Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2021.art08d
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2021
402
Zusammenhang von Theory of Mind (ToM) und Sprachkompetenz bei Kindern mit Cochlea-Implantaten
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2021
Stefanie Kröger
Vanessa Hoffmann
Selina Forster
Fabian Overlach
Manfred Hintermair
Thorsten Burger
Ziel der vorliegenden Studie ist es, die ToM-Entwicklung von deutschsprachigen Vorschulkindern mit Cochlea-Implantaten (CI) im Vergleich zu normalhörenden Kindern (NHK) zu untersuchen und auf mögliche Zusammenhänge mit ihrer Sprachkompetenz zu analysieren. Das ToM-Verständnis von jeweils 19 CI-Kindern (CIK) und 19 (NHK) wird mit einem sprachreduzierten Erhebungsinstrument untersucht, und die sprachlichen Kompetenzen der Kinder werden mit Teilbereichen der Patholinguistischen Entwicklungsdiagnostik bei Sprachentwicklungsstörungen, PDSS, getestet. Zudem wird der Gebrauch kognitiver Begriffe erfasst. Auch wenn CIK bezogen auf die Gesamtskala CIK schwächer als NHK abschneiden, zeigen sich bei einzelnen Unteraufgaben vergleichbare Entwicklungsstände. Signifikante Zusammenhänge der ToM-Ergebnisse zeigen sich bei den CIK für die sprachlichen Kompetenzen, bei den NHK dagegen für ihr Lebensalter.
1_040_2021_2_0003
Frühförderung interdisziplinär, 40.-Jg., S.-78 - 90 (2021) DOI 10.2378/ fi2021.art08d © Ernst Reinhardt Verlag 78 Zusammenhang von Theory of Mind (ToM) und Sprachkompetenz bei Kindern mit Cochlea-Implantaten Stefanie Kröger, Vanessa Hoffmann, Selina Forster, Fabian Overlach, Manfred Hintermair, Thorsten Burger Zusammenfassung: Ziel der vorliegenden Studie ist es, die ToM-Entwicklung von deutschsprachigen Vorschulkindern mit Cochlea-Implantaten (CI) im Vergleich zu normalhörenden Kindern (NHK) zu untersuchen und auf mögliche Zusammenhänge mit ihrer Sprachkompetenz zu analysieren. Das ToM-Verständnis von jeweils 19 CI-Kindern (CIK) und 19 (NHK) wird mit einem sprachreduzierten Erhebungsinstrument untersucht, und die sprachlichen Kompetenzen der Kinder werden mit Teilbereichen der Patholinguistischen Entwicklungsdiagnostik bei Sprachentwicklungsstörungen, PDSS, getestet. Zudem wird der Gebrauch kognitiver Begriffe erfasst. Auch wenn CIK bezogen auf die Gesamtskala CIK schwächer als NHK abschneiden, zeigen sich bei einzelnen Unteraufgaben vergleichbare Entwicklungsstände. Signifikante Zusammenhänge der ToM-Ergebnisse zeigen sich bei den CIK für die sprachlichen Kompetenzen, bei den NHK dagegen für ihr Lebensalter. Schlüsselwörter: Theory of Mind, Vorschulkinder, Hörverlust, Lautsprachkompetenz Theory of Mind and language competence in children with cochlear Implant Summary: The aim of the present study is to examine the different stages of ToM development of German-speaking pre-school children with cochlear implants (CI) compared to normal hearing children (NHK) and to analyze possible correlations with their language skills. The ToMunderstanding of 19 CI-children (CIK) and 19 (NHK) each will be examined with a languagereduced survey instrument. The children’s linguistic competencies will be tested using sub-areas of the pathological developmental diagnostics of language development disorders, PDSS. In addition, the use of cognitive mental concepts is recorded. Considering the overall scale, CIK perform poorer than NHK, however comparable developmental statuses are found for individual subtasks. Even though CIK score lower than NHK on the overall scale, comparable developmental statuses are found for individual subtasks. Overall, CIK score lower on ToM tasks. For CIK significant correlations were found between the ToM results and their language skills. For NHK they were found between the ToM results and them being significantly correlated for age. Keywords: Theory of Mind, preschool children, hearing loss, spoken language skills ORIGINALARBEIT Einleitung D er Begriff „Theory of Mind“ (ToM) beschreibt die Fähigkeit, sich selbst und anderen Personen mentale Zustände, wie z. B. „wissen“, „glauben“, „wollen“ oder „fühlen“ zuzuschreiben und so Verhalten zu erklären und Handlungen vorauszusagen (Frith und Frith 2012). Diese Fähigkeit zur Perspektivübernahme ermöglicht es, sich in die Situation eines Gegenübers hineinzuversetzen und dabei zu erkennen, dass andere Menschen möglicherweise unterschiedliches Wissen über einen Sachverhalt haben als man selbst und dass dieses Wissen handlungsleitend sein kann. Die Vermutungen über die mentalen Zustände an- 79 FI 2/ 2021 Theory of Mind und Sprachkompetenz bei Kindern mit Cochlea-Implantaten derer Menschen spielen in der sozialen Interaktion eine wichtige Rolle und helfen, angemessen auf Äußerungen von Gesprächspartnern einzugehen und adäquat zu reagieren. Bei Kindern mit einem Hörverlust wird häufig von einer verzögerten ToM-Entwicklung berichtet (Spencer 2010, Vissers und Hermans 2019). Zudem werden Probleme in der sozialen Interaktion bei hörgeschädigten Kindern mit möglichen Erschwernissen in ihrer ToM-Entwicklung in Zusammenhang gebracht (Kentish 2007). Bevor Kinder in der Lage sind, Annahmen darüber zu treffen, was andere Personen sich wünschen, wissen bzw. was ihre Überzeugungen sind, entwickeln sie zunächst ein Verständnis für die Handlungsintentionalität ihres Gegenübers. So können 18 Monate alte Kinder bereits die Handlungsabsichten („Social Intentions“) anderer Personen anhand misslingender Handlungen erkennen (Meltzoff 1995). Wellman und Liu (2004) liefern Evidenz für eine feste Erwerbsreihenfolge von ToM-Kompetenzen und unterscheiden verschiedene Stufen. Dabei geht das grundlegende Verständnis von explizit erfahrbaren Konzepten, wie Wünschen und Vorlieben, dem Zuschreiben von Absichten und Überzeugungen voraus (ebd.). Die Erkenntnis, dass Handlungen anderer Personen auch von ihren Überzeugungen geleitet werden können, ist etwa ab dem vierten Lebensjahr zu beobachten und markiert einen zentralen Wendepunkt in der kindlichen ToM-Entwicklung. Diese Unterscheidung wird dann relevant, wenn eine andere Person eine falsche Auffassung von einem Sachverhalt hat (Wellman et al. 2001). Erst ab einem Alter von vier Jahren sind Kinder dazu in der Lage, zwischen der eigenen und der (falschen) Überzeugung einer anderen abwesenden Person zu unterscheiden. Die Entwicklung der ToM und der kindliche Spracherwerb sind von Anfang an eng miteinander verknüpft. Nur durch Sprache ist es möglich, am kommunikativen Austausch mit anderen teilzunehmen, über mentale Zustände zu reflektieren und Wissen darüber zu erwerben. Milligan, Astington und Dack (2007) postulieren, dass Sprachkompetenz eine wesentliche Voraussetzung für die Fähigkeit zur mentalistischen Perspektivübernahme und den Erwerb von ToM-Kompetenzen darstellt. In ihrer Metaanalyse schlossen sie 104 Studien zum Zusammenhang von Sprache und ToM ein und konnten zeigen, dass sprachliche Fähigkeiten nicht nur hoch mit dem metarepräsentationalen Verständnis korrelieren, sondern dass der Grad sprachlicher Kompetenz auch die Leistungen in ToM-Aufgaben zu einem späteren Entwicklungszeitpunkt vorhersagen kann. Eine umgekehrte Direktionalität konnte nicht bestätigt werden. Diese Zusammenhänge wurden in mehreren Korrelations- und Längsschnittstudien bestätigt (Peters et al. 2009, Gängler et al. 2012, Strand et al. 2016). ToM und Sprache bei hörgeschädigten Kindern hörender Eltern Die Mehrzahl der vorliegenden Studien deutet darauf hin, dass die ToM-Entwicklung bei Kindern mit Hörschädigung gefährdet ist. Im Vergleich zu gleichaltrigen normalhörenden Kindern schneiden Kinder mit Hörschädigung bei ToM-Aufgaben schlechter ab (Schick et al. 2007) und ihre Leistungen sind eher mit denen von jüngeren normalhörenden Kindern vergleichbar (Ketelaar et al. 2012). Hörgeschädigte Kinder lösen die meisten Aufgaben, die zur Erfassung der ToM verwendet werden, erst im Alter von etwa sieben Jahren, zum Teil auch erst im Alter von 11 Jahren (Spencer 2010), während etwa die Hälfte der normalhörenden Kinder die Fähigkeit, Überzeugungen angemessen einschätzen zu können, im Schnitt bereits zwischen vier und sechs Jahren erwerben (Silbereisen und Ahnert 2002, Walker et al. 2017). Bei der Frage nach den Hintergründen für diese Rückstände wird u. a. die häufig auftretende Verzögerung in der Sprachentwicklung bei hörge- 80 FI 2/ 2021 Stefanie Kröger et al. schädigten Kindern hörender Eltern diskutiert. Insbesondere die syntaktischen Fähigkeiten scheinen in diesem Zusammenhang einen wichtigen Einflussfaktor darzustellen, da das Verständnis komplexer Satzstrukturen, insbesondere sogenannter Komplementsätze, nachweisbar ToM-Kompetenzen bedingt, um Widersprüche zwischen Realität und Überzeugung sprachlich darzustellen (de Villiers und Pyers 2002, Hale und Tager-Flusberg 2003), z. B. „Er glaubte, dass sie sich über das Geschenk freuen würde. Gängler et al. (2012) konnten in einer kleinen Studie mit hörenden und hörgeschädigten Kindern einen hoch signifikanten Zusammenhang zwischen Satzkomplementen und „Falschen Überzeugungen“ („False Beliefs“) aufzeigen, wobei sich dieser Zusammenhang vor allem bei den hörgeschädigten Kindern zeigte. Zudem fanden sich Hinweise auf eine massive Verzögerung bei Satzkomplementen in der Gruppe der hörgeschädigten Kinder, wobei nicht eindeutig geklärt ist, ob es sich nicht um ein gleichzeitiges Auftreten sich nicht bedingender Kompetenzen handelt, die beide aufgrund fehlenden inzidentellen Lernens deutlich werden. Eingeleitet werden diese Komplementsätze zumeist von kognitiven Verben wie „denken“, „glauben“, „fühlen“, „ahnen“, „wissen“ oder „vermuten“, sodass zudem der semantische Wortschatz sowie der Gebrauch kognitiver Verben in diesem Kontext relevant erscheint (Peters et al. 2009). Der Stellenwert der sprachlichen Kompetenzen für die Entwicklung der ToM bei hörgeschädigten Kindern wird durch Studien gestützt, in denen Kinder untersucht wurden, die einen altersgemäßen sprachlichen Entwicklungsstand aufweisen, sei es in Lautsprache oder in Deutscher Gebärdensprache (DGS) (bei Familien, in denen die Eltern gehörlos sind und in DGS kommunizieren). Die Kinder aus diesen Studien zeigen eine altersgemäße ToM-Entwicklung (Macauly und Ford 2006, Schick et al. 2007, Sundqvist et al. 2014). Dies wird bestätigt durch Daten einer aktuellen Studie von Peters, Beer und Pisoni (2019), in der 25 CIK mit einer Hörschädigung im Vorschulalter mit einem Durchschnittsalter von 12,5 Monaten mit 25 hörenden altersgematchten Kindern verglichen wurden. Die beiden Gruppen, die sich in ihrer lautsprachlichen Entwicklung (rezeptiv wie expressiv) nicht voneinander unterschieden, zeigten entsprechend auch keine signifikanten Unterschiede in ihrer ToM-Entwicklung. Andere Ergebnisse weisen ergänzend darauf hin, dass Sprachkompetenz zwar eine zentrale, aber nicht ausschließliche Bedingung für die ToM-Entwicklung ist (Jones et al. 2015, Ketelaar et al. 2012). Vielmehr scheinen soziale und kommunikative Erfahrungen, die das Kind in seinen alltäglichen sozialen Interaktionen macht, ebenso bedeutend für die ToM-Entwicklung zu sein, da vor allem diese Interaktionen dem Kind die Möglichkeit eröffnen, Erkenntnisse über die mentalen Zustände anderer Menschen zu gewinnen (Terwogt und Rieffe 2004). Bei Kindern mit Hörschädigung, bei denen diese Erfahrungen erwartbar erschwert sind (Xie et al. 2014), ist demnach mit Problemen in der ToM-Entwicklung zu rechnen. Aktuelle Studie Die Anzahl der Studien im deutschsprachigen Raum, die sich mit der ToM-Entwicklung bei Kindern mit Hörschädigung beschäftigt haben, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt gering. Die Mehrzahl der Studien, die die ToM-Fähigkeiten von Kindern mit Hörschädigung untersuchten, basieren auf englischsprachigen Probanden. Die ToM-Entwicklung bei Kindern mit Cochlea- Implantaten (CI) wurde in einigen Studien untersucht (z. B. Remmel und Peters 2009, Ketelaar 2012, Netten et al. 2017, Peters et al. 2019). Hierbei wurde die ToM zumeist mit einem hohen Anteil verbaler Anforderungen erfasst und es zeigten sich heterogene Ergebnisse (Remmel und Peters 2009, Ketelaar 2012). 81 FI 2/ 2021 Theory of Mind und Sprachkompetenz bei Kindern mit Cochlea-Implantaten Studienergebnisse deuten einerseits darauf hin, dass nonverbale Aufgaben von Kindern mit Hörschädigung besser bewältigt werden (Figueras- Costa und Harris 2001), andere Ergebnisse wiederum weisen keinen Unterschied zwischen nonverbalen bzw. sprachreduzierten und verbalen Aufgabenstellungen nach (Remmel und Peters 2009, Schick et al. 2007). Zudem fokussiert die Mehrzahl der Studien auf die Erfassung der „False-Belief“-Leistungen (z. B. Tucci et al. 2016, Walker et al. 2017). Nur wenige Publikationen beziehen sich auf die einzelnen Stufen der ToM-Skala und analysieren jene Teilaspekte sowohl quantitativ als auch qualitativ (z. B. Walker et al. 2017). Die große Heterogenität der verwendeten Aufgaben erschwert zudem die Vergleichbarkeit der Ergebnisse. In Anbetracht der Ermangelung evaluierter Daten zur qualitativen Betrachtung der ToM-Entwicklung bei hörgeschädigten Kindern sowie der beschriebenen Entwicklungsverzögerungen bei hörgeschädigten Kindern hörender Eltern und der daraus resultierenden Relevanz differenzierter Untersuchungen begründet sich die Zielsetzung der vorliegenden Studie, das ToM-Verständnis deutschsprachiger Vorschulkinder mit CI bei gleichzeitig möglichst sprachfreier Diagnostik zu untersuchen und zu analysieren. Folgende Fragestellungen sollen in der vorgelegten Studie überprüft werden: 1. Unterscheidet sich die ToM-Entwicklung von Vorschulkindern mit einem CI von der ToM- Entwicklung normal hörender Kinder vergleichbaren Alters bei einer möglichst sprachfreien Erfassung der ToM? 2. Zeigen sich Unterschiede in den unterschiedlichen Teilbereichen zur Überprüfung der ToM zwischen den CI-Kindern und den normalhörenden Kindern? 3. Welche Variablen können mit möglichen Unterschieden in der ToM-Entwicklung in Zusammenhang gebracht werden? Methode Stichprobe In die multizentrische Studie wurden 19 CI-Kinder (CIK), davon 16 bilateral und 3 unilateral versorgte Kinder, mit einem Lebensalter von 3,2 bis 5,5 Jahren (J) eingeschlossen (M = 4,3; SD = 0,8). Die Kontrollgruppe beinhaltete 19 normalhörende Kinder (NHK) mit einem Lebensalter von 3,0 bis 5,9 J (M = 4,6; SD = 0,9). Die CIK hatten ein durchschnittliches CI-Höralter von 0,8 bis 4,1 J (M = 1,9 SD = 1,0). In allen Familien war die Muttersprache die deutsche Lautsprache. Gemäß Patientenakte (CIK) bzw. Elterneinschätzung (NHK) lag bei keinem Kind eine Intelligenzminderung vor. Des Weiteren wurde bei den NHK eine Hörschädigung ausgeschlossen. In den Parametern „Geschlecht“ und „Lebensalter“ unterschieden sich die CIK und die NHK nicht signifikant. In der Gesamtstichprobe erwies sich der elterliche Bildungsabschluss als recht hoch: Bei allen Eltern der NHK verfügte mindestens ein Elternteil über (Fach-)Abitur. Bei den Eltern der CIK trifft dies für N = 15 zu, bei vier Elternpaaren lag mindestens ein Realschulabschluss vor. Der Hörverlust wurde im Mittel mit 7,4 Monaten festgestellt (SD = 8,1). Im Durchschnitt erhielten die Kinder im Alter von 9,6 Monaten (SD = 6,9) ein Hörgerät. Die erste CI-Versorgung, welche bei nicht ausreichenden Hörreaktionen erfolgt, wurde im Mittel im Alter von 22,3 Monaten (SD = 11,8) vorgenommen. Alle CIK begannen innerhalb der ersten 24 Lebensmonate mit einer Frühförderung (M = 11,8; SD = 6,1). Während die CIK aus der HNO-Universitätsklinik Freiburg, Sektion Cochlear Implant, rekrutiert wurden, erfolgte die Rekrutierung der NHK über Regelkindergärten in Hamburg. Erhebungsinstrumente ToM-Testung Zur Überprüfung der ToM-Entwicklung wurde eine möglichst sprachfreie Testbatterie in 82 FI 2/ 2021 Stefanie Kröger et al. Anlehnung an die ToM-Skala von Wellman und Liu (2004) entwickelt. Mit diesem Testinstrument wurden fünf in der Forschung ausgewiesene ToM relevante soziale Situationen in standardisierten hierarchisch gegliederten Spielsequenzen durchgeführt, in welchen das Verständnis von Intentionen, Wünschen und Überzeugungen des Gegenübers untersucht wurde. Die Bewertung der Spielsituationen erfolgte kategorial mit „Aufgabe gelöst“ oder „Aufgabe nicht gelöst“. Alle verwendeten Testmaterialien der ToM-Testung waren im Materialkoffer als realer Gegenstand, Holzobjekt oder Bildkarte vorhanden. Dies diente zur Visualisierung für das Kind und sollte eine möglichst sprachfreie Testung ermöglichen. In der Studie wurde das „Gegenüber“ durch eine Handpuppe namens „Tom“ repräsentiert. Anhand von „Tom“ sollte die mögliche Schüchternheit des Kindes abgebaut und ein aktives Mitspielen einschließlich der Perspektivwechsel erleichtert werden. Eine kindgerechte Gestaltung bzw. Auswahl von Spielzeug und der Handpuppe „Tom“ wurde besonders berücksichtigt. Durch verschiedene Aufgaben wurden dabei die folgenden ToM-Bereiche überprüft (vgl. Meltzoff 1995, Ketelaar et al. 2012, Wellman und Liu 2004): n Aufgabe 1: „Social Intentions“ n Aufgabe 2: „Diverse Desires“ n Aufgabe 3: „Diverse Beliefs“ n Aufgabe 4: „Contents False Beliefs“ n Aufgabe 5: „Location False Beliefs“ Ablauf der Untersuchung Zu Beginn erfolgte für die Eltern zusammen mit ihren Kindern die Aufklärung und Information über die Studie. Die Eltern der CIK füllten die Fragebögen innerhalb des dreitägigen Rehabilitationsaufenthaltes im Rahmen der CI-Versorgung bzw. im Zusammenhang mit der Testung im Kindergarten oder zu Hause aus (NHK). Die insgesamt benötigte Zeitdauer für die Testung der PDSS betrug im Durchschnitt 30 Minuten bei den CIK. Die ToM-Testung erfolgte in einer ca. 15-minütigen Spielsequenz. Die Testung wurde nach einem standardisierten, in einem Manual schriftlich festgehaltenen Ablauf durchgeführt und die Ergebnisse in ein standardisiertes Untersuchungsprotokoll eingetragen. Mimik und Gestik sowie intuitive Gesten, die zur Verdeutlichung eingesetzt werden konnten, wurden ebenfalls mitprotokolliert. Die Kinder der Kontrollgruppe wurden an einem Termin getestet und benötigten im Durchschnitt 25 Minuten. Die Testung wurde mit einer „Social Intention“ Aufgabe begonnen, bei der soziale Intentionen aus der Beobachtung einer misslingenden Handlung geschlossen werden sollen (Meltzoff 1995). Das Kind musste hierbei die Handlungsabsicht der Fachkraft (FK) verstehen, eine Rolle an einem Nagel aufhängen zu wollen und entsprechend handeln. Die Aufgabe galt als gelöst, wenn das Kind die Rolle an dem Brett aufgehängt hatte. Als zweite Aufgabe wurde erfasst, ob das Kind versteht, dass eine andere Person andere Wünsche haben kann als es selbst („Diverse Desires“). Dem Kind wurden hierzu zwei verschiedene Lebensmittel angeboten, und es wurde aufgefordert, ein Lebensmittel für sich auszuwählen. Die Handpuppe wählte das entsprechend andere Lebensmittel aus. In der weiteren Spielsituation musste das Kind in der Lage sein zu erkennen, dass die Handpuppe einen anderen Essenswunsch als das Kind hat und nicht das vom Kind favorisierte Essen bekommt. Daraufhin wurde dem Kind eine „Diverse-Beliefs“-Aufgabe gestellt, um zu beobachten, ob das Kind erfasst, dass eine andere Person unterschiedliche Überzeugungen zum selben Objekt haben kann als das Kind selbst. Hierzu wurde im Vorfeld ein Spielobjekt an zwei möglichen 83 FI 2/ 2021 Theory of Mind und Sprachkompetenz bei Kindern mit Cochlea-Implantaten Orten, z. B. im Schrank oder in einer Kiste, versteckt. Das Kind wurde nach seiner Überzeugung befragt, wo sich das Spielobjekt befindet. Im Anschluss wurde dem Kind die Überzeugung der Spielfigur genannt, welche die gegenteilige des Kindes war. Die Aufgabe galt als gelöst, wenn das Kind auf die Frage, wo die Spielfigur suchen würde, die Perspektive der Spielpuppe übernehmen konnte. In einer weiteren Aufgabe sollte das Kind in der Lage sein, einer anderen Person eine nicht korrekte Überzeugung bzgl. eines Inhaltes zuzuschreiben, obwohl es selbst den korrekten Inhalt kannte („Contents False Beliefs“). Das Kind erfuhr in einer Spielsituation, in der die Handpuppe zunächst abwesend war, dass sich in einer Verpackung nicht der zu erwartende Inhalt befand. Im Anschluss wurde mit der Handpuppe die gleiche Spielsequenz durchgeführt und das Kind sollte angeben, was „Tom“ denkt, welcher Inhalt sich in der Verpackung befinden würde. Die Aufgabe galt als gelöst, wenn das Kind den zu erwartenden - und nicht den tatsächlichen - Inhalt benennen konnte. Bei der letzten Aufgabe, einer „Location-False- Beliefs“-Aufgabe, (vgl. „Maxi und die Schokolade“ Aufgabe von Wimmer und Penner 1983), sollte das Kind einer anderen Person eine nicht korrekte Überzeugung bzgl. eines Ortes zuschreiben, obwohl das Kind selbst den korrekten Ort kannte. Hierbei wurden dem Kind und der Spielfigur zwei unterschiedliche leere Behältnisse gezeigt. Die FK legte in Anwesenheit des Kindes und der Spielfigur ein Spielobjekt in ein Behältnis und schloss beide. Die FK ließ „Tom“ im Verlauf der Spielhandlung weggehen und legte zusammen mit dem Kind das Spielobjekt in das andere auf dem Tisch stehende Behältnis. Die Spielfigur wurde wieder in die Spielhandlung zurückgeholt, und das Kind sollte sagen, wo „Tom“ das versteckte Spielobjekt suchen würde. Die Aufgabe galt als gelöst, wenn das Kind das Behältnis nannte, in dem das Spielobjekt anfangs versteckt wurde. Erhebung sprachlicher Kompetenzen Das Sprachverstehen der NHK und CIK wurden mit Teilbereichen der Patholinguistischen Diagnostik für Sprachentwicklungsstörungen (PDSS) (vgl. Kauschke und Siegmüller 2009) erhoben. Aus den insgesamt 23 verfügbaren rezeptiven und produktiven Untertests der PDSS wurden für die vorliegende Studie drei Subtests zum Wortverständnis verwendet (Nomen, Verben und Präpositionen). Außerdem wurden die Eltern gebeten, anhand einer vorgegebenen Liste mit 17 kognitiven Verben, wie z. B. „denken, wissen, glauben, vermuten, grübeln, meinen, vorstellen“, anzugeben welche das Kind bereits aktiv im Alltag verwendet. Die aufgeführten Verben wurden für die Aufgabenstellungen der ToM-Testung verwendet. Den Eltern der CIK wurde außerdem ein Fragebogen zu den sozio-demografischen Daten bzgl. der Hörbiografie vorgelegt. Ergebnisse Die folgende Darstellung der Ergebnisse gliedert sich gemäß der oben vorgestellten Forschungsfragen. Forschungsfrage 1: Unterscheidet sich die ToM-Entwicklung von CIK und NHK bei einer möglichst sprachfreien Erfassung der ToM? In diesem ersten Schritt wird die Ausprägung beider Gruppen auf der Skala zur ToM-Entwicklung betrachtet. Für diese Skala wurden die richtig gelösten Aufgaben für jedes Kind aufsummiert, sodass die Werteausprägung der Skala von 0 bis 5 reicht. In Tabelle 1 sind die entsprechenden Kennwerte und die Ergebnisse der Inferenzstatistik (t-Tests für unabhängige Stichproben) dargestellt. Es zeigt sich ein deut- 84 FI 2/ 2021 Stefanie Kröger et al. licher und statistisch signifikanter Unterschied: Während die CIK im Mittel nur knapp drei der fünf Aufgaben lösten, gelingen den NHK im Durchschnitt über vier richtige Lösungen. Forschungsfrage 2: Untersuchung der Unterschiede in den verschiedenen überprüften Bereichen der ToM zwischen den CIK und NHK Im folgenden Analyseschritt wird der Fokus auf die einzelnen durchgeführten Unteraufgaben der ToM-Untersuchung gelegt. Der Tabelle 2 ist die jeweilige Anzahl der Kinder zu entnehmen, denen es gelang, die einzelnen Aufgaben zu lösen. Untersucht wurden Unterschiede hinsichtlich der Lösungshäufigkeiten zwischen CIK und NHK. Lediglich für die Aufgabe 2 („Diverse Desires“) und Aufgabe 3 („Diverse Beliefs“) liegen statistisch bedeutsame Unterschiede zwischen den beiden Gruppen vor: Den NHK gelang es deutlich häufiger, diese Aufgaben zu lösen. Auffallend sind die nahezu identischen Verteilungen in den beiden Gruppen (gelöst vs. nicht gelöst) bezogen auf die Aufgabe 1, die fast alle Kinder korrekt bewältigten, und Aufgabe 5, bei der dies jeweils etwa 60 % der Kinder gelang. Forschungsfrage 3: Untersuchung möglicher Zusammenhänge Vor der Analyse möglicher Zusammenhänge des Lebensalters und sprachlicher Merkmale mit den ToM-Kompetenzen wurde überprüft, inwiefern sich die beiden Gruppen hinsichtlich dieser Merkmale unterscheiden. Die Ergebnisse dieser Berechnungen sind in Tabelle 3 aufgeführt. Statistisch bedeutsame Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (CIK vs. NHK) bezogen auf sprachliche Kompetenzen liegen hinsichtlich der Unterskalen Wortverstehen (WV) „Verben“ und „Nomen“ der PDSS sowie der verfügbaren kognitiven Verben im Wortschatz der Kinder. Mittels Korrelationsberechnungen wurden die Zusammenhänge der erhobenen potenziellen Einflussvariablen auf die ToM-Kompetenzen der Kinder überprüft. In Tabelle 4 sind die Korrelationskoeffizienten getrennt für die Gesamtgruppe und jeweils für die einzelne Untersuchungsgruppe aufgeführt. CIK N = 19 NHK N = 19 Prüfstatistik ToM-Skala (0 - 5) MW Median SD Min - Max 2,8 3,0 0,9 1 - 4 4,1 4,0 1,0 2 - 5 t = 4,00 (36) p < 0,001 Tab. 1: Theory of Mind(ToM)-Skala: CI-Kinder (CIK) und normalhörende Kinder (NHK) im Vergleich. ToM-Aufgaben CIK NHK Prüfstatistik gelöst nicht gelöst gelöst nicht gelöst 1: „Social Intentions“ 19 0 18 1 Aufgrund geringer Zellenbesetzung kein Chi 2 -Test durchführbar 2: „Diverse Desires“ 7 12 19 0 Chi 2 = 17,54 (1); p < 0,01** 3: „Diverse Beliefs“ 8 11 17 2 Chi 2 = 9,47 (1); p < 0,01** 4: „Contents False Beliefs“ 7 12 12 7 Chi 2 = 2,63 (1); p < 0,11 5: „Location False Beliefs“ 12 7 11 8 Chi 2 = 0,11 (1); p < 0,74 Tab. 2: Anzahl gelöster und nicht gelöster Aufgaben der Theory-of-Mind(ToM)-Diagnostik. Vergleich zwischen CI- Kindern (CIK) und normalhörenden Kindern (NHK). 85 FI 2/ 2021 Theory of Mind und Sprachkompetenz bei Kindern mit Cochlea-Implantaten Ein Blick auf die Gesamtgruppe (N = 38) zeigt signifikante positive Zusammenhänge der ToM- Skala mit den Sprachvariablen WV „Verben“ und „Nomen“ aus der PDSS sowie der Anzahl der verwendeten kognitiven Verben. Zudem liegt ein enger Zusammenhang mit dem Lebensalter der Kinder vor. Ein differenzierender Blick auf die Untersuchungsgruppen zeigt, dass für die Gruppen eine unterschiedliche korrelative Struktur vorliegt: Für die ToM-Entwicklung der NHK wurde einzig das Lebensalter als signifikante Einflussvariable gefunden. Für die Gruppe der CIK dagegen liegt die Korrelation der ToM mit dem Lebensalter deutlich niedriger und in einem nicht-signifikanten Bereich. Für diese Untersuchungsgruppe liegen jedoch sehr hohe und statistisch bedeutsame Korrelationen der ToM mit den beiden sprachlichen Merkmalen „Verben“ und „Nomen“ der PDSS vor. Variable CIK (N max = 19) NHK (N max = 19) Prüfstatistik Lebensalter MW SD 51,4 9,2 54,8 11,1 t = 1,03 (36); p = 0,31 PDSS (T-Werte) Wortverstehen Nomen MW SD 33,6 14,4 51,6 10,2 t = 4,47 (36); p < 0,01 Wortverstehen Verben MW SD 37,9 16,5 53,4 9,3 t = 3,51 (34); p < 0,01 Wortverstehen Präpositionen MW SD 40,2 13,9 47,0 11,6 t = 1,58 (33); p = 0,12 Anzahl kognitiver Verben MW SD 6,8 5,0 11,2 2,0 t = 3,47 (36); p < 0,01 Tab. 3: Vergleich der beiden Gruppen CI-Kinder (CIK) und normalhörender Kinder (NHK) hinsichtlich Lebensalter und sprachlichen Kompetenzen. Variable ToM-Skala Korrelationen für die Gesamtgruppe (N max = 38) Korrelationen nur CIK (N max = 19) Korrelationen nur NHK-Kinder (N max = 19) Lebensalter 0,57** 0,39 0,72** Alter bei hörtechnischer Erstversorgung (bei N = 17 zunächst mit HG bei N = 2 initial mit CI) -0,35 -0,35 entfällt PDSS Wortverstehen Nomen Verben Präpositionen 0,61** 0,55** 0,28 0,55* 0,65** -0,03 0,28 < 0,01 0,34 Anzahl verwendeter kognitiver Verben 0,38* 0,07 0,37 Tab. 4: Korrelationen zwischen möglichen Einflussvariablen und der Theory-of-Mind(ToM)-Skala, aufgeschlüsselt in die Berechnungen für die Gesamtgruppe und jeweils für die Untergruppen CI-Kinder (CIK) und normalhörende Kinder (NHK). Dargestellt sind die Korrelationskoeffizienten r nach Spearman. * p < 0,05; ** p < 0,01 86 FI 2/ 2021 Stefanie Kröger et al. Diskussion In der vorliegenden Untersuchung wurde die Entwicklung der ToM von Vorschulkindern mit CI und NHK vergleichend untersucht. Zur Überprüfung der ToM wurde ein Diagnostikinstrument mit fünf Items auf der Basis der in der Forschungsliteratur beschriebenen Entwicklungsstufen der ToM konzipiert. Die spielerische Durchführung erfolgte weitestgehend frei von Lautsprache. Bezogen auf den Gesamtwert der verwendeten ToM-Skala zeigt sich, dass die Gruppe der CIK signifikant niedrigere Werte aufweist als die Gruppe der NHK. Das bestätigt die mehrheitlich vorliegende Befundlage bei Untersuchungen zur Entwicklung der ToM bei hörgeschädigten Kindern hörender Eltern, in denen zum Teil deutliche Verzögerungen der Kinder beschrieben werden (Ketelaar et al. 2012, Schick et al. 2007, Spencer 2010), die auch für hörgeschädigte Kinder mit einem CI zu finden sind (Ketelaar et al. 2012). Es ist ein mögliches Indiz dafür, dass ein uneingeschränkter Zugang zu sprachlich-kommunikativem Austausch den Erwerb einer altersgemäßen ToM-Entwicklung begünstigt (Hintermair 2014). Ergebnisse aus vorliegenden Studien zeigen, dass ein responsiver kommunikativer Austausch in der frühen Eltern-Kind-Interaktion eine gute sprachliche und psychosoziale Entwicklung der Kinder vorhersagen und dies auch von Vorteil für die Entwicklung der ToM sein kann (Hintermair et al. 2017, VanDam et al. 2012). Die Erfassung unterschiedlicher ToM-Kompetenzen ermöglicht allerdings einen differenzierteren Blick auf die Entwicklung der ToM der untersuchten Kinder. Hier wird deutlich, dass sich die NHK und die CIK nicht in allen Aufgaben gleichermaßen voneinander unterscheiden. Auffallend ist dabei, dass CIK in der Lage sind, ToM-Aufgaben, deren Lösung erst in einem höheren Lebensalter erwartbar ist (Wellman und Liu 2014), in vergleichbarer Weise zu lösen wie NHK, wohingegen vermeintlich auf einem niedrigeren Entwicklungsniveau angesiedelte Aufgaben weniger gut gelöst werden. Daraus resultiert der Unterschied bezogen auf die Gesamtskala (Summenscore). Offenbar ist das Anforderungsprofil zur Lösung einzelner Aufgaben unterschiedlich. Dazu können die zusätzlich untersuchten Merkmale und deren Zusammenhänge mit der ToM Aufschluss geben: Die beiden untersuchten Gruppen zeigen keine statistisch bedeutsamen Unterschiede hinsichtlich der Geschlechtsverteilung und des Alters. Erwartungsgemäß unterscheiden sie sich allerdings deutlich in den erhobenen sprachlichen Kompetenzen, in denen die NHK bessere Ergebnisse erzielen. Die korrelative Überprüfung ergab, dass in erster Linie das Sprachverstehen von Nomen und Verben eng mit der ToM der CIK zusammenhängt. Dieser enge Zusammenhang konnte so für die NHK jedoch nicht festgestellt werden. Diese unterschiedliche Korrelationsstruktur und das signifikant höhere Sprachniveau der NHK zusammengenommen betrachtet lässt vermuten, dass zur Ausbildung der ToM zumindest sprachliche (Laut- oder Gebärdensprache) Grundkompetenzen vorhanden sein müssen, auf einem mindestens durchschnittlichen sprachlichen Niveau; allerdings bessere Sprachkompetenzen nicht weiter mit „besseren“ ToM- Fähigkeiten korrespondieren. Diese Hypothese wird unterstützt durch den Befund, dass das Lebensalter nur für die NHK, welche auch insgesamt höhere ToM-Skalenausprägungen aufweisen, signifikant mit der ToM-Skala korreliert. Somit ist unter der Bedingung einer weitestgehend physiologischen Hör- und Sprachentwicklung das Lebensalter eine entscheidende Komponente, die mit dem Niveau der ToM- Entwicklung verknüpft ist. Unter der Bedingung einer Gehörlosigbzw. Schwerhörigkeit stellen hier die (basalen) Sprachkompetenzen (Laut- oder Gebärdensprache) einen wesentlichen Faktor dar, in welcher Weise die ToM-Fähigkeiten ausgeprägt sind. 87 FI 2/ 2021 Theory of Mind und Sprachkompetenz bei Kindern mit Cochlea-Implantaten Die Ergebnisse der vorliegenden Studie können für weiterführende Arbeiten in zweierlei Hinsicht handlungsleitend sein: Einerseits scheint sich die in der Fachliteratur umfänglich dokumentierte Rolle der Sprache für die Entwicklung der ToM zu bestätigen (vgl. Gängler et al. 2012, Milligan et al. 2007, Peters et al. 2009): Die CIK unterscheiden sich in der vorliegenden Studie in einigen der erfassten Bereiche der sprachlichen Entwicklung signifikant von der Entwicklung NHK, was den Unterschied in der ToM erklären könnte. Eine aktuelle Studie von Peters et al. (2019), in der zwei Gruppen von NHK und CIK im Vorschulalter untersucht wurden, die sich weder im Alter noch in ihrer sprachlichen Entwicklung voneinander unterschieden, ergab keine Unterschiede in der ToM-Entwicklung der untersuchten Kinder. Die Chancen von hörgeschädigten Kindern (mit oder ohne CI) auf eine altersgemäße ToM-Entwicklung erhöhen sich demnach mit hoher Wahrscheinlichkeit, je besser ihre sprachliche Kompetenz ist. Andererseits gilt es zu klären, warum die CIK in dieser Studie in der Lage waren, entwicklungspsychologisch anspruchsvollere Aufgaben vergleichbar gut zu lösen wie NHK, während sie eigentlich leichtere Aufgaben schlechter als NHK gelöst haben. In diesem Zusammenhang muss noch genauer geprüft werden, welche Faktoren dazu beigetragen haben und inwieweit das Lösungsverhalten in Bezug auf die ToM mit sprachlichen und/ oder anderen Anforderungen konfundiert ist. Hierzu muss das entwickelte Erhebungsinstrument zur Erfassung der ToM hinsichtlich eines möglichen Zusammenhanges mit anderen Variablen, die in dieser Studie nicht erfasst wurden, kritisch betrachtet werden. Auch wenn es Ziel war, ein „weitestgehend lautsprachreduziertes“ Erhebungsinstrument zu entwickeln und sämtliche vorgegebene Spielsequenzen durch Visualisierungen, Gesten oder kleinschrittige, möglichst konkrete Handlungsabfolgen sprachunabhängig zu gestalten, ist vermutlich eine völlig sprachfreie Diagnostik der ToM bei hörgeschädigten Kindern kaum realisierbar: Da die einzelnen Spielhandlungen zusätzlich lautsprachlich begleitet wurden, können Kinder mit guten Lautsprachkompetenzen Vorteile bei der Lösung der Aufgaben gehabt haben. Weiter können bekannte Probleme hörgeschädigter Kinder im beiläufigen Lernen (Calderon und Greenberg 2011) und in der sog. geteilten Aufmerksamkeit (Spencer et al. 2004) gerade bei längeren Aufgaben/ Spielsequenzen, bei denen aufeinanderfolgende Handlungsabfolgen und Perspektivwechsel „verstanden“ werden müssen, konfundierend bei der Aufgabenlösung wirksam gewesen sein. In retrospektiven Videoanalysen wurde deutlich, dass vor allem die Aufgaben 2 und 3, in denen die CIK schlechter abschnitten, längere Aufgaben sind, mehr aufeinander aufbauende Sequenzen beinhalten und etwas abstraktere Gedankengänge zum Verständnis erfordern. Somit muss bedacht werden, dass möglicherweise unkontrollierte Drittvariablen, die ebenfalls mit einem kindlichen Hörverlust in Zusammenhang stehen, die Ergebnisse zur ToM beeinflusst haben können: erhöhte visuelle Ablenkbarkeit, unterschiedliche Fähigkeiten in der Aufmerksamkeitssteuerung, oder das Niveau der Spielentwicklung (zu Entwicklungsbesonderheiten von hörgeschädigten Vorschülern Hintermair und Sarimski 2016). Es liegen auch Befunde vor, die nahelegen, dass nicht nur sprachliche Kompetenzen zur ToM- Entwicklung beitragen, sondern dass auch möglichst umfängliche soziale und kommunikative Erfahrungen im Alltag von Bedeutung sind (Jones et al. 2015, Ketelaar et al. 2012). Diskutiert wird auch, dass die Art der Erfassung der ToM zu möglichen Unterschieden zwischen hörenden und hörgeschädigten Kindern beitragen kann. So führten z. B. Marschark et al. (2000) eine Studie mit hörgeschädigten Kindern im Alter zwischen neun und 15 Jahren durch, in der diese aufgefordert wurden, Geschichten zu erzählen zu Phantasiethemen, die aber Beziehungen zu anderen Menschen und Wesen enthalten soll- 88 FI 2/ 2021 Stefanie Kröger et al. ten. So war die Möglichkeit gegeben, in diesen Phantasiegeschichten anderen Personen mentale Zustände zuzuschreiben. Die hörgeschädigten Kinder in dieser Studie erwähnten öfter mentale Zustände als die hörenden Kinder der Vergleichsgruppe. Das könnte u. a. auch ein Hinweis sein, dass für hörgeschädigte Kinder offene Antwortformate bei der Erfassung der ToM zu günstigeren Ergebnissen führen als geschlossene Erzählformate (vgl. auch Rhys-Jones und Ellis 2000, Rieffe und Terwogt 2000). Limitationen Zur Einordnung der vorgestellten Ergebnisse müssen einige einschränkende Faktoren kritisch bedacht werden. Aufgrund der vergleichsweise kleinen Gesamtpopulation von CI-versorgten Kindern im Vorschulalter sind in diesem Bereich die Stichproben nicht sehr groß. Dies trifft auch für die vorliegende Studie zu. Dadurch, dass die CIK lediglich in einer Einrichtung rekrutiert und relativ enge Einschlusskriterien gewählt wurden, ist die Stichprobe zwar sehr homogen, die Repräsentativität ist allerdings eingeschränkt. Da kein etabliertes Instrument zur nonverbalen Erfassung der ToM existiert, wurde ein neues Verfahren entwickelt. Trotz theoretischer Verankerung, etlicher Pilotdurchführungen und Videoanalysen liegen keine psychometrischen Daten zur Validität und Reliabilität vor. Fazit n In weiterführenden Studien sollte der Einfluss zusätzlicher Merkmale, wie visuelle Ablenkbarkeit, Fähigkeiten in der Aufmerksamkeitssteuerung, sozial-emotionale und kommunikative Erfahrungen im Alltag, das Niveau der Spielentwicklung und der Faktor des inzidentellen Lernens bei den NHK und CIK mitbetrachtet werden. n CIK sind in ihren ToM-Fähigkeiten nicht als insgesamt retardiert zu betrachten. Wichtig ist eine differenzierte und möglichst sprachfreie Erfassung. n Das Lebensalter und die basalen sprachlichen (Laut- und Gebärdensprache) Kompetenzen stellen entscheidende Einflussfaktoren für die ToM-Entwicklung bei den CIK und NHK dar. n CIK zeigen schlechtere Leistungen in Bereichen, die sprachassoziiert sind. n Eine spezifische Förderung der ToM-Fähigkeiten von CIK ist in der Hör-und Sprachrehabilitation nach CI-Versorgung wesentlich. Korrespondenzanschrift: Dr. rer. medic. Stefanie Kröger HNO-Universitätsklinik Freiburg: Sektion Implant Centrum Freiburg Elsässerstr. 2 n 79106 Freiburg E-Mail: stefanie.kroeger@uniklinik-freiburg.de Literatur Calderon, R., Greenberg, M. (2011): Social and emotional development of deaf children: Family, school, and program effects. In: Marschark, M., Spencer, P. E. (Eds.): Oxford handbook of deaf studies, language, and education, second edition, Volume 1, Oxford, NY, Oxford University Press, 188 - 199, https: / / doi.org/ 10. 1093/ oxfordhb/ 9780199750986.013.0014 De Villiers, J. G.,Pyers, J. E. (2002): Complements to cognition: A longitudinal study of the relationship between complex syntax and false-belief-understanding. Cognitive Development 17, 1037 - 1060, https: / / doi.org/ 10.1016/ s0885-2014(02)00073-4 Figueras-Costa, B., Harris, P. (2001): Theory of mind development in deaf children: A nonverbal test of false-belief understanding. 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