eJournals Frühförderung interdisziplinär 40/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2021.art11d
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„Und dann habe ich Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung einfach ausgeblendet und gehofft, dass es nicht ganz so schlimm kommen wird…“

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2021
Martina Wolf
Das Wohl des Kindes ist in aller Munde und das Bemühen darum eine Selbstverständlichkeit. So scheint es jedenfalls. Eine klare Aufgabe für Familie, Gesellschaft und ganz besonders für Menschen, die im professionellen Kontext mit Kindern und ihren Familien zusammenarbeiten. Dennoch gibt es immer wieder Kinder, die schwer misshandelt werden oder denen es in erheblichem Ausmaß an einer verlässlichen Fürsorge und der unterstützenden Begleitung durch die Bezugspersonen fehlt. Zwar erhalten viele der betroffenen Familien bereits seit Jahren Unterstützung durch unterschiedliche Fachleute und Institutionen, aber die – wie auch immer geartete – Notbremse wird nicht gezogen.
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103 Frühförderung interdisziplinär, 40.-Jg., S.-103 - 112 (2021) DOI 10.2378/ fi2021.art11d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS „Und dann habe ich Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung einfach ausgeblendet und gehofft, dass es nicht ganz so schlimm kommen wird …“ Frühförderfachkräfte im Dilemma zwischen Verantwortung und Überforderung Martina Wolf Einleitung Das Wohl des Kindes ist in aller Munde und das Bemühen darum eine Selbstverständlichkeit. So scheint es jedenfalls. Eine klare Aufgabe für Familie, Gesellschaft und ganz besonders für Menschen, die im professionellen Kontext mit Kindern und ihren Familien zusammenarbeiten. Dennoch gibt es immer wieder Kinder, die schwer misshandelt werden oder denen es in erheblichem Ausmaß an einer verlässlichen Fürsorge und der unterstützenden Begleitung durch die Bezugspersonen fehlt. Zwar erhalten viele der betroffenen Familien bereits seit Jahren Unterstützung durch unterschiedliche Fachleute und Institutionen, aber die - wie auch immer geartete - Notbremse wird nicht gezogen. Kommt es zur Eskalation und wird aus dem „Fall“ eine „Schlagzeile“, stößt dies in der Regel auf große Empörung. Die Schuldigen sind schnell ausgemacht und sowohl die Eltern als auch die in der Familie tätigen Fachkräfte werden an den sprichwörtlichen Pranger gestellt. Wie konnte es dazu kommen? In der öffentlichen Diskussion steht dann häufig das Versagen einzelner Personen oder Institutionen im Mittelpunkt und es wird darüber debattiert, ob die Sachlage wieder einmal falsch eingeschätzt oder nicht die richtigen Schlüsse daraus gezogen wurden. War es die chronische Überlastung der Mitarbeiter*innen? Wurden eindeutige Hinweise übersehen? Haben die „Fachleute“ die notwendigen Maßnahmen nicht rechtzeitig eingeleitet? Im Kontext Frühförderung finden sich nur selten Kinder, über deren Schicksal in der Zeitung berichtet wird. Dennoch werden auch Mitarbeiter*innen aus diesem Bereich auf Familien treffen, die ihren Kindern nicht in ausreichendem Maß gerecht werden können, sodass - wenn sich die Situation nicht verändern lässt - schwerwiegende Folgen für die Entwicklung der Kinder zu befürchten sind. Einige dieser Familien nehmen schon weiterführende Hilfen, wie z. B. Unterstützung durch Erziehungsberatungsstellen oder das Jugendamt in Anspruch, sodass hier bereits kompetente Ansprechpartner für die Eltern in belasteten Erziehungs- und oft auch Lebenssituationen vorhanden sind. Bei anderen Familien entwickelt sich erst im Laufe der Betreuung durch die Frühförderung ein „ungutes Bauchgefühl“. Dann stellt sich als Allererstes für die jeweils zuständige Frühförderfachkraft, die im regelmäßigen Kontakt mit der Familie steht, die Frage nach dem adäquaten Umgang mit der Situation und der Notwendigkeit zusätzlicher Maßnahmen. Sei es, weil in der Familie ein sehr barscher Umgangston herrscht, das Kind nur 104 FI 2/ 2021 Aus der Praxis unregelmäßig zur Förderung gebracht wird oder weil die gesamte Lebenssituation als sehr belastet empfunden wird. Manchmal kommen Verhaltensweisen der Bezugspersonen oder andere Umstände hinzu, die eine weitere Abklärung oder Unterstützung nicht nur wünschenswert, sondern dringend erforderlich machen. Die Gefährdungslagen werden jedoch nicht selten von den beteiligten Fachleuten unterschiedlich eingeschätzt. In diesem Prozess geraten Frühförderfachkräfte zunehmend unter Druck, sich im Team und gegenüber der Leitung mitzuteilen und die Eltern mit der Handlungsnotwendigkeit zu konfrontieren oder auch gegen deren Willen das Jugendamt einzuschalten. Wenn sich die Hinweise verdichten, ist das Vorgehen alternativlos. Aber ob das, was von den Mitarbeiter*innen der Frühförderung erlebt und beobachtet wird, letztendlich dazu führt, dass der „Tatbestand“ einer Kindeswohlgefährdung abgeklärt wird, oder ob wichtige Hinweise bewusst oder unbewusst „übersehen“ werden, hat meines Erachtens einen unmittelbaren Zusammenhang zur konkreten Situation der Frühförderfachkraft und ihrem persönlichen Anteil im Prozess, den es zu sehen und zu schützen gilt. Um handeln zu können, braucht es mehr als die mittlerweile meist gut etablierten Verfahrensabläufe, welche Orientierung und eine verbindliche Struktur für das weitere Vorgehen bieten, oder die guten und wichtigen Kontakte zu den relevanten Netzwerkpartnern. Es sind sowohl persönliche Faktoren wie Mut, innere Stärke, Konfliktfähigkeit und auch Risikobereitschaft wie auch eine „beistehende“ und funktionierende Teamstruktur, welche hier einen Unterschied im Handeln befördern. Ohne diese Faktoren ist es nur schwer möglich, sich als Frühförderfachkraft kindeswohlgefährdenden Situationen zu stellen und zum Wohl des Kindes und seiner Eltern zu handeln. Oftmals blicken die Mitarbeiter*innen auf einen Weg, der, im Zweifelsfall auch ohne das Einverständnis der Eltern, schwer und äußerst unangenehm sein kann. Im Kontext Frühförderung haben die meisten Professionellen wenig Erfahrung in Bezug auf die erforderlichen Handlungen, viele von ihnen betreten Neuland. Anhand des folgenden Fallbeispiels sollen die Rolle der inneren Haltung und Gefühle von Handelnden in Gefährdungslagen aufgezeigt werden. Welche inneren Konflikte können auftreten, wenn sich der Verdacht einer Kindeswohlgefährdung verdichtet. Welche Hürden müssen emotional überwunden bzw. genommen werden, um die Kinder und die Familien professionell begleiten zu können. Darüber hinaus werden Überlegungen dazu angestellt, wie Fachkräfte sich und ihr Handeln sowie ihren Handlungsrahmen im Umgang mit schwerwiegenden Verdachtsmomenten reflektieren können. Es wird dargestellt, wie wichtig es ist herauszufinden, welche Form der Unterstützung jeder Einzelne und das Team dafür benötigen. Denn es ist so banal wie folgenschwer, dass eine „Kindeswohlgefährdung“ erst dann verifiziert werden kann, wenn es jemanden gibt, der sein „ungutes Bauchgefühl“ in den Kontext einer Kindeswohlgefährdung stellt und dies auch so kommuniziert. Innerhalb von Frühförderteams erscheint hierbei die Anerkennung der unterschiedlichen individuellen Gefühlslagen, Ängste und Sorgen jedes/ r einzelnen Mitarbeiter*in unabdingbar. Eine Diskussion zu diesem Fallbeispiel oder ähnlicher Fälle aus dem eigenen Team könnte unter folgenden Leitfragen stehen: n Welche Gedanken, Ängste und Sorgen ergeben sich aus dem Blickwinkel der Frühförderfachkraft? n Welche Bedingungen könnten die Überwindung innerer Konflikte begünstigen und die bestmögliche Handlungsfähigkeit der Fachperson ermöglichen? 105 FI 2/ 2021 Aus der Praxis Fallbeispiel 1 Irene Paul (26) ist seit zwei Jahren Mitarbeiterin der Interdisziplinären Frühförderstelle in K., als sie die Betreuung von Leon Mutke (2) übernimmt. Die Eltern von Leon sind Sabrina Mutke (23) und Dominik Michalke (28). Der erste Hausbesuch findet ohne das Kind statt. Die Mutter entschuldigt sich für die chaotische Wohnung. Sie wirkte auf Frau Paul müde und gestresst. Der Junge sei mit seinem Vater zum Einkaufen gefahren. Sie selbst käme im Moment zu nichts. Leon sei als erstes Kind seiner Eltern geboren. Sie seien seit einem Jahr zusammen und in diese kleine Wohnung in unmittelbarer Nähe zu den Großeltern (Mutter und Stiefvater mütterlicherseits) gezogen, da diese krank und seit ein paar Jahren arbeitsunfähig seien. Leon sei 8 Wochen zu früh auf die Welt gekommen. Das Kind sei ein „Unfall“ gewesen, aber beide Eltern hätten sowieso irgendwann Kinder gewollt. Bei der U5 habe sich ein Rückstand der motorischen Entwicklung gezeigt, woraufhin sich der Kinderarzt eine Begleitung der Familie wünschte und Frühförderung empfohlen habe. Als sich die Familie zur U7 wieder vorstellte, sei noch alles beim Alten gewesen und noch kein Kontakt zur Frühförderstelle hergestellt worden. Auch für die U6 sei keine Zeit gewesen, da Sabrina Mutke (23), neben der Betreuung des Kindes, die sehr aufwendig und anstrengend sei, auch versuche ihren Eltern gerecht zu werden. Sie habe zu ihnen zwar kein sehr gutes Verhältnis, aber ohne ihre Hilfe kämen sie nicht zurecht. Schon früher sei ihre Mutter oft nicht in der Lage gewesen, sich um sie und ihre beiden Geschwister zu kümmern. Der leibliche Vater von Frau Mutke habe die Familie früh verlassen. Zu ihm bestehe kein Kontakt. Der Stiefvater lebe seit 18 Jahren bei der Mutter und hat laut Aussagen von Frau Mutke immer wieder „durchgegriffen“ und sei auch manchmal handgreiflich geworden. Aber immerhin habe er die Familie unterstützt und auch die schwierigen Zeiten mit ihnen durchgestanden. Frau Mutke selbst sei mit Beginn ihrer Ausbildung als Bäckereifachverkäuferin von zu Hause ausgezogen. Dominik Michalke (28), der Vater von Leon, sei arbeitslos. Zu seinen Eltern gäbe es keinen Kontakt. Er habe Gelegenheitsjobs im Wachdienst. Dafür treibe er viel Sport und gehe dann manchmal mit seinen Freunden noch auf ein Bier. Wenn er dann nach Hause käme, passiere es schon mal, dass er einen aggressiven Ton an den Tag lege. Er habe sie aber noch nie tätlich angegriffen. Außer einmal. Aber da habe sie ihn auch provoziert. Da sie von seinem Geld alleine nicht hätten leben können, habe Sabrina Mutke drei Monate nach der Geburt von Leon wieder angefangen zu arbeiten. Ihr Job sei stressig. Oft müsse sie um 5 Uhr in der Früh anfangen zu arbeiten. Weil Leon schlecht schlafe, könne sie in der Nacht oft kein Auge zumachen. Als der Termin zu Ende geht, fühlt sich Frau Paul sehr erschöpft. Eigentlich wollte sie mehr über das Kind erfahren und über Anliegen und Auftrag sprechen. Dazu ist es jetzt gar nicht gekommen. Die Lebensumstände, in denen Leon aufwächst, gehen ihr wieder und wieder durch den Kopf. Wie gut, dass sie nun kein weiteres Kind auf der Strecke besuchen muss, sondern nur noch die Akteneinträge in der Frühförderstelle zu erledigen hat. Vielleicht ist ja jemand im Büro. In der Frühförderstelle angekommen, trifft Frau Paul ihre Lieblingskollegin, mit der sie auch schon oft privat etwas unternommen hat. Sie erzählt von den Belastungen der Familie und davon, wie hilflos sie sich gefühlt hat, als die Mutter so vor ihr saß. Den Akteneintrag verschiebt sie auf morgen. Am nächsten Tag schreibt sie kurz und knapp: „Austausch mit der Mutter. Sie berichtete davon, dass sie momentan viele Belastungen habe und Termine eher schwierig zu vereinbaren seien. Noch kein Eindruck vom Kind. Vater hatte ihn zum Einkaufen mitgenommen. Besondere Themen sind die Sprachentwicklung des Kindes und Verhalten am Tisch. Nächste Woche Termin um die Mittagszeit.“ 1 Namen und Details, die Hinweise auf die Identität der Personen geben würden, wurden geändert. 106 FI 2/ 2021 Aus der Praxis Sie zögert einen Moment ob sie nicht doch etwas zu den berichteten Handgreiflichkeiten in der Familie schreiben sollte, schiebt den Gedanken aber gleich wieder zur Seite. Was hätte sie auch schreiben können? Die Informationen zum Großvater waren ja nicht unbedingt relevant und der Übergriff des Kindsvaters auf die Mutter doch auch nur ein einmaliger Ausrutscher. Es zu schreiben würde vielleicht ein Fass aufmachen und Herrn Michalke in eine Ecke drängen, in die er vielleicht nicht gehört. Sie entscheidet sich dafür, sich erst selbst noch ein klareres Bild zu machen. Zwei Tage später in der Teamsitzung: Frau Paul denkt kurz darüber nach, ob sie etwas zum Einstieg in die Betreuung sagen sollte, lässt aber zwei anderen Kolleginnen den Vorrang und kommt nicht mehr zum Zug. Darüber ist sie fast erleichtert. Sie war sowieso unsicher, wie eine Frage oder ein Thema hätte aussehen können und was sie hätte erzählen sollen und was vielleicht auch lieber nicht. Als Irene Paul den zweiten Hausbesuch macht, sitzen Mutter und Kind am Tisch. Die Mutter füttert Leon, der mit den schnell aufeinanderfolgenden Löffelportionen sichtlich Mühe hat. Er dreht den Kopf zur Seite und es kommt immer wieder etwas von dem Speisebrei aus dem Mund, was die Mutter sogleich mit dem Löffel abnimmt und ihm wieder in den Mund schiebt. Es folgen weitere Löffel, die gut gefüllt in den Mund gepresst werden. „Du brauchst nicht meinen, dass du gleich wieder was bekommst, wenn Du mir das hier vor die Füße spuckst! … Na, schmeckt Dir wohl nicht … (seufzt) … das Leben ist kein Wunschkonzert … ich kann es mir auch nicht immer aussuchen.“ Frau Mutke wendet sich an Frau Paul: „Sehen Sie, so ein Theater ist das immer…der bringt mich echt an meine Grenzen.“ Unsanft zieht sie Leon aus dem Hochstuhl. „Ab, raus da! “ „Geh in Dein Zimmer, ich will Dich hier nicht mehr sehen.“ Leon läuft zu seinem Papa, der auf dem Sofa liegt. „Leon, Du sollst mit der Frau spielen, die ist extra wegen Dir gekommen.“ Leon versteckt sich hinter dem Sofa. Der Vater steht auf und zieht Leon mit einem festen Griff aus der Sofaecke und stellt ihn in das Zimmer. „Du sollst jetzt mitmachen, hast Du verstanden! “ Leon schaut den Vater kurz an und senkt dann seinen Blick, er bewegt sich nicht von der Stelle. Frau Paul stockt einen Moment. Sie möchte gerne etwas sagen, aber weiß nicht, wo sie anfangen soll. „Schau mal Leon, was ich mitgebracht habe…“ Sie hält dem Kind einen roten Ball hin, der Leon mit seinem Klingelgeräusch schließlich aus seiner Bewegungslosigkeit herauslockt. Eine ganze Weile spielen sie mit dem Ball und Leon versucht einige Worte nachzuahmen. „Ja, wenn er will, dann kann er schon…aber er ist manchmal schon ein Sturschädel.“ Die Eltern lächeln und schauen mit einem liebevollen Blick auf Leon. Sie machen einen neuen Termin aus. Beim Verabschieden bedankt sich die Mutter. Frau Paul setzt sich ins Auto und ruft bei der nächsten Familie an. Sie verspäte sich etwas. An einem Waldparkplatz hält sie kurz an, um durchzuschnaufen. Ihre Gedanken schießen wie in einem Blitzgewitter durcheinander. Es geht ihr schlecht, wenn sie an Leon denkt. Sie kann fast körperlich spüren, wie sich jeder Löffel angefühlt hat, der einer nach dem anderen in seinen Mund geschoben wurde … Aber wie genau könnte sie so ein heikles Thema ansprechen,…gegenüber den Eltern, im Team…? Wenn sie es aus der Perspektive der Mutter denkt, kann sie auch den Druck spüren, unter dem sie steht. Kann man auch irgendwie verstehen. Im Zusammenhang mit der Frühgeburt ist Gewichtszunahme ja oft ein Thema …, vielleicht wollte die Mutter zeigen, dass sie sich gut um die Ernährung kümmert. Hätte sie als Mitarbeiterin der Frühförderung eingreifen müssen? Sagen, dass das Kind das sicher nicht mit Absicht macht oder um sie zu ärgern? Was aber wäre, wenn die Eltern den Kontakt zur Frühförderung abbrächen, weil sie sich schon gleich am Anfang kritisiert fühlen? Ist es nicht besser, langsam ein anderes Verhalten zu etablieren, ohne gleich mit der Tür ins Haus zu fallen? Was würde der Kinderarzt sagen, wenn sie es sich mit den Eltern verderben würde? Wo er doch schon so lange darauf hingewirkt hat, dass Frühförderung stattfindet. Ihre Gedanken gehen zum Vater. Ein bisschen Angst hat er ihr schon 107 FI 2/ 2021 Aus der Praxis eingeflößt. Wie er wohl auf Kritik reagiert? Da fällt ihr ein, dass sie schon lange ihren Eintrag aus dem Telefonbuch löschen lassen wollte. Sie startet den Motor und fährt zu der nächsten Familie. Mist! Schon eine halbe Stunde zu spät. Als sie am Abend ihre Akteneinträge erledigt und versucht ihre Gedanken zu sortieren, kommt ihr das Wort Kindeswohlgefährdung in den Sinn. Ab wann muss man eigentlich das Jugendamt einschalten, was genau sind die Aufgaben einer Erziehungsberatungsstelle? Was gehört zur Frühförderarbeit? Kindeswohlgefährdung! Geht das „Stopfen“ des Kindes schon in Richtung Misshandlung? Könnten Eltern, die trotz ihrer Anwesenheit so wenig feinfühlig mit ihrem Kind umgehen, in anderen Situationen noch heftiger reagieren? Aber vielleicht ist es ja einfach nur ein etwas rauer Umgangston. Am Ende der Stunde war der Blick auf das Kind schon sehr liebevoll und zugewandt. Frau Paul erinnert sich an ein Gespräch mit einer Kollegin, die eine Aussage bei Gericht machen musste. Was wäre, wenn angestoßen durch ihre Aussage Leon in eine Pflegefamilie käme? Oder anders herum: Wenn sie sich im Team oder im Jugendamt total blamiert, weil sie einen völlig normalen Sachverhalt aus dem Familienalltag in Richtung seelischer Grausamkeit interpretiert? Neulich erst hat im Team eine Kollegin betont, dass sie erst, nachdem sie selbst ein Kind bekommen habe, verstehe, wie es vielen Eltern geht. Außerdem ist sie sich nicht sicher, wie die Leiterin der Frühförderstelle denkt. Einerseits kam schon oft der Kommentar: „Die vom Jugendamt machen ja eh nichts. Und dann sind die Eltern raus aus der Frühförderung, weil sie das Vertrauen verloren haben.“ Andererseits wurden im Team gerade erst wieder die Schritte durchgegangen, die im Fall einer Kindeswohlgefährdung zu tun sind. Aber wie genau sieht der Moment aus, der am Anfang dieses Schemas steht? Vielleicht ist es ja hilfreich die insoweit erfahrene Fachkraft einzuschalten und anonym zu befragen. Was aber, wenn sie die Situation in Leons Familie als akut gefährdend einschätzt? Dann ist es amtlich. Dann gibt es trotz Anonymität kein Zurück. Zumindest moralisch. Die Eindrücke von der Füttersituation und dem Verhalten des Vaters kommen in ihr immer wieder hoch und lassen sich nicht zur Seite schieben. Was macht das mit Leon? Mit wem kann sie ihre Sorgen und Gedanken teilen? Mit ihrer Kollegin vielleicht. Dann beschließt sie, es erstmal nicht an die „große Glocke“ zu hängen und das nächste Mal mit den Eltern noch ein bisschen mehr ins Gespräch zu kommen, bevor sie vielleicht auch mal mit der zuständigen Psychologin oder der Leitung spricht. In der Akte schreibt sie: „Im Hausbesuch Vater und Kind kennengelernt. Essenssituation beobachtet. Situation wirkt sehr belastet. Mutter möchte, dass Leon genügend isst. Leon verweigert. Umgang der Mutter wenig förderlich für die Situation. In der nächsten Stunde ansprechen! Kontaktaufnahme zu Leon nach strenger Aufforderung des Vaters begonnen. Versucht beim Spiel mit dem Ball einige Wörter nachzusprechen. Neuer Termin ausgemacht.“ Der geplante Hausbesuch findet nicht statt. Der Vater sagt ab, weil es ihm nicht gut gehe und die Mutter in der Arbeit sei. Frau Paul hat den Eindruck, dass der Vater Alkohol getrunken hat, da er verwaschen spricht. Aber vielleicht hatte er auch gerade geschlafen. Sie traut sich nicht, ihn darauf anzusprechen, macht sich aber etwas Sorgen um Leon. Wäre sie in einer gewissen Weise mitschuldig, wenn jetzt etwas passiert, nur weil sie es nicht geschafft hat, den Vater mit ihrer Vermutung zu konfrontieren? Hätte sie ihm auf den Kopf zusagen müssen, dass er getrunken hat, oder nachfragen müssen, ob er im Moment gerade alleine für Leon verantwortlich ist? … und mit welcher Konsequenz? Jugendamt oder Polizei anrufen? Sie fühlt sich unwohl und hofft, dass sie falsch liegt … oder der Vater zumindest Gefahrenmomente erkennen und sich ausreichend um seinen Sohn kümmern wird. 108 FI 2/ 2021 Aus der Praxis Was wäre ganz grundsätzlich, wenn sie aufgrund einiger Vermutungen vor Gericht geladen würde … Könnten Eltern ihr auch eine Verleumdungsklage androhen, wenn sie Unrecht hätte? … oder persönliche Racheakte? Sie muss sich besser informieren. Der dritte Hausbesuch hätte beinahe wieder nicht stattgefunden. Leon sei so müde und müsse schlafen. Frau Paul schafft es, die Mutter davon zu überzeugen, dass sie kommen darf. Sie könnten die Zeit auch gerne zum Reden nutzen. Es gelingt Frau Paul mit der Mutter über ihre vielfältigen Belastungen zu sprechen. Frau Mutke äußert von sich aus, dass sie die ganze Nacht nicht geschlafen habe. Als Frau Paul sich einfühlsam nach ihrem sonstigen Befinden und dem Kontakt zu ihren Eltern erkundigt, berichtet Frau Mutke unter Tränen, dass sie eigentlich nicht mehr kann. Frau Paul spürt die Überforderungssituation der Mutter und ergreift die Gelegenheit, verschiedene Angebote vorzustellen, die sie unterstützen und entlasten können. Auch Leon könne davon profitieren, besonders in Momenten wie beim Essen, wo man gerade im Moment sehr viel Geduld und Energie brauche. Unter anderem berichtet sie vom Arbeitsbereich einer Sozialpädagogischen Familienhilfe, die Familien mehrere Stunden in der Woche begleiten könne. Dass das Angebot über das Jugendamt läuft, irritiert die Mutter. Das müsse sie mit ihrem Mann besprechen. Gut, dass sie nicht weiter nachfragt. Aber Frau Mutke wirkt dennoch erleichtert und bedankt sich für die Informationen. Sie will es sich überlegen. Frau Paul spürt eine deutliche Erleichterung und ist froh darüber, dass die Mutter selbst und nicht sie die Überforderungssituation und die Konsequenzen für Leon angesprochen hat. In der Hoffnung, dass sie nun einen Fuß in die Tür bekommen bzw. einen Ansatzpunkt gefunden hat, nimmt sie sich vor, neben der Förderung auch die familiäre Situation und die Belastungen im Blick zu behalten. Vielleicht kann die Familie ja ein Angebot der Jugendhilfe annehmen und vielleicht kann eine Reduktion der Belastungsfaktoren die Situation zwischen Eltern und Kind verbessern. Vielleicht wird es in diesem Fall nicht nötig sein, Maßnahmen gegen den Willen der Eltern zu ergreifen, um das Wohl des Kindes zu schützen. Sie nimmt sich vor, das Thema einmal grundsätzlich im Team zu besprechen. Vielleicht… Das innere Dilemma wahrnehmen und den eigenen Bedürfnissen Gehör verschaffen Versucht man die Perspektive von Frau Paul zu übernehmen, stellt sich die Frage, welche Gedanken und Gefühle sie hat und wie diese ihr Handeln leiten. Schon kurz nach Beginn der Frühförderung hat sie ein ungutes Bauchgefühl, welches ihr zu schaffen macht. Sie ist besorgt und hat einige Anhaltspunkte, die auf eine Gefährdung des Kindes hinweisen könnten. Sie ist in ihrem Verantwortungsgefühl angesprochen. Gleichzeitig ist sie in Sorge um sich selbst und hadert mit der fachlichen Einordnung ihrer Beobachtung. In einem inneren Dialog wägt sie Für und Wider ab und findet Lösungen, welche die sich widersprechenden Gefühle und Handlungsmöglichkeiten möglichst „abstellen“ sollen. Vielleicht gelingt es ihr, die Widersprüche und die damit einhergehenden Gefühle von selbst zu erkennen, oder es wird nach einer Teamsitzung oder nach einem Gespräch mit der befreundeten Kollegin klarer. Wie auch immer, wenn es gelingt die unterschiedlichen Anteile zu sehen, können sie verstanden werden und es wird möglich mit ihnen zu arbeiten. Die Themen, mit denen sie sich, wie viele andere in einem ähnlichen Fall, auseinandersetzen muss, sind: 109 FI 2/ 2021 Aus der Praxis n Angst/ Sorge, die Situation falsch eingeschätzt zu haben und damit der Familie unrecht zu tun bzw. aushalten zu müssen, dass die eigene Fachlichkeit infrage gestellt wird n Angst als Person „psychodynamischen“ Einschätzungen der Kollegen*innen ausgesetzt zu sein. n Sorge um das Kind n Nachvollziehbarkeit der elterlichen Belastung n Sorge vor Abbruch der Frühförderung seitens der Eltern, wenn kritische Punkte und die Notwendigkeit, weitere Hilfen zu installieren, angesprochen werden n Angst vor nicht vorhersehbaren Konsequenzen bei der Dokumentation wichtiger Anhaltspunkte und Bericht im Team n fehlende Rückmeldung an die Leitung, aus Angst vor den Auswirkungen bzw. vor Fehleinschätzung der Situation n Unsicherheit, ob es sich um einen unzulässigen Eingriff in die Erziehung/ Privatangelegenheiten/ Beziehung der Eltern handelt n Angst, vor Gericht aussagen zu müssen und die Eltern damit öffentlich anzuklagen n Angst vor Verleumdungsklagen und eventuellen Racheakten und tätlichen Angriffen der Familie In der Regel sind es wohl ganz besonders die Unsicherheit und der unklare Ausgang, die es schwer machen, die Eltern mit ihrem „Verhalten“ zu konfrontieren, und das führt unweigerlich dazu, dass in inneren Zwiegesprächen ausgehandelt werden muss, in welche Richtung es weitergeht. Das was als innerer Dialog zunächst ausschließlich in den Köpfen der Einzelnen - häufig sehr belasteten - Fachkräften stattfindet, entscheidet in erster Instanz darüber, wie das Handeln der Eltern bewertet wird. Wenn die Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung unter Abwägung anderer Aspekte, wie die Angst vor Fehleinschätzung oder dem Konflikt mit den Eltern, nicht ausreichen, unterbleibt der nächste, oftmals entscheidende Schritt. Die dabei entstehenden Gefühle - wie z. B. das des Mitschuldigwerdens - müssen zur Seite gedrängt oder unbearbeitet mitgetragen werden, da sie nicht kommuniziert und geteilt werden können. Erst wenn die innere Hürde genommen und der Verdacht mit anderen besprochen wird, besteht die Möglichkeit „Last“ abzugeben und im Vieraugenprinzip die eigenen Eindrücke in Bezug auf die potenzielle Gefährdung zu verifizieren. Auch auf die Gefahr hin, dass nun möglicherweise eine rechtliche relevante Situation entsteht, die unabsehbare Folgen nach sich zieht. In der Frühförderarbeit gilt erst einmal die Annahme, dass Eltern nicht absichtlich ihren Kindern schaden oder dass sie vorsätzlich das Unglück ihres Kindes in Kauf nehmen würden. Im inneren Dialog der mit belasteten Situationen konfrontierten Fachpersonen werden allerdings immer wieder verschiedene Szenarien durchgespielt und Auswirkungen vorweggenommen. „Was passiert, wenn es schief geht, das Jugendamt gar nicht tätig wird oder mich alle auslachen, weil ich mir um den ganz normalen Wahnsinn in der Familie Sorgen mache? “, „Was passiert, wenn ich gar nichts mache und die Eltern in einem anderen Moment völlig austicken oder das Kind in seiner Persönlichkeit langfristig Schaden nimmt ? “, „Was passiert, wenn ich mich traue und mich ausspreche? Werde ich von meiner Leitung unterstützt oder muss ich das dann alles alleine durchstehen…? “ Ohne dass ein solcher Prozess zwingend bewusst sein muss, ergeben sich daraus Folgen für fachliches Handeln. Es ist doch immer noch ein weiter Weg, schwieriges Verhalten der Eltern anzusprechen und in der Folge möglicherweise gegen ihren Willen eine Gefährdungsmeldung beim Jugendamt zu machen. Auch wenn die Notwendigkeit „gefühlt“ schon längst deutlich geworden ist, nicht zu wissen, welche Lawine dabei losgetreten wird, kann enorme Ängste und Befürchtungen auslösen. Der Prozess vor der „Veröffentlichung“ der Sorge um das Kind scheint also zunächst eher etwas mit Erfahrungen, Persönlichkeitsstruktur, eigenen Wertvorstellungen und weiteren ethisch-moralischen Aspekten zu tun zu haben als mit professionell-strukturiertem Vorgehen. Man könnte sagen: 110 FI 2/ 2021 Aus der Praxis „Für mich wahr und handlungsrelevant ist in erster Linie das, was ich mir unter Abwägung aller Gedanken und Gefühle zumuten kann.“ Dabei sind innerhalb dieser Prozesse Zweifel und Unsicherheiten notwendige Erkenntnismotoren. Sie setzen den inneren Dialog, der ganz wesentlich die Selbstrelation mitbestimmt, als einen elementaren Prozess in Gang. Wir erklären uns dabei selbst, was wichtig und bedeutend ist und welche Deutung wir den Ereignissen geben. Dieser innere Dialog wird von äußeren Faktoren wie z. B. Unklarheit „befeuert“. So ist z. B. der unbestimmte Rechtsbegriff „Kindeswohl“ nicht eindeutig definiert und es gibt ein unterschiedliches Verständnis, was konkret darunter zu verstehen ist. Das gilt auch für die Gefährdung desselben. Zwar sind in der Fachliteratur „gewichtige Anhaltspunkte“ beschrieben, die sich als relativ zuverlässige Indikatoren für langfristige Beeinträchtigungen herausgestellt haben, jedoch müssen diese individuell, auf den jeweiligen Fall bezogen, interpretiert werden. Wenn relativ eindeutige „Marker“ wie Hämatome an untypischen Stellen für alltägliche Verletzungen oder spezifische neurologische Symptome fehlen, ist es besonders diffizil und fragil, Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung festzumachen. Dies gilt besonders für Indikatoren aus dem Gefährdungsbereich „Vernachlässigung“. Darunter fällt z. B. die Tatsache, dass ein Kind Kleidung trägt, die der Jahreszeit bzw. den Temperaturen nicht angemessen ist. Auch Sachverhalte wie „alleinerziehende Mutter“, „beengte Wohnverhältnisse“, „straffälliger Vater“, „Untergewicht“, „Entwicklungsdefizite“, „Hilfeempfänger“, „Angehörige von Risikogruppen“ usw. bleiben für sich genommen erst einmal Stereotype bzw. Indikatoren, die als Einzelphänomen meist nicht auf eine Kindeswohlgefährdung hinweisen, sondern Ausdruck vielerlei Gründe sein können. Oftmals ist es erst die Kumulation und Wechselwirkung von Indizien, die zu einer entsprechenden Beurteilung führen. D. h. es sind in der Regel nicht die „handfesten Tatbestände“, die konkretes Handeln nach sich ziehen, sondern bestimmte Konstellationen, die aufgrund von empirischen Befundlagen als fachliche Fundierung ausreichen, um in der Folge Interventionen zu rechtfertigen. Ein weiterer Punkt, der zu Unsicherheiten beiträgt, ist, dass in unserer Gesellschaft dem Recht der Eltern ein hoher Wert beigemessen wird. Über viele Generationen hinweg hat sich ein Verständnis von Entwicklung und Erziehung entwickelt, in dem es durchaus möglich ist, auch gegen den ausgesprochenen Willen des Kindes zu handeln, wenn es seinem „Wohl“ dient. Bestrafungen sind nicht grundsätzlich ausgeschlossen und erzieherische Maßnahmen werden oft als Familienangelegenheit betrachtet, sodass die Grenze zwischen den sogenannten erzieherischen Maßnahmen und seelischer Misshandlung oft nicht so leicht auszumachen ist. Eine fachliche Positionierung, die Unterscheidung zwischen „gut“ und „böse“, ist in vielen Fällen nicht so einfach und braucht viel Erfahrung. Die Angst, etwas nicht richtig zu bewerten, ist groß und führt vermutlich des Öfteren dazu, sich nicht zu entscheiden und eventuelle Anhaltspunkte, über deren Bedeutung man sich nicht ganz klar ist, auszublenden. Dazu kommt das Moment der „Verstrickung“. Gerade in aufsuchenden Tätigkeiten, wie die der Frühförderung, werden die Eltern nicht nur in ihrem „Versagen“, sondern oftmals auch in ihrem ständigen Kampf und ihrem Bemühen wahrgenommen. Wenn Belastungen in der Familie gesehen werden, Identifikation mit den Eltern stattfindet oder das Verhalten der Eltern nicht durchgängig als negativ zu bewerten ist, fällt es schwer, kritisch zu sein und mit relativer Objektivität auf die Verhaltensweisen zu schauen, die dem Wohl des Kindes absolut nicht zuträglich sind. Durch den vorhandenen Interpretationsspielraum kommt es nicht selten vor, dass die verschiedenen Fachleute die Lebensumstände von Kindern oder die relevanten Schutz- und Risikofaktoren in einer Familie unterschiedlich beurteilen. Das erschwert es für eine einzelne Person zusätzlich, sich mit ihrer Einschätzung zu „outen“ oder anders ausgedrückt ihre individuellen inneren Konflikte zu teilen. 111 FI 2/ 2021 Aus der Praxis Förderliche Rahmenbedingungen, um innere Konflikte sichtbar zu machen und die Handlungsfähigkeit eines Teams zu stärken Alle Versuche, Handlungsanleitungen zum Schutz des Kindeswohls zu „operationalisieren“, führen bekannterweise nur teilweise zu unerschrockenem professionellen Handeln. Es erfordert wesentlich den Mut und die innere Stärke einzelner Akteure*innen. Es braucht deren Konfliktfähigkeit, Risikobereitschaft oder auch deren tragfähige Beziehungen im beruflichen wie im privaten Kontext, um Familien damit zu konfrontieren, dass man ihr Verhalten gegenüber dem Kind als gefährdend einschätzt. Im vorläufig schlimmsten Fall für den/ die Frühförder*in kann es dazu kommen, dass auch ohne das Einverständnis der Eltern Kontakt zum Jugendamt aufgenommen werden muss. Nach der Veröffentlichung der eigenen Haltung sind Entscheidungen zum Handeln oder Nichthandeln dann eine gemeinsame Angelegenheit innerhalb eines Teams oder gemeinsam mit dem Jugendamt oder anderen Instanzen. Es ist im pädiatrischen Arbeitsfeld eigentlich nicht möglich - und gegebenfalls sogar fatal - den Verantwortungen und Verpflichtungen auszuweichen. Wenn Hinweise dafür sprechen, dass elterliche Fürsorge nicht in ausreichendem Maß gewährleistet werden kann, oder gar akute Gefahr für Leib und Leben eines Kindes bestehen, ist eine Veröffentlichung der Einschätzung alternativlos. Aber wenn Team und Leitung nicht zur Verfügung stehen, um diese Prozesse zu begleiten, fühlen sich viele Frühförder*innen alleingelassen, insbesondere dann, wenn sie empfundenermaßen ihre Position „gegen den Rest der Welt“ vertreten müssen. Was also ist zu tun? Es scheint unabdingbar, die hier aufgezeigten unterschiedlichen Ebenen anzuerkennen, um sich wirksam mit dem Thema auseinandersetzen zu können. Individuelles Einschätzen von Familienlagen und die damit einhergehenden Gefühle einer Fachperson sind, jenseits festgelegter Leitlinien, immer ernst zu nehmen und zu respektieren. Es sollte keinesfalls in einer normativen Beurteilung der Person münden, die den Mut gefasst hat, ihre Sorgen sichtbar zu machen. Bereits während der Ausbildung der unterschiedlichen Fachdisziplinen in der Frühförderung könnte die Vermittlung einer solchen interdisziplinären Haltung Weichen für die spätere berufliche Praxis stellen. Dies gilt erst recht für den Umgang mit einer vermuteten oder befürchteten Kindeswohlgefährdung innerhalb von Teams und auf Einrichtungsebene. Imaginierte Fälle mit allen Eventualitäten im Team exemplarisch durchzuspielen, kann Ängste abbauen und Wege aufzeigen. Im Team erarbeitete und gesetzte Handlungsleitlinien, in denen ebenfalls der Schutz und die Anerkennung jeder Person im Team, die sich zu einem Sachverhalt äußert, vorausgesetzt werden muss, können bei tatsächlich bestehendem Handlungsbedarf entlastend für die handelnden Personen sein. Damit die Eltern darauf vertrauen können, dass empfohlene Maßnahmen und der Wunsch, andere Fachkräfte, z. B. aus Erziehungsberatungsstelle oder Jugendamt, hinzuzuziehen, auch wirklich ihrer Unterstützung dient, ist es hilfreich, sich selbst intensiv mit den Netzwerkpartnern und deren Aufgaben vertraut zu machen. Wenn das eigene Bild von den Akteuren im Kinderschutz ein negatives ist oder nur vage Informationen gegeben werden können, wie die Hilfen aussehen, wird es kaum gelingen, die Eltern davon zu überzeugen, sich auf den Weg zu machen, um Hilfsangebote zu erhalten und wahrzunehmen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass professionelles Handeln infolge wahrgenommener Gefährdungsmomente ein komplexes Geschehen darstellt, bei dem zu einem deutlichen Teil persönliche Anteile mit berufsspezifischen Kompetenzen interagieren. Um den Prozess bestmöglich zu gestalten, ist über die geregelten Verfahrensabläufe hinaus eine vertiefte Auseinandersetzung 112 FI 2/ 2021 Aus der Praxis mit den individuellen Gefühlslagen der Fachpersonen und deren Einfluss auf das fachliche Handeln notwendig. Es sollte gelten „wer sich getraut, wird geschützt! “. Plätze dafür lassen sich im Kontext Supervision aber auch innerhalb von Teambesprechungen entlang von Fallkonferenzen finden. Der Rückhalt durch Kolleg*innen, Vorgesetzte und strukturellen Haltungen innerhalb von Einrichtungen dürfte ebenfalls eine sehr wichtige Rolle spielen, um der vielschichtigen Thematik gerecht zu werden. Den in den letzten Jahren so häufig gehörten Fragen „Warum hat es niemand bemerkt“ oder „Wieso hat es niemand gemeldet? “ ließe sich die Antwort: „Weil sich niemand getraut hat“ entgegenstellen. Ob die Hilfe für ein Kind und seine Familie ausgelöst wird, scheint vor allem auch daran zu liegen, dass sich die involvierte, hinweisgebende Fachkraft sicher und getragen fühlt. Dies kann gelingen, wenn jenseits aller rational festgelegten Verfahrenswege die individuellen Gefühle der handelnden Personen sichtbar werden dürfen und können. In deren, in der Folge, gemeinsamer Betrachtung liegt oftmals etwas Entscheidendes, was sich in den Handlungsleitlinien nicht abbilden lässt. Martina Wolf Arbeitsstelle Frühförderung Bayern Seidlstr. 18 a 80335 München Leiter*in Arbeitsstelle Frühförderung Hessen ab dem 1. 9. 2021 Die Arbeitsstelle Frühförderung Hessen, in Trägerschaft der LAG Frühe Hilfen in Hessen e. V., ist als Fach- und Koordinierungsstelle zuständig für die fachlichinhaltliche und organisatorisch-strukturelle Mitgestaltung und Weiterentwicklung des hessischen Systems interdisziplinärer Frühförderung in enger Kooperation mit allen Beteiligten. Bewerber*innen verfügen über ein abgeschlossenes Diplom- oder Masterstudium im pädagogischen Bereich, in Psychologie oder einem vergleichbaren Abschluss sowie über langjährige Berufserfahrung im Arbeitsfeld interdisziplinärer Frühförderung. Weitere Informationen finden Sie unter www.asffh.de. Ihre Bewerbung senden Sie gerne an: Arbeitsstelle Frühförderung Hessen, Ludwigstraße 136, 63067 Offenbach, Tel. 069-8 09 09 69 60, E-Mail: asff@fruehe-hilfen-hessen.de - Anzeige -