untersuchung. Diese Basisdiagnostik kann durch spezifische Instrumente ergänzt werden, wie zum Beispiel durch Fragebögen, Beobachtungsinstrumente, Entwicklungs- und Intelligenztests, strukturierte Interviews und standardisierte Interaktionsdiagnostik. Eine aktuelle Übersicht findet sich bei Bolten (2020). Nach Abschluss der Diagnostik kann eine Diagnose nach DC: 0 - 5 und/ oder ICD-10 gestellt werden bzw. in manchen Ländern nach DSM-5. Eine Beratung der Eltern ist immer indiziert, selbst bei subklinischer Symptomatik, die nicht die Kriterien für eine Störung erfüllt. Weitergehende Interventionen und Psychotherapien sind nur indiziert, wenn tatsächlich eine Diagnose vorliegt. Von daher ist diese kategoriale Einteilung für Entscheidungsfindung und Weichenstellung in der Praxis sehr wichtig. Sie ermöglicht eine Orientierung zunächst ob eine Therapie notwendig ist oder nicht, des Weiteren welche Therapieform für die entsprechende Störung am wirksamsten ist. Die Entscheidung sollte immer nach evidenzbasierten Empfehlungen, zum Beispiel durch Leitlinien, erfolgen (von Gontard et al. 2015). Um sich mit der DC: 0 - 5 vertraut zu machen, lohnt es sich sehr, das gesamte Manual zu lesen. Es wird eine Fülle von Hintergrundinformationen vermittelt, die zur Einbettung der Diagnose wichtig sind. Nach einer Einleitung werden für jede Störung zum Beispiel diagnostische, diagnosestützende und Entwicklungsmerkmale, Prävalenz, Verlauf, Risiken und Prognose, kultur- und geschlechtsspezifische Aspekte, Differenzialdiagnose, Komorbidität und Verbindungen zur DSM-5 und ICD-10 vermittelt. Diese wichtigen Informationen ersetzen zwar kein Lehrbuch, verdeutlichen und begründen aber gut die Auswahl der beschriebenen Störungsbilder. Das Herzstück für jede Störung ist der diagnostische Algorithmus. Für jede Störung wird vorgegeben, welche und wie viele Symptome zur Diagnose vorhanden sein müssen. Als Weite- 43 FI 1/ 2021 Relevanz der DC: 0 - 5 für die Frühförderung res werden Ausschlusskriterien genannt, die mit einer Diagnose nicht vereinbar sind. Nicht nur die Symptome an sich sind für die Diagnosestellung wichtig, sondern die Beeinträchtigung des Kindes und der Familie. In fünf Punkten werden mögliche Beeinträchtigungen genannt, zum Beispiel kann die Störung Stress und Leid beim Kind verursachen, seine Beziehungen beeinträchtigen, die Teilnahme an entwicklungsbedingt erwarteten Aktivitäten und Routinen einschränken, die Familie im Alltag beschränken und sich negativ auf die folgenden Entwicklungsschritte auswirken. Es geht somit nach der DC: 0 - 5 nicht nur um die Symptomatik des Kindes, sondern eine Diagnose auf Achse I verlangt auch eine entsprechende Beeinträchtigung von Kind und Familie. Hierdurch liegt die Schwelle zur Diagnosestellung höher als in den Vorläuferversionen, d. h. der DC: 0 - 3 und der DC: 0 - 3R. Eine Diagnose kann nur bei entsprechender klinischer Relevanz gestellt werden. Dies wirkt einer leichtfertigen Diagnose psychischer Störungen im Altersbereich von 0 bis 5 Jahren entgegen. Sehr wichtig sind weiterhin die Altersangaben. Wie in Tab. 3 ersichtlich, wird für manche Störungen ein Mindestalter zur Diagnose angegeben. Andere Störungen sind sogar an eine Altersspanne gebunden, während bei einer Minderheit keine Altersbegrenzung vorgesehen ist. Durch die Altersangaben wird betont, dass manche Störungen einen entsprechenden Entwicklungsstand des Kindes voraussetzen. So sind viele der in Tab. 3 aufgeführten Störungen schon vom Alter her bei Säuglingen gar nicht möglich. Zuletzt sind auch die Angaben zur Dauer der Symptome für die Diagnosestellung wichtig, um ein sporadisches Auftreten von einer persistierenden Störung zu unterscheiden. Im klinischen Kontext kann man - nach abgeschlossener Diagnostik - anhand des diagnostischen Algorithmus einer Störung jeden Punkt durchgehen und somit rasch zu einer Diagnose kommen - oder diese ausschließen. Vielfalt der psychischen Störungen nach Achse I der DC: 0 - 5 Das Spektrum psychischer Störungen, die junge Kinder betreffen können, ist sehr vielfältig und heterogen. Auch hier lohnt es sich sehr, sich mit der Einteilung der DC: 0 - 5 vertraut zu machen, die sich einerseits an der DSM-5 orientiert, aber eindeutige Schwerpunkte setzt. Es sollen nun im Folgenden die wichtigsten Störungen der DC: 0 - 5 der Reihenfolge nach anhand Tab. 3 nachvollzogen werden. Für detaillierte Informationen darf auf aktuelle Lehrbücher verwiesen werden, zum Beispiel von Gontard (2019). Wie in Tab. 3 ersichtlich, werden in der ersten Gruppe die sogenannten neurobiologischen Entwicklungsstörungen zusammengefasst. Typischerweise sind diese Störungen anlagebedingt, entweder durch genetische oder andere organische Faktoren, mit eindeutigen neurobiologischen Auswirkungen. Sie beginnen früh im Leben und zeigen eine hohe Persistenz. Zu diesen Störungen liegen viele Forschungsergebnisse vor (siehe von Gontard 2019). Die ASS sind besonders schwerwiegende neurobiologische Störungen, die schon im zweiten Lebensjahr diagnostiziert werden können. Betroffene Kinder weisen Defizite in der sozialen Kommunikation auf, sowie repetitive und stereotype Verhaltensweisen. Die Diagnostik der ASS erfordert spezielle Erfahrung und Instrumente, sodass sie von spezialisierten Praxen, Kliniken und Therapiezentren angeboten werden. Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass vor der vollen Ausprägung der ASS schon früher Vorläufersymptome vorhanden sein können, die das Risiko für eine ASS deutlich erhöhen. Die frühe atypische ASS ist so relevant, weil sie schon früher die Notwendigkeit einer spezifischen Intervention deutlich macht. 44 FI 1/ 2021 Alexander von Gontard Hauptdiagnosen Subtypen/ Unterdiagnosen Alter Bemerkungen Neurobiologische Entwicklungsstörungen (Anlagebedingte Störungen mit frühem Beginn und hoher Persistenz) Autismus-Spektrum-Störung (ASS) Ab 18 Monate* Schwere Störungen mit erheblicher Beeinträchtigung Frühe atypische Autismus-Spektrum- Störung 9 - 36 Monate Vorläuferstörung, ermöglicht frühe Intervention Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Ab 36 Monate Sehr häufig, Hauptsymptome Hyperaktivität und Impulsivität Überaktivitätsstörung des Kleinkindalters 24 - 36 Monate Vorläuferstörung, gesteigerte motorische Aktivität Globale Entwicklungsverzögerung Ab 6 Monate Entspricht Intelligenzminderung nach ICD-10 (F 70 bis F 73) Störung der Sprachentwicklung Ab 24 Monate Entspricht umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache nach ICD-10 (F 80) Entwicklungsbezogene Koordinationsstörung Ab 24 Monate Entspricht umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen nach ICD-10 (F 82) Andere neurobiologischen Entwicklungsstörungen der frühen Kindheit Keine Angaben Restkategorie Sensorische Verarbeitungsstörungen (Ersetzt den Begriff Regulationsstörung, Fokus auf Reaktionen auf externe Stimuli) Sensorische Überreaktivitätsstörung Ab 6 Monate Häufig Sensorische Unterreaktivitätsstörung Ab 6 Monate Selten Andere sensorische Verarbeitungsstörungen Ab 6 Monate Restkategorie Angststörungen Störung mit Trennungsangst Keine Angaben Häufige Angststörung vor und während Trennung Soziale Angststörung Ab 36 Monate Ängste vor fremden Menschen Generalisierte Angststörung Ab 36 Monate* Typische Symptome von Grübeln und Sorgen Selektiver Mutismus Keine Angaben Fehlendes Sprechen in bestimmten Beziehungen bei vorhandenem Spracherwerb Störung mit Inhibition gegenüber Neuem Unter 24 Monate Ängste vor neuen Objekten und Veränderungen Andere Angststörungen der frühen Kindheit Keine Angaben Restkategorie Tab. 3: Übersicht über Störungen der Achse I nach DC: 0 - 5 (2016) u 45 FI 1/ 2021 Relevanz der DC: 0 - 5 für die Frühförderung Hauptdiagnosen Subtypen/ Unterdiagnosen Alter Bemerkungen Affektive Störungen Depressive Störung der frühen Kindheit Ab 24 Monate* Wichtige Störung mit schwerer Beeinträchtigung, wird oft nicht erkannt Dysregulierte Ärger- und Aggressionsstörung der frühen Kindheit Ab 24 Monate Wichtige externalisierende Störung, Fokus auf Regulationsproblemen von Emotionen Andere affektive Störung der frühen Kindheit Keine Angaben Restkategorie Zwangsstörungen und verwandte Störungen Zwangsstörung Ab 36 Monate Wird oft übersehen und zu spät diagnostiziert Tourette-Störung Ab 18 Monate* Erste Tics schon im zweiten Lebensjahr möglich Motorische oder vokale Tic-Störung Ab 36 Monate Entweder motorische oder vokale Tics Trichotillomanie Keine Angaben Schon bei Säuglingen sind Haarezupfen möglich, Gefahr der Ingestion Zwanghaftes Hautzupfen der frühen Kindheit Keine Angaben Assoziiert mit Belastungssituationen und Intelligenzminderung Andere Zwangsstörungen und verwandte Störungen Keine Angaben Restkategorie Schlafstörungen (Häufige und wichtige und Störungen mit hoher Belastung für Familien) Einschlafstörungen Ab 6 Monate Klassische Schlafstörung Durchschlafstörungen Ab 8 Monate Klassische Schlafstörung Partielle Aufwachstörung Ab 12 Monate Hierzu zählen Schlafwandeln und Pavor nocturnus Albträume der frühen Kindheit Ab 12 Monate Albträume mit biografischem Bezug Essstörungen (Wichtige Störungen, oft persistierend) Essstörung mit Überessen Ab 24 Monate Bisher nicht diagnostiziert, Risiko für Adipositas Essstörung mit Einschränkung der Nahrungsaufnahme Keine Angaben Heterogene Gruppe von Störungen mit reduzierter Nahrungsaufnahme Atypische Essstörung Keine Angaben Umfasst Pica, Rumination und Horten, in der Praxis nicht relevant u u 46 FI 1/ 2021 Alexander von Gontard Hauptdiagnosen Subtypen/ Unterdiagnosen Alter Bemerkungen Schreistörungen der frühen Kindheit (Belastende Störungen für Familie) Exzessive Schreistörung Keine Angaben Bis zum Alter von drei Monaten physiologisch, danach Risikofaktor für Entwicklung Andere Schlaf-, Ess- und Schreistörungen der frühen Kindheit Keine Angaben Restkategorie Trauma-, Belastungs- und Deprivationsstörungen (Wichtige Traumafolgestörungen, oft persistierend) Posttraumatische Belastungsstörung Ab 12 Monate* Wird zu selten diagnostiziert bei jungen Kindern Anpassungsstörung Keine Angaben Häufige Diagnose, in der Forschung vernachlässigt Komplizierte Trauerstörung der frühen Kindheit Keine Angaben; mit Vorsicht unter 9 Monate Verlust von enger Bezugsperson, bei jungen Kindern extrem belastend Reaktive Bindungsstörung Ab 9 Monate Bindungsstörung mit internalisierender Symptomatik, gute Prognose Soziale Bindungsstörung mit Enthemmung Ab 9 Monate; mit Vorsicht unter 9 Monate Bindungsstörung mit externalisierender Symptomatik, schlechte Prognose Andere Trauma-, Stress- und Deprivationsstörung der frühen Kindheit Keine Angaben Restkategorie Beziehungsstörungen (Neue Schwerpunktsetzung, Beziehungsstörung gleichwertige Bedeutung wie andere psychische Störung) Spezifische Beziehungsstörung der frühen Kindheit Keine Angaben Kind zeigt psychische und Verhaltenssymptomatik nur in einer speziellen Beziehung, Versagen der Versorgung, hohe Gefährdung * Unter diesem Alter nur mit Vorsicht zu stellen u 47 FI 1/ 2021 Relevanz der DC: 0 - 5 für die Frühförderung Die ADHS ist eine häufige neurobiologische Entwicklungsstörung, die ab dem Alter von drei Jahren diagnostiziert und behandelt werden kann. Im Vordergrund stehen Symptome der Hyperaktivität und Impulsivität, aber auch eine erhöhte Ablenkbarkeit kann vorhanden sein. In dem Alter von unter drei Jahren ist die variable Aufmerksamkeitsspanne sehr variabel, sodass eine Aufmerksamkeitsstörung noch nicht ausreichend klar von Normvarianten abgegrenzt werden kann. Vor Auftreten einer ADHS zeigen manche Kinder ein Stadium der extremen Überaktivität, die als eigene Vorläuferstörung von der DC: 0 - 5 beschrieben wurde. Diese zweibis dreijährigen Kinder sind motorisch so aktiv, dass sie dauernd überwacht werden müssen und in ihren Beziehungen erheblich eingeschränkt sind. Die Diagnose einer globalen Entwicklungsstörung entspricht der einer Intelligenzminderung und ist oft mit genetischen Syndromen verbunden. Die Sprachentwicklungsstörung ist eine Teilleistungsstörung des Sprechens und der Sprache, die entwicklungsbezogene Koordinationsstörung eine Störung der motorischen Funktionen. Als nächste Gruppe werden in der DC: 0 - 5 die sensorischen Verarbeitungsstörungen behandelt. Dieser Begriff ersetzt die bisherigen Regulationsstörungen, allerdings wird ein anderer Fokus gesetzt: die sensorischen Verarbeitungsstörungen werden als Kind-immanente, anlagebedingte Reaktionsbereitschaften auf externe Stimuli verstanden. Die sensorischen Verarbeitungsstörungen stellen somit Varianten der sogenannten sensorischen Reizschwelle dar, eine Unterdimension des kindlichen Temperaments. Das Kind kann sensorisch überreagieren (häufig), eine gedämpfte Antwort zeigen (selten) oder eine gemischte Reaktion aufweisen. Die sensorischen Verarbeitungsstörungen sind in der Praxis und der Frühförderung erkennbar, jedoch bisher wenig erforscht worden. Angststörungen zählen zu den häufigen Störungen bei jungen Kindern und werden von der DC: 0 - 5 ausführlich aufgegliedert. Die klassischen Angststörungen umfassen die Trennungsangst, bei der die Symptomatik bei antizipierter wie auch realer Trennung auftritt. Bei der sozialen Angststörung, auch soziale Phobie genannt, zeigt das Kind Furcht in sozialen Situationen, üblicherweise bei Konfrontation mit einer unbekannten Person. Die generalisierte Angststörung ist durch die Leitsymptome Sorgen und Grübeln gekennzeichnet, ganz analog zu älteren Kindern und Jugendlichen. Im Gegensatz zur Vorgängerversion DC: 0 - 3R wird die spezifische Phobie, eine der häufigsten Angststörungen bei Kindern, erstaunlicherweise nicht behandelt, d. h man muss sich an den Kriterien der ICD-10 oder DSM-5 orientieren. Zu den Angststörungen zählt auch der selektive Mutismus, d. h. die Unfähigkeit in spezifischen sozialen Situationen zu sprechen trotz vorhandenem Spracherwerb. Als schwere, persistierende Angststörung wird eine frühe Behandlung die Prognose deutlich verbessern. Die Störung mit Inhibition gegenüber Neuem kennzeichnet eine klinisch ausgeprägte Temperamentsvariante, die Behaviorale Inhibition, die schon im Säuglingsalter beobachtbar ist. Das Kind zeigt Angstsymptome in Konfrontation mit neuen Objekten, nicht nur Personen. Bei ausgeprägter Problematik und Beeinträchtigung wird sie als Störung konzeptualisiert. Eine frühe Behandlung kann das Risiko für eine spätere soziale Angststörung reduzieren. Die depressive Störung kann junge Kinder vor allem ab drei Jahren betreffen. Das Leitsymptom in diesem Alter ist die Anhedonie oder der Mangel an Freude am Spiel und an anderen Interessen. Eine Depression kann für ein junges Kind sehr einschränkend sein, wird in der Praxis oft übersehen. 48 FI 1/ 2021 Alexander von Gontard Als neue affektive Störung wird die Kategorie der dysregulierten Ärger- und Aggressionsstörung von der DC: 0 - 5 aufgenommen. Forschungsergebnisse zu externalisierenden Störungen konnten zeigen, dass bei vielen Kindern nicht das oppositionelle, verweigernde Verhalten im Vordergrund steht, sondern die eingeschränkte Fähigkeit, negative Emotionen adäquat zu regulieren. Typischerweise zeigt das Kind ein übergreifendes und anhaltendes Muster von Stimmungs- und Verhaltensdysregulation. Diese Störung ist vermutlich häufiger als bisher angenommen und erfordert eine Abgrenzung von einer Störung des Sozialverhaltens (Hussong et al. 2020). Die Zwangsstörungen wurden bisher bei jungen Kindern nicht adäquat wahrgenommen und zum Teil erst viele Jahre später diagnostiziert. Schon ab dem Alter von drei Jahren können Zwangsstörungen mit typischen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen auftreten. Die Tic-Störungen können Kinder ab dem Alter von 18 Monaten betreffen. Es kann sich entweder um vokale oder motorische Tics handeln wie auch um die Kombination beider Formen (Tourette Syndrom). Leider sieht die DC: 0 - 5 keine Diagnose einer vorübergehenden Tic- Störung, d. h. mit einer Dauer von unter zwölf Monaten, vor. Schon ab dem Säuglingsalter können Kinder Haare zupfen und zum Teil auch essen. Auch ein pathologisches Hautzupfen ist in diesen jungen Jahren möglich. Die Schlafstörungen sind häufige Vorstellungsgründe, da sie das Familienleben erheblich beeinträchtigen. Die Ein- und Durchschlafstörungen können schon im Säuglingsalter diagnostiziert werden. Zu den partiellen Aufwachstörungen zählen das Schlafwandeln und der Pavor nocturnus (Nachtschreck), die neurobiologisch bedingt sind. Albträume können Ausdruck von aktuellen Belastungssituationen des Kindes und sehr beeinträchtigend sein. Insgesamt sind die Schlafstörungen bei kooperativen Familien gut zu behandeln. Der Begriff Fütterstörung wurde in der DC: 0 - 5 komplett aufgegeben. Stattdessen wird der Begriff Essstörung empfohlen, um die aktive Beteiligung des Kindes an dem Prozess der Nahrungsaufnahme zu betonen. Die Essstörungen wurden in der DC: 0 - 5 in drei grobe Kategorien eingeteilt, die Essstörung mit Überessen, die Essstörung mit Einschränkung der Nahrungsaufnahme und die atypische Essstörung. Ein Novum ist die Beschreibung der Essstörung mit Überessen, bei der sich die Kinder exzessiv mit Themen der Nahrungsaufnahme beschäftigen. Das Überessen ist ein erheblicher Risikofaktor für eine Adipositas, die wiederum viele gesundheitliche Risiken nach sich zieht. In der Essstörung mit Einschränkung der Nahrungsaufnahme werden viele heterogene Essproblematiken zusammengefasst. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn diese, wie bisher in der DC: 0 - 3R, detaillierter beschrieben worden wären. Hinter dieser Kategorie versteckt sich ein fehlendes Interesse an Essen (sogenannte frühkindliche Anorexie) ein ängstliches Vermeiden des Essens im Rahmen einer Angststörung, Regulationsschwierigkeiten während des Fütterns sowie extrem wählerisches und selektives Essen. Unter der Kategorie atypische Essstörung werden Horten (Verstecken von Nahrung), Pica (habituelles Essen nicht essbarer Substanzen) und Rumination (Hochwürgen von Nahrung) zusammengefasst, die im klinischen Alltag selten und wenig relevant sind. Die Schreistörungen wiederum sind für Familien sehr belastend und werden entsprechend häufig vorgestellt. Studien konnten zeigen, dass das exzessive Schreien bis zum Alter von drei Monaten wenige Langzeitfolgen aufweist, während das persistierende exzessive Schreien ab dem Alter von vier Monaten mit Entwicklungsrisiken verbunden sein kann. 49 FI 1/ 2021 Relevanz der DC: 0 - 5 für die Frühförderung Zuletzt werden die Traumafolgestörungen differenziert und genau beschrieben und abgegrenzt. Die posttraumatische Belastungsstörung nach schweren Traumata ist sehr gut erforscht und kann ab dem Alter von zwölf Monaten nachgewiesen werden. Sie wird bei jungen Kindern zu selten erkannt und behandelt. Die Anpassungsstörung dagegen kann nach geringeren Umweltstressoren auftreten und bildet sich üblicherweise im Verlauf zurück. Zu dieser häufigen Störung liegen kaum qualitativ gute Forschungsergebnisse vor. Die komplizierte Trauerstörung der frühen Kindheit ist für dieses Alter sehr wichtig. Der Tod oder bleibender Verlust einer Bezugsperson ist für junge Kinder ein psychisch katastrophales Erlebnis, dass sich in einer vielfältigen Symptomatik ausdrücken kann. Die Bindungsstörungen sind Folgestörungen meist nicht nach umschriebenen Traumata, sondern nach anhaltender Vernachlässigung. Während die Bindungsstörungen früher als gemeinsame Störungsgruppe gesehen wurden, zeigen neue Forschungsergebnisse eindeutig, dass es sich um zwei verschiedene Störungsmuster handelt. Die reaktive Bindungsstörung ist durch fehlende Bindung zu Bezugspersonen, kombiniert mit emotionalem Rückzug und internalisierenden Symptomen gekennzeichnet. Die Prognose dieser Störung ist eher günstig. Die soziale Bindungsstörung mit Enthemmung dagegen ist durch fehlende Bindungsfähigkeit, jedoch externalisierender Symptomatik gekennzeichnet. Diese Störungen zeigen einen ungünstigen Verlauf oft mit verbleibender Restsymptomatik trotz intensiver Behandlung. Als letzte Störung führt die DC: 0 - 5 die spezifische Beziehungsstörung der frühen Kindheit ein. Es kann nicht oft genug betont werden, wie wichtig dieses Konstrukt ist, um eine extreme Gefährdung des Kindes zu erfassen. Nach der DC: 0 - 5 kann das Verhalten des Kindes sehr heterogen sein und oppositionelles Verhalten, Aggression, Ängstlichkeit, selbstgefährdendes Verhalten, Nahrungsverweigerung, Schlafverweigerung und unangemessenes Rollenverhalten mit Bezugspersonen aufweisen. Auch andere klinisch auffälligen Symptome können auftreten, je doch nur ausschließlich in der Beziehung zu einer Bezugsperson. Im Kontakt zu anderen Bezugspersonen fehlen diese Auffälligkeiten. Es ist wichtig zu betonen, dass die kindlichen Symptome Folgen einer dysfunktionalen Fürsorge- und Interaktionsgestaltung mit einem gestörten Beziehungsverhalten des Kindes darstellen. Im Gegensatz zu anderen Störungen liegt keine primäre, beziehungsübergreifende psychische Störung des Kindes vor. Die spezifische Beziehungsstörung ist ein Indikator für das Versagen der versorgenden Beziehung des Kindes und erfordert rasche Intervention. Erste Studien zur DC: 0 - 5 Erste Veröffentlichungen zur DC: 0 - 5 haben sich mit der allgemeinen Konzeptualisierung dieses Klassifikationssystems sowie speziell zu Essstörungen und ASS beschäftigt (Keren 2016; Mothander 2016; Soto et al. 2016; Zeanah und Lieberman 2016; Zeanah et al. 2016). Auch wurde ein strukturiertes Interview zur Diagnostik von psychischen Störungen nach DC: 0 - 5, ICD-10 und DSM-5 entwickelt, das strukturierte Interview für das Vorschulalter (SIVA 0 - 6) (Bolten 2020; Bolten et al. 2020). Die erste empirische Überprüfung erbrachte gute psychometrische Eigenschaften sowie eine hohe Akzeptanz im klinischen Alltag (In-Albon et al. 2020). Auch in einer Spezialambulanz für Säuglinge, Klein- und Vorschulkinder konnte die DC: 0 - 5 erfolgreich eingesetzt werden (Hussong et al. 2020). Es wurden 176 konsekutive vorgestellte Kinder mit einem mittleren Alter von 3,96 Jahren untersucht. 70,5 % waren Jungen bei 88,1 % 50 FI 1/ 2021 Alexander von Gontard der Kinder konnte mindestens eine Diagnose nach DC: 0 - 5 gestellt werden. Die häufigsten Einzeldiagnosen waren ADHS (30,7 %), die dysregulierte Ärger- und Aggressionsstörung (31,3 %) und die Schlafstörungen (22,2 %). Die DC: 0 - 5 war vor allem bei Säuglingen besonders wertvoll zur Erfassung der Störungen. Zusammenfassung und Ausblick Wenn man sich mit der DC: 0 - 5 vertraut gemacht hat, ist sie im klinischen Alltag sehr gut handhabbar und bietet eine wirklich große Hilfe für alle Professionellen in diesem Bereich. Sie vermittelt einen Überblick darüber, ob eine psychische Störung vorliegen kann oder nicht. Sie ist eine wichtige Entscheidungshilfe dafür, ob weitere spezifische Diagnostik notwendig ist, wie zum Beispiel bei den ASS. Auch kann die DC: 0 - 5 für die weitere Planung hilfreich sein, insbesondere zu entscheiden, ob eine Beratung ausreicht oder eine Therapie erforderlich ist. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die DC: 0 - 5 das spezifische Klassifikationssystem für junge Kinder. Es ist zu wünschen, dass die DC: 0 - 5 in der klinischen Praxis breit eingesetzt wird. Gerade in der Frühförderung spielt die DC: 0 - 5 eine wichtige Rolle. Zum einen bietet die Frühförderung die Möglichkeit, auch bei jungen Kindern psychische Störungen rechtzeitig zu erkennen und frühzeitig zu behandeln. Dadurch werden nicht nur Leiden und Beeinträchtigungen vermindert, sondern auch eine Chronifizierung der Störungen verhindert. Zudem ist die Rate von psychischen Störungen bei Kindern mit umschriebenen Entwicklungsstörungen (z. B. der Sprache und Motorik), Intelligenzminderung und chronischen körperlichen Erkrankungen und Behinderungen erhöht (von Gontard et al. 2015). Mithilfe der DC: 0 - 5 kann in der Frühförderung der Verdacht auf eine psychische Störung gestellt werden. In diesen Fällen sollte eine ausführliche Diagnostik durchgeführt werden und eine Diagnose gestellt oder ausgeschlossen werden. Bei dem Vorliegen einer psychischen Störung soll nach den AWMF-Leitlinien immer eine Elternberatung durchgeführt werden, bei entsprechender Indikation auch eine Behandlung (von Gontard et al. 2015). Zudem ist die DC: 0 - 5 das einzige Klassifikationssystem, das eine eigene Achse zur Einschätzung der Beziehung zwischen Kind und Bezugsperson/ Umgebung enthält (Achse II). Sie betont damit die Bedeutung der Beziehung für die Einschätzung kindlicher Symptome in dieser Altersgruppe. Für die Planung ‚passgenauer Hilfen‘, wie sie im Bereich der Frühförderung gefordert wird, ist ein Risiko- und Belastungsprofil Voraussetzung, auf dem dann diese ‚passgenauen Hilfen‘ basieren können. Genau das ermöglicht DC: 0 - 5, die nicht nur Störungen und Risiken, sondern auch Ressourcen, z. B. mittels der Beziehungsqualität auf Achse II, erfasst. Bedeutung für die Praxis Die DC: 0 - 5 stellt die Grundlage zur Diagnose psychischer Störungen bei Kindern zwischen Geburt und fünf Jahren dar. Die Diagnose basiert auf einer vorherigen Diagnostik. Achse I erfasst mögliche psychische Störungen des Kindes. Diagnosen ermöglichen und vereinfachen die Kommunikation mit anderen Fachleuten und dienen als Basis zur Indikationsstellung für Beratung und Therapie. Die DC: 0 - 5 ist in der Praxis auf der Grundlage einer differenzierten Diagnostik gut handhabbar. Prof. Dr. Alexander von Gontard Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Universität des Saarlandes 66421 Homburg E-Mail: alexander.von.gontard@uks.eu 51 FI 1/ 2021 Relevanz der DC: 0 - 5 für die Frühförderung Literatur American Psychiatric Association (2013): Diagnostic and statistical manual of mental disorders (DSM-5). APA, Washington, D.C. Bolten, M. (2020): Diagnostik im Vorschulalter (0 - 6 Jahre): Praxis und Herausforderungen. Kindheit und Entwicklung 29, 178 - 192 Bolten, M., Equit, M., von Gontard, A., In-Albon, T. (2020): Strukturiertes Interview für das Vorschulalter (SIVA 0 - 6). Universität Landau, Open-Access, https: / / cloud.uni-landau.de/ index.php./ s/ QgrHsD5iejsZ6y3 Falkai, P., Wittchen, H.-U. (Hrsg.) (2015): Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5. Hogrefe Verlag, Göttingen Hussong, J., Overs, C., Paulus, F., Bolten, M., In-Albon, T., Equit, M., von Gontard, A. 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