Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2021.art15d
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Aktuell: Interdisziplinäre Frühförderung – Frühe Hilfen und Inklusion
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Otto Speck
Die Interdisziplinäre Frühförderung in Deutschland sieht sich seit einigen Jahren durch innovative Aktivitäten des 2008 gegründeten „Nationalen Zentrums Frühe Hilfen“ direkt angesprochen bzw. teilweise auch herausgefordert, da es sich dabei um die Zielvorstellung einer strukturellen Assoziation beider Systeme handelt. Es liegt nahe, den Grund für diese Annäherung in der Ähnlichkeit der beiden Bezeichnungen zu sehen. Anzeichen deuten aber darauf hin, dass er auch darüber hinausreicht. Es sind also Klärungen nötig. In diesem Sinne soll zunächst kurz auf die Entwicklungsgeschichte der Frühförderung eingegangen werden. [...]
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157 Frühförderung interdisziplinär, 40.-Jg., S.-157 - 166 (2021) DOI 10.2378/ fi2021.art15d © Ernst Reinhardt Verlag AK TUELL Interdisziplinäre Frühförderung - Frühe Hilfen und Inklusion Differente Profile - Ein Klärungsversuch Otto Speck Einleitung und Vorgeschichte Die Interdisziplinäre Frühförderung in Deutschland sieht sich seit einigen Jahren durch innovative Aktivitäten des 2008 gegründeten „Nationalen Zentrums Frühe Hilfen“ direkt angesprochen bzw. teilweise auch herausgefordert, da es sich dabei um die Zielvorstellung einer strukturellen Assoziation beider Systeme handelt. Es liegt nahe, den Grund für diese Annäherung in der Ähnlichkeit der beiden Bezeichnungen zu sehen. Anzeichen deuten aber darauf hin, dass er auch darüber hinausreicht. Es sind also Klärungen nötig. In diesem Sinne soll zunächst kurz auf die Entwicklungsgeschichte der Frühförderung eingegangen werden. Diese war aus den „Empfehlungen“ der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates „Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“ von 1973 hervorgegangen. Ich war berufenes Mitglied des betreffenden Ausschusses und hatte ein Gutachten über „Früherkennung und Frühförderung“ zu schreiben (Speck 1973). Die abschließenden „Empfehlungen“ enthielten ein eigenes Kapitel über „Früherkennung und Frühförderung“, an dessen Ausfertigung auch ein Sozialpädiater des Münchener „Kinderzentrums“, Prof. Dr. med. Pechstein, als ständiges Mitglied des Ausschusses mitgearbeitet hatte. Im Anschluss an vereinzelte Ansätze einer „Hausfrüherziehung“ für hörgeschädigte Kleinkinder an Sonderschulen, auch für geistig behinderte Kinder, sollten neben den medizinisch ausgerichteten, ambulant arbeitenden und großräumig zuständigen Sozialpädiatrischen Zentren regionale und familiennahe „Zentren für pädagogische Frühförderung“ landesweit entstehen, die mit mobilen Diensten in der Lage waren, wirklich alle Familien mit einem behinderten Kleinkind im Lande zu erreichen. Die Praxis zeigte aber bald, dass eine bloße Anbindung einer „pädagogischen Frühförderung“ an die jeweiligen Sonderschulen nicht mehr den erweiterten Erwartungen entsprach. Eine regionalisierte familiennahe und mobile Frühförderung konnte ohne medizinische Fachkräfte nicht funktionieren (Speck 1977). Das Ergebnis dieser Erfahrungen war, dass das Konzept erweitert werden musste: Die regionalen Frühförderstellen wurden eigenständig und interdisziplinär. In Abstimmung mit der Sozialpädiatrie verstanden sie sich nun als Interdisziplinäre Frühförderung und als Teile eines Verbundsystems mit den Sozialpädagogischen Zentren. In dieser Konstellation wurde das Konzept der Interdisziplinären Frühförderung später im Sozialgesetzbuch IX (Rehabilitation) rechtlich verankert. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass dieser Weg von einer „pädagogischen“ Frühförderung zu einer interdisziplinären Frühförderung damals nicht nur für die Schulseite (Gemeinsamkeit verschiedener Behinderungsarten) eine Umstellung erforderte, sondern teilweise auch für die medizinische Seite als eine Herausforderung empfunden wurde, da diese gleichzeitig daran war, eigene „Sozialpädiatrische Zentren“ aufzubauen. Die damaligen, vielfach von der Tradition her bedingten 158 FI 3/ 2021 Aktuell Missverständnisse und Divergenzen gehören inzwischen längst der Vergangenheit an. Wir können heute von einer konstruktiven Kooperation beider Systeme sprechen. - Erwähnt sei auch, dass ich noch vor der Wiedervereinigung Kontakte zur DDR hatte, wo ebenfalls eine „Rehabilitative Früherziehung“ im Entstehen war. Ich hatte als Spezialistin Prof. Dr. Ruth Becker aus Ost- Berlin zu einem Vortrag nach Bayern eingeladen. Der konkrete Aufbau von „Frühförderstellen“ in Bayern verlief so, dass - nach einem Vortrag von mir in München - sich sowohl das Bayer. Sozialministerium als auch das Kultusministerium für deren Installierung interessierte. Letzteres war dann schneller bezüglich der Finanzierung, sodass schon 1974 mit dem Aufbau der ersten Frühförderstellen an den bayerischen Sonderschulen begonnen werden konnte. Durch eine Bund-Länder-Finanzierung konnte an meinem Lehrstuhl an der Universität München ein Forschungsprojekt zum landesweiten Aufbau dieser Einrichtungen gestartet werden, die „Arbeitsstelle Frühförderung“. Sie besteht auch heute weiter und wird vom Sozialministerium finanziert. Die „Interdisziplinäre Frühförderung“ bildet heute ein landesweit gut ausgebautes, politisch und rechtlich fest verankertes System. Wissenschaftliche Untersuchungen (Peterander und Speck 1990) hatten gezeigt, dass es mit seinen Leistungen sowohl bei den Eltern als auch bei den eigenen Fachleuten hohe Anerkennung findet. In einer solchen Position ist es erklärlich, dass Irritationen eintreten, wenn nun eine neue Institution auf den Plan tritt, die eine ähnliche Bezeichnung führt und diese Position in Teilen für veränderungsbedürftig hält. Fachlich strukturell gesehen sind es gegenwärtig vor allem zweierlei Herausforderungen, die thematisch miteinander in Beziehung stehen, und die innerhalb der Interdisziplinären Frühförderung auch kritisch diskutiert werden. Die eine bezieht sich auf das unklare Verhältnis von Interdisziplinärer Frühförderung und Frühen Hilfen und die andere auf das aktuelle und strittige Sprachfeld „Inklusion“, das im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe wegen zahlreicher neuer unklarer Begriffe zu irritierenden Auslegungen der UN-Behindertenrechtskonvention geführt hat. Interdisziplinäre Frühförderung und Frühe Hilfen Die 1974 durch eine Initiative des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus begründete und inzwischen im ganzen Bundesgebiet verbreitete „Interdisziplinäre Frühförderung“ wurde 2007 durch die Errichtung eines „Nationalen Zentrums Frühe Hilfen“ insofern überrascht, als der Name „Frühe Hilfen“ ursprünglich auch für Einrichtungen einer frühen pädagogischen Förderung geistig behinderter Kinder verwendet worden war, sodass vermutet werden konnte, dass es sich um eine ähnliche, möglicherweise konkurrierende Institution handelt. Damit wurde zunächst ein erster emotionaler Vorbehalt gegenüber dem neuen Dienst ausgelöst, jedoch keine absolute Distanzierung. Mit allmählich zunehmender Information wuchs die Einsicht, dass die „Frühen Hilfen“ auch als eine Ergänzung der Interdisziplinären Frühförderung angesehen werden könnten, insbesondere nachdem die Frühen Hilfen im Bundeskinderschutzgesetz mit der speziellen Aufgabe früher Hilfen und Unterstützungen für Familien in besonders belastenden Lebenslagen rechtlich verankert worden waren und damit eine Aufgabe übernehmen sollten, die vonseiten der Frühförderung immer wieder als Desiderat empfunden worden war: Frühe Hilfe und frühe Förderung für Kinder und Familien in sozial belastenden Verhältnissen. Dass die ursprüngliche Einstellung aufseiten der Interdisziplinären Frühförderung gegenüber den neugegründeten „Frühen Hilfen“ eine eher offene war, lässt sich u. a. damit belegen, dass Prof. Dr. med. Fegert als Vertreter der Frühen Hilfen in die Herausgeberrunde der Zeitschrift „Interdisziplinäre Frühförderung“ aufgenommen wur- 159 FI 3/ 2021 Aktuell de. Diese wies sich nun auf ihrem Cover neu als „Zeitschrift für Frühe Hilfen und frühe Förderung benachteiligter, entwicklungsauffälliger und behinderter Kinder“ aus. Eine Tagung von Bundesvereinigung Lebenshilfe und Frühen Hilfen 2010, die zum Ziel hatte, eine breitere Diskussion in und zwischen den Systemen anzuregen, setzte jedoch auch erste Fragezeichen. Während der Titel in einem vorausgegangenen Impulspapier zunächst einladend offen noch gelautet hatte: „Interdisziplinäre Frühförderung und Frühe Hilfen. Wege zu einer intensiveren Kooperation und Vernetzung“ (2010 a), hieß er nach der Tagung verändert: „Interdisziplinäre Frühförderung im System der Frühen Hilfen“ (Nationales Zentrums für Frühe Hilfen. Dokumentation 2010 b). In einem an die Tagung anschließenden Paper von Prof. Hans Weiß unter Mitwirkung von Alexandra Sann vom Deutschen Jugendinstitut, in dem Folgerungen aus dem Verlauf der Tagung in offener Diktion dargestellt wurden, war der ursprüngliche Titel beibehalten worden: „Interdisziplinäre Frühförderung und Frühe Hilfen - Wege zu einer intensiveren Kooperation und Vernetzung“ (2013). Dass diese ersten Kontakte ins Stocken gerieten, dürfte zum einen mit allgemeinen Kommunikationsdefiziten bei der Vielfalt von Institutionen heute zu tun gehabt haben. Zum anderen riefen dann Veröffentlichungen mehr Aufmerksamkeit hervor, die darauf hindeuteten, dass die Interessen der Frühen Hilfen auch über bloße Kooperationen hinausgingen. Der neue Begriff von einem übergreifenden System Frühe Hilfen wiederholte sich 2020 in einer Artikel-Überschrift im Informationsblatt des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen, wo von der Frühförderung als einem „Teil der Frühen Hilfen“ die Rede war (Sohns 2020). Ebenfalls befremdend wirkte es, als es in einem Artikel in der „Monatsschrift Kinderheilkunde“ (3/ 2020) hieß, dass künftig „das Gesundheitswesen als Eintrittsort für Frühe Hilfen fungieren“ sollte, und dass diese sich „insgesamt an Konzepten der Gesundheitsförderung orientieren“ sollten (vgl. S. 196): Ein völliges Novum für die Interdisziplinäre Frühförderung! Auffallend ist auch, dass in diesem Artikel mit der Überschrift „Frühe Förderung und Frühe Hilfen in Deutschland“ durchgehend das Adjektiv „Interdisziplinäre“ vor Frühförderung fehlt, obwohl es für die „Frühförderung“ als konstitutiv gilt. Die „Arbeitsstelle Frühförderung“ in München beispielsweise, deren Aufgabe im Besonderen in der Fortbildung der professionell verschiedenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besteht, gliedert sich in eine Pädagogisch-Psychologische und eine Medizinische Abteilung. Warum also diese Ignorierung der unmittelbaren Interdisziplinarität mit der Medizin? Steht der Verbund mit der Medizin einer Assoziation mit den Frühen Hilfen im Wege und zwar aus Gründen der unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen: SGB IX vs. SGB VIII? In den letzten „Informationen aus dem Nationalen Zentrum Frühe Hilfen“ (2020) wird zwar allgemein anerkennend zum Ausdruck gebracht, dass „die Frühförderung“ eine gute Kooperationspartnerin der Frühen Hilfen sei, und dass sie mit evidentem Erfolg arbeite, dass aber durch eine gute Kooperation in den Netzwerken vor Ort zunehmend Synergien entstehen könnten, die den Familien zugute kommen (M. Paul, Leiterin des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen, in „Frühe Hilfen aktuell“ 2020). Die Formulierung, dass Kompetenzen der Frühförderung und der Frühen Hilfen „ineinander verschränkt“ bzw. „gebündelt“ werden müssten (Thyen 2020), löst freilich Fragen aus, ebenso wenn es vereinfachend heißt: „Gemeinsam kommt da auf jeden Fall mehr heraus, als wenn die Systeme einzeln arbeiten.“ Analoges gilt für die Formulierung, für die praktische Umsetzung der Frühen Hilfen sei „eine enge Vernetzung und Kooperation von Institutionen und Angeboten aus den Bereichen der Schwangerschaftsberatung, des Gesundheitswesens, der interdisziplinären Frühförderung, der Kinder- und Jugendhilfe und weiterer sozialer Dienste“ nötig. Frühe Hilfen hätten sowohl das Ziel, die flächendeckende Versorgung von Familien mit bedarfsgerechten Unterstützungsangeboten voranzutreiben, als auch die Qualität der Versorgung zu verbessern“ (zit. aus dem Leitbild des Nationalen 160 FI 3/ 2021 Aktuell Zentrums, Wiss. Beirat 2014). Kann mit einer solchen Bündelung nicht auch das Risiko einer Überforderung verbunden sein? Zur Kritik an der Interdisziplinären Frühförderung, sie beschränke sich nur auf „Kinder mit körperlicher, seelischer, geistiger oder Sinnesbeeinträchtigung, was zu einer Beeinträchtigung der Teilhabe führen könnte, sei hier (vorab) nur angemerkt: Das verbreitete Verdikt gegen spezielle Einrichtungen für behinderte Kinder ist aus der UN-BRK nicht ableitbar. Es stellt, wie noch weiter unten ausführlicher dargestellt werden soll, eine überzogene Ausdeutung der UN-BRK dar. Allgemein gesehen stünde es im Gegensatz zur hohen Geltung der Vielfalt heute, wenn darüber geklagt wird, dass „kein gemeinsames, einheitliches System“ bestehe, oder wenn es an anderer Stelle heißt: „Die bestehende Fragmentierung verhindere … eine umfassende und integrierte Versorgung von Kindern“. Man vermisst Belege. Zu fragen ist, ob mit „Fragmentierung“ die institutionelle Unterscheidbarkeit von Frühen Hilfen und Interdisziplinärer Frühförderung gemeint ist. Wenn aus sozialräumlicher Sicht festgestellt wird, dass sich eine „Vielzahl von Anknüpfungspunkten“ biete, die die Organisation von kooperativen Netzwerken vor Ort“ ermöglichen könnten, wenn im Impulspapier des NZFH (2010, 198) von „systematischer Vernetzung und Kooperation“ oder von der „Aufnahme der Interdisziplinären Frühförderung in die Begriffsbestimmung Frühe Hilfen“ die Rede ist oder „eine enge Vernetzung und Kooperation von Institutionen und Angeboten aus den Bereichen der Schwangerschaftsberatung, des Gesundheitswesens, der Interdisziplinären Frühförderung, der Kinder- und Jugendhilfe und weiterer sozialer Dienste“ und eine „wesentlich stärkere inhaltliche und organisatorische Verzahnung im Sozialraum“ anzustreben sei (a. a. O.), so wünscht man sich eine nähere Klärung der Details und damit verbundenen Folgen. Bekanntlich enthält eine Vermehrung und Vergrößerung des Aufgabenspektrums eines Unternehmens auch das Risiko zunehmender Komplexität und damit von Mehrbelastungen. Wenn die Frühen Hilfen außerdem für sich eine Entwicklung übergeordneter Interessen in Aussicht stellen und erklären, dass sie sich seit Längerem von ihrem ursprünglichen Ansatz einer „Engführung auf den Kinderschutz ein Stück weit gelöst und um Anteile von Förderung und Teilhabe erweitert“ hätten (in: NZFH 2010 b), dass sie sich nicht mehr als eine Art Vorstufe des Kinderschutzes im engeren Sinne reduziert fühlten, sondern als ein eigenständiges Handlungsfeld sehen, zugleich aber auch feststellen, dass „eine eigenständige, kindbezogene Perspektive …in den Frühen Hilfen … wenig entwickelt“ sei, so vermisst man eine Konkretisierung dieses Mankos. Immerhin heißt es in der Begriffsbestimmung Früher Hilfen der Beiräte des NZFH, Frühe Hilfen zielten darauf ab, Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Eltern in Familie und Gesellschaft frühzeitig und nachhaltig zu verbessern. Diese (recht allgemeine) Begriffsbestimmung eröffne Anschlussmöglichkeiten für die Beiträge unterschiedlicher Hilfesysteme zu einer integrativen Begleitung und Unterstützung von Eltern und Kindern in der Phase der frühen Kindheit (A. Sann a. a. O.). Was wird damit im Vergleich zum jetzigen Zustand neu ins Spiel gebracht? Ein Stück konkreter in der Aussage ist eine Grafik (Thyen und Simon 2020, 200). Dargestellt wird ein kombiniertes Verbundsystem von vier Teil-Institutionen und einem Zentrum, das als Kreis gezeichnet für die „Frühen Hilfen“ steht und offensichtlich deren Leitfunktion ausdrücken soll. Die umgebenden Teilinstitutionen, als rechteckige Felder gezeichnet, stehen jeweils für „Gesundheitswesen“, „Schwangerschaftsberatung“, „Kinder- und Jugendhilfe“ und „Frühförderung“), wobei die inneren Eckteile der vier Teilfelder vom Kreis des Zentrums überlagert werden, dieser aber kleiner ist als jedes der vier Teilfelder. Auffallend ist, dass sich hier die „Frühen Hilfen“ aufgeteilt haben: Vom Zentrum „Frühe Hilfen“ abgetrennt und zu Teilfeldern geworden sind „Gesundheitswesen“ und „Schwangerschaftsberatung“. Die Art der Zuordnung aller vier Teilfelder zum Zentrum lässt den Schluss zu, dass dem Zentrum eine Primärfunktion gegenüber den vier Handlungsfeldern zukommen soll. 161 FI 3/ 2021 Aktuell Immerhin verfügen die Frühen Hilfen über einen imponierenden institutionellen Überbau: Sie werden gefördert von einem Bundesministerium (BMFSFJ), von einer Bundesstiftung Frühe Hilfen und verfügen über ein Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) in gemeinsamer Trägerschaft von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und Deutschem Jugendinstitut (DJI). Demgegenüber ist die Interdisziplinäre Frühförderung eine autonome Einrichtung auf der Basis einer landesministeriellen Zuordnung und einer direkten paritätisch verfassten Verbindung von psychologisch-pädagogischen und medizinischen Diensten bzw. einer ebenso paritätisch verfassten Selbstvertretung als „Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung“. Wenn im Impulspapier des NZFH (2010 a, 3) festgestellt wird, dass bisher „eine eigenständige, kindbezogene Perspektive in den Frühen Hilfen wenig entwickelt“ sei, so kann gefolgert werden, dass dies ein eigenes Manko darstellt, das sich durch eine Übernahme der Interdisziplinären Frühförderung ausgleichen und sich damit ein „gemeinsames, einheitliches System“ für Deutschland schaffen ließe. Es gäbe dann „vor Ort keine geteilten Institutionen und Zuständigkeiten (mehr), die zu „Ungleichbehandlungen“ führen könnten und damit „den Verboten der UN-BRK sowie der UN-Kinderrechtskonvention widersprechen und aufgelöst werden (müssten)“ (Thyen und Simon 2020, 204). Dazu anzumerken wäre zum einen, dass in der UN-BRK keine Ablehnung jeglicher „geteilter Institutionen und Zuständigkeiten“ zu finden ist. Der Begriff der Inklusion wird ebenso wie der der „Teilhabe“ vielmehr als ein normativer, nicht also als ein ordnungsrechtlicher Begriff verwendet, der eine klare Grenzziehung von Rechtmäßigkeit und Nicht-Rechtmäßigkeit von „Inklusion“ in der Realität kontrollierbar festlegen könnte. Nach meiner Auffassung ist der Begriff der „Inklusion“ in der UN-BRK vielmehr bewusst unbestimmt gehalten, um den varianten Bedingungen individueller Behinderungen und definierter Hilfemöglichkeiten in den verschiedenen Ländern besser entsprechen zu können (Speck 2019). Zum anderen würde die Annahme einer diskriminierenden Wirkung spezieller Hilfeangebote für bestimmte bedürftige Einzelgruppen von Menschen bedeuten, dass jegliche Hilfswerke für Menschen mit auffallenden Abweichungen von der „Normalität“, wie z. B. für „Hungernde“ oder „Obdachlose“, als rechtlich diskriminierend angesehen werden müssten. Heime für behinderte Kinder und Wohnheime für Erwachsene mit einer Behinderung würden dann eine Diskriminierung und damit als eine Verletzung von Menschenrechten bedeuten. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die hier angesprochenen Bedenken und Fragezeichen gegenüber dem Interesse der „Frühen Hilfen“ an einem Verbund mit der Interdisziplinären Frühförderung - in welcher Form auch immer - bedeuten keine generelle Absage an eine verbesserungsfähige Kooperation zwischen beiden Institutionen. Nötig aber sind Klarstellungen in mehreren Details. So wird im Zusammenhang mit der ins Spiel gebrachten zusätzlichen Zuständigkeit von Jugendämtern oder Gesundheitsämtern eine damit verbundene mögliche Verkomplizierung und Belastung der Arbeit nicht thematisiert. Die bisherige weitgehende Eigenständigkeit der regionalen Frühförderstellen gilt immerhin als ein wesentlicher Grund für deren Erfolg, der im Übrigen auch darauf beruhen dürfte, dass die Interdisziplinäre Frühförderung zusätzlich weder an Gesundheitsämter noch an Jugendämter gebunden ist. Die zentrale Frage dürfte die nach der Eigenständigkeit sein. Man könnte auch von einer „Gretchenfrage“ sprechen. Sie wurde u. a. am Ende der Dokumentation des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (2010 b) von einem Teilnehmer (N. N.) angesprochen. Er unterstrich das Selbstbewusstsein der Frühförderung und regte an, bei der Begriffsbestimmung Frühe Hilfen „keine Über- oder Unterordnung der Frühförderung vorzunehmen“. Dieser Satz blieb im Bericht unkommentiert. Für die Interdisziplinäre Frühförderung ist die Frage nach ihrer Eigenständigkeit von entscheidender Bedeutung. 162 FI 3/ 2021 Aktuell Interdisziplinäre Frühförderung und Inklusion in das SGB VIII Neben den Frühen Hilfen ist inzwischen auch die Kinder- und Jugendhilfe an einer Einbeziehung der Interdisziplinären Frühförderung in den eigenen rechtlichen Rahmen des Sozialgesetzbuches VIII - Kinder- und Jugendhilfe interessiert. Die Gründe liegen mehr im rechtlichen und finanziellen Bereich und zielen allgemein auf mehr Vereinheitlichung. Da die Begründungen sich vor allem auf die UN-BRK beziehen, soll hier der Aspekt der Inklusion in den Vordergrund gestellt werden. Die generelle Forderung ist darauf gerichtet, unterschiedliche Systeme zur Förderung der individuellen und sozialen Entwicklung junger Menschen, wie dies in § 1,3 SGB VIII grundgelegt ist, durch Vereinheitlichungen abzulösen, um Diskriminierungen entgegenzuwirken, wie dies die UN-BRK fordere. Die Frage, um die es hier speziell geht, ist also die, ob diese Ableitung aus dem Begriff der Inklusion genügend begründet ist, d. h. ob - wie als „Große Lösung“ vorgeschlagen - die Eingliederungshilfe und damit auch die Interdisziplinäre Frühförderung ihren rechtlichen Geltungsrahmen in der Kinder- und Jugendhilfe gemäß SGB VIII finden sollten. Die Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Deutschen Bundestag hatte eine starke, z. T. euphorische Resonanz in der Öffentlichkeit ausgelöst. Mit ihr verbunden waren unterschiedliche Auslegungen und Konsequenzen, die im Wesentlichen damit zu tun hatten, dass der Begriff „Inklusion“ in der UN-Konvention einen unbestimmten Rechtsbegriff darstellt, also keine begrifflich scharfen Konturen hat. Die Folge waren zwiespältige bzw. einseitige Auslegungen des Textes. Diese hatten z. B. im Bildungsbereich ernüchternde, z. T. chaotische Folgen und führten schließlich zu einer generellen Revision des ursprünglichen Ansatzes einer Vollinklusion, wie sie der Deutsche Bundestag vertreten hatte (Speck 2019). Im Zentrum der Spannungen stehen radikale Auslegungen der UN-BRK, wonach sämtliche speziellen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen zugunsten einer Inklusion und „Teilhabe“ in allgemeine Einrichtungen („Schule für alle! “) abgeschafft werden sollten. Die bisherige zehnjährige praktische Umsetzung im Bildungsbereich hat jedenfalls gezeigt, dass eine solche Lösung, auch international gesehen, nicht nur auf Probleme der gesellschaftlichen Realität stößt, sondern - im Gegensatz zu vielfach und auch offiziell geäußerten Behauptungen - aus der UN-BRK eindeutig nicht ableitbar ist (Speck 2019). Hier heißt es in Art. 2 vielmehr: Eine Diskriminierung liegt vor, wenn eine „Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung auf Grund einer Behinderung zum Ziel oder zur Folge hat, dass die auf die Gleichberechtigung mit Anderen gegründete Anerkennung, Inanspruchnahme oder Ausübung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, staatsbürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird.“ Sie umfasse auch „die Verweigerung angemessener Vorkehrungen“, d. h. spezieller Hilfen und Unterstützungen. Eine Klarstellung hatte schon die Salamanca-UN- Erklärung von 1994 gebracht, die als Entstehungsbasis für die UN-BRK gilt. Hier hieß es prinzipiell, dass alle Kinder „mit besonderen Bedürfnissen“ (aus den bekannten integrativen Gründen) in Regelschulen aufgenommen werden sollten, „außer es gibt zwingende Gründe, dies nicht zu tun“ (1994, P. 3). Dieser Zusatz kann nur bedeuten, dass auch spezielle Institutionen, wie z. B. spezielle Schulen, als Ausnahmen von der Regel nach wie vor ihre Berechtigung haben, gewissermaßen im Sinne eines „Twin Tracks“, eines Doppelgleises. Ausnahmeregelungen sind reguläre Bestandteile eines humanen Rechtssystems. Der radikale Ansatz einer totalen Vereinheitlichung und Gemeinsamkeit hat sich inzwischen - auch aus finanziellen und personellen Gründen und auch international gesehen - als eine Idealvorstellung erwiesen, der zumeist Konformismus 163 FI 3/ 2021 Aktuell zugrunde liegt (Speck 2019). Dass die Wirklichkeit eine andere ist, lässt sich vor allem damit belegen, dass die Eltern behinderter Kinder, die heute die freie Wahl bezüglich der Schule für ihr Kind haben, sich nach zehnjähriger Umsetzung der UN-BRK in klar überwiegender Mehrheit für den Besuch von Förderschulen für ihr Kind entscheiden - oftmals auch nach einem anfänglichen „Inklusionsversuch“. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass ein gewichtiger Grund für diese Entscheidung darin gesehen werden muss, dass die Regelschulen zu wenig materiell und professionell auf ihre neue Funktion vorbereitet, also überfordert waren und sind. Im Unterschied zur schulischen Praxis von Inklusion, wo das Thema von Integration/ Inklusion schon seit der Verabschiedung der „Empfehlungen“ des Deutschen Bundsrates 1973 heftig diskutiert wird und wo sich deren Ergebnisse durch statistische Zahlen zum obligaten Schulbesuch aller Schülerinnen und Schüler mit einer Förderschulbesuchsquote bzw. einer Inklusionsquote unmittelbar darstellen lassen, hat es die Kinder- und Jugendhilfe mit einer relativ offenen Szenerie zu tun, in der Inklusion vor allem als Prinzip thematisiert wird. Eine durchgreifende Diskussion des Themas Inklusion setzte erst mit der Verabschiedung der UN-BRK ein. Dies erklärt die zeitweise Beobachtung, dass anfangs übereilte Konsequenzen aus der UN-BRK gezogen wurden, dass z. B. notwendige Ressourcen im Bereich der Kindertagesstätten an Förderschulen zurückgehalten wurden und diese Maßnahmen mit „Inklusion“ und dem vorgesehenen Ende der Förderschulen begründet wurden. Wenn heute vonseiten der Kinder- und Jugendhilfe ein „Paradigmenwechsel“ als Konsequenz aus der These: „Ein Mensch ist nicht behindert; er wird behindert! “ (Thyen und Simon 2020, 204) gefordert wird, so handelt es sich dabei um einen umstrittenen Satz, der schon seit Jahrzehnten im Bereich der Schule und der Sonderpädagogik ausdiskutiert war. Zur Zeit der Beratungen zur UN-BRK im Bundestag war er in den Medien von einer Diskriminierungskampagne gegen die Förderschulen, d. h. gegen jegliche spezielle Einrichtungen für behinderte Kinder und Jugendliche, begleitet worden. Förderschulen wurden als „Gefängnisse“, als „unverdünnte Hölle“ oder als „Erinnerung an die Selektionsrampe in Auschwitz“ diskriminiert. Irrig war dabei die Behauptung, diese Einrichtungen stünden im Widerspruch zur UN-BRK und müssten nun als spezielle Einrichtungen für Kinder mit Behinderungen aufgelöst werden. Stattdessen müsse für alle Kinder, auch die behinderten, ein einheitliches Bildungssystem geschaffen werden. Dieses ideologisch konstruierte Verdikt traf auch die Interdisziplinäre Frühförderung, obwohl hier im Unterschied zu Schulen und Kindertagesstätten kein Kind aus irgendeiner Gemeinsamkeit und Teilhabe ausgegrenzt wird. Es stellt sich die Frage, wie es zu erklären ist, dass die Frühförderung als eine diskriminierende Einrichtung kritisiert werden konnte und auch heute noch dem Vorwurf ausgesetzt ist, sich nicht an das Inklusionsprinzip der UN-BRK zu halten. Ich hatte es mir früher nie vorstellen können, dass die familienbezogene Frühförderung von Kleinkindern mit einer diagnostizierten oder drohenden Behinderung nun als eine exkludierende und damit diskriminierende Institution abgewertet werden könnte. So wurde z. B. ein Artikel von mir über „Interdisziplinäre Frühförderung“, der seit 2001 im „Handlexikon der Behindertenpädagogik“ stand, in der 3. Auflage 2016 von der neugebildeten Herausgeberrunde kommentarlos gestrichen und durch einen allgemeinen Artikel über „Frühe Bildung“ ersetzt (vgl. Speck 2012). Kritisiert wurde in dem schon genannten Aufsatz über „Frühe Förderung und Frühe Hilfen in Deutschland“ (2020) auch, dass die Interdisziplinäre Frühförderung sich nur auf „Kinder mit körperlicher, seelischer, geistiger oder Sinnesbeeinträchtigung „beschränke“, also „kein gemeinsames, einheitliches System (darstelle). Die Zugangsmöglichkeiten (erfüllten) (noch) nicht die Ansprüche der UN-Behindertenrechtskonvention.“ 164 FI 3/ 2021 Aktuell Solche Ansprüche weist aber die UN-BRK in Wirklichkeit überhaupt nicht auf. Schon in der Diskussion um das Normalisierungskonzept in den siebziger Jahren war deutlich geworden, dass auf spezialisierte Dienste nicht vollständig verzichtet werden kann (vgl. Speck 2003, 404 - 406). Der bekannte Vertreter des Normalisierungsprinzips, Bank-Mikkelsen (1976), sprach lediglich von „einem Leben so nahe als möglich an normalen Lebensbedingungen“. Wolfensberger (1972), ein amerikanischer Vertreter des Normalisierungsprinzips, hatte beispielsweise lediglich ein „möglichst integriertes Wohnen“ für geistig behinderte Menschen gefordert, d. h. Normalisierung - und damit auch Inklusion - als Gemeinsamkeit oder Teilhabe sind als normative Begriffe zu verstehen, die als Regel gelten. Auf die Ausnahmenregelung in der Salamanca-UN-Erklärung von 1994 ist bereits hingewiesen worden, ebenso auf die Doppellösung (Twin Track) im deutschen Schulsystem, wonach - auch international gesehen - neben den Allgemeinen Regelschulen auch Förderschulen als Ausnahmen von der Regel legitimiert sind. Die Formel „Inklusion für alle“ ohne Ausnahme stößt nicht nur auf reale Probleme der fachlichpraktischen Umsetzung, sondern auch auf ganz erhebliche finanzielle Mehrbelastungen bezüglich der damit verbundenen Personalkosten. Deren Höhe konnte schon im Zusammenhang mit den Beratungen des Deutschen Bundestags zur UN- BRK durch Ergebnisse einer Untersuchung durch das Berliner Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (Fibs) nachgewiesen werden. Sie war von der Partei der Grünen im Bundestag beantragt worden, die für die Abschaffung der Förderschulen eingetreten war. Danach würden sich durch eine völlige Abschaffung der Förderschulen zugunsten einer totalen Gemeinsamkeit an allen Allgemeinen Schulen die Gesamtkosten verdoppeln. Zu befürchten wäre damit ein Verstoß gegen Art. 7 UN-BRK, wo es unter Ziff. 2 heißt: „Bei allen Maßnahmen, die behinderte Kinder betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Diese Regelung entspricht der generellen Regel, dass die „speziellen Bedürfnisse“ dieser Kinder zu beachten sind. Eindeutig widerlegbar ist die vielfach, auch offiziell verbreitete These, die Gemeinsamkeit aller Kinder in jedweder Einrichtung sei ein „Menschenrecht“. Infolgedessen stellten alle speziellen Einrichtungen für behinderte Kinder einen Verstoß gegen ein Menschenrecht dar. Davon kann aber keine Rede sein! Dies geht u. a. aus einem UNESCO-Dokument (2005), das sich auf eine „Education for All“ bezieht, unmissverständlich hervor: Die entsprechende UN-Leitformel lautet in Wirklichkeit: „Inclusion in Education - a human right“. Das Menschenrecht bezieht sich also nicht auf eine totale schulische Gemeinsamkeit („für alle“), sondern: Alle Kinder haben das Recht auf Schulbesuch, welcher Schulart auch immer. Die Betonung dieses Menschenrechtes ist darin begründet, dass noch immer Millionen behinderter Kinder auf der Erde keinerlei Schulen besuchen. Ziff. 2 hat also eine grundlegende Bedeutung dahingehend, dass bei der als Regelfall geltenden Gemeinsamkeit die speziellen Förderungsbedürfnisse der behinderten Kinder (special needs) nicht vernachlässigt werden dürfen. Das heißt, Gemeinsamkeit oder soziale „Teilhabe“ beinhalten kein absolutes Vorrecht gegenüber der Notwendigkeit spezieller Hilfen aufgrund bestehender spezieller Bedürfnisse. Gemeinsamkeit ist also nicht alles, worauf es bei der Inklusion behinderter Kinder ankommt. Mit der Verpflichtung aus dem Art. 7 UN-BRK entsteht jedoch dann eine Spannung bzw. ein Widerspruch zu gegenwärtigen Bemühungen der Kinder- und Jugendhilfe, wenn im Sinne eines „Inklusiver-Werdens“ beabsichtigt ist, diese mit der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen zusammenzuführen, sodass „alle“ jungen Menschen davon profitieren könnten und jede Kennzeichnung von „Menschen mit Behinderungen“ sowie jegliche speziellen Institutionen wegfielen (Müller-Fehling 2021,110f ). Für eine Zusammenlegung von Leistungsträgern sprechen sicherlich viele finanzierungstechnische Probleme und bisherige Defizite, wie sie auch von Bemühungen der Interdisziplinären Frühförderung um eine „Komplexleistung“ gemäß SGB IX bekannt sind. Sie haben aber bis jetzt zu keiner wirklichen Lösung geführt. 165 FI 3/ 2021 Aktuell Bei einem Zusammenlegungsversuch entstünde allerdings generell das rechtliche Problem, dass zusätzliche Ressourcen der öffentlichen Hand, wie die Eingliederungshilfe, jeweils nur bestimmten, also in diesem Falle als hilfebedürftig diagnostizierten Personengruppen zugeteilt werden könnten. Die Präambel der UN-BRK, wo es unter „r“ heißt, dass „behinderte Kinder gleichberechtigt mit anderen Kindern alle Menschenrechte und Grundfreiheiten in vollem Umfang genießen sollen“, schließt nicht nur nicht aus, dass für den Personenkreis behinderter Kinder Ausgleichsressourcen zur Verfügung stehen müssen, sondern diese sind in Art. 2 „angemessene Vorkehrungen“ UN-BRK gefordert. Die Aussage, die Kinder- und Jugendhilfe würde inklusiver, wenn sie eine Gesamtverantwortung für alle jungen Menschen, also auch für behinderte (Eingliederungshilfe) übernähme, ihre Ressourcen also „für alle“, nicht nur für behinderte Kinder, einsetzen könnte, erscheint damit eher als fragwürdig. Einen gewichtigen Beleg dafür, dass es sich keineswegs um Diskriminierungen handelt, wenn für behinderte Menschen spezielle Regelungen und Institutionen geschaffen werden oder bestehen, enthält die UN-BRK speziell in Art. 2 und 7. Diese entsprechen den „besonderen Bedürfnissen“ behinderter Menschen (special needs), aus denen sich zusätzlich nötige Hilfeleistungen ergeben. Es trifft also nicht zu, dass eine Diskriminierung durch diese erst dann aufgehoben würde, wenn die entsprechenden Hilfen nicht allein für diese Kinder, sondern „für alle“ zur Verfügung stünden. In der Präambel der UN-BRK wird unter „f“ betont, dass „Maßnahmen auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene zur Erhöhung der Chancengleichheit für behinderte Menschen“ zu treffen sind. Mit „Maßnahmen“ können nur spezielle Hilfen für diese Menschen gemeint sein. Diese für diskriminierend zu halten und an deren Stelle eine Frühförderung oder frühe Hilfe „für alle“ zu setzen, wäre kaum verständlich zu machen. Wäre es nicht ein Armutszeugnis für eine Gesellschaft, wenn sie es nicht tolerieren könnte, dass bestimmte Kinder zusätzliche Hilfen brauchen? Für mich bildet der konstitutive Ausschluss der speziellen Einrichtungen für behinderte Kinder eine konformistische Perversion des Inklusionsprinzips der UN-BRK. Ich halte den Terminus Inklusion nicht für einen Hilfsbegriff oder ein Mittel, um mit ihm Zusammenlegungen (als „Inklusion“) von Institutionen zu begründen und vorzunehmen. Den stärksten Beleg dafür bildet die UN-BRK selber, nämlich durch ihren Titel: Sie ist eine „Behindertenkonvention“, eine „Convention on the Rights of Persons with Disabilities“, also nicht eine Rechtskonvention „für alle“, sondern speziell für Personen mit Behinderungen und offensichtlich, ohne diese zu diskriminieren, schließt aber die Verantwortung aller ein. Ein gewichtiges Hindernis für die von der Kinder- und Jugendhilfe geplante vollständig eigene Zuständigkeit für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und eine entsprechende Übernahme der Interdisziplinären Frühförderung in das Kinder-und- Jugendhilfe-Recht (SGB VIII) bildet die Einbindung der Krankenkassen als Rehabilitationsleistungsträger, die bisher im SGB IX verankert ist. Es konnte bisher kein Weg gefunden werden, die Interdisziplinäre Frühförderung aus dem bestehenden SGB IX (Rehabilitation) herauszulösen, um sie in das SGB VIII übernehmen zu können. Vonseiten der Interdisziplinären Frühförderung ist dazu festzustellen, dass für sie die Krankenkassen als Leistungsträger gemäß SGB IX, d. h. die Partnerschaft mit der Medizin, eine conditio sine qua non darstellen. Die gemeinsame rechtliche Verankerung im Sozialgesetzbuch IX und damit die gesicherte Kooperation mit dem medizinischen Part bildete einen Meilenstein der Entwicklung und Festigung beider Fachgebiete und gilt nach wie vor als eine unentbehrliche Bedingung für die Funktionalität der Interdisziplinären Frühförderung, wenn auch der Weg dahin nicht frei von Verständigungsschwierigkeiten gewesen war. Kurz zusammengefasst ergeben sich folgende Grundthesen: 1. Selbstverständlich ist die Interdisziplinäre Frühförderung zur Kooperation mit anderen Diensten bereit, wenn damit nicht eine Preisgabe ihrer Eigenständigkeit verbunden ist. 166 FI 3/ 2021 Aktuell 2. Das Verhältnis von Interdisziplinärer Frühförderung und Frühen Hilfen weist eine ganze Reihe von Fragen auf, die klärungsbedürftig sind. 3. Inklusion und Teilhabe sind gemäß UN-BRK normative oder proklamative Begriffe und als solche „unbestimmte“ Rechtsbegriffe. Sie sind nicht geeignet, um jegliche speziellen Hilfen und Regelungen für behinderte Kinder als ausgrenzende und diskriminierende Maßnahmen auszuschließen. 4. Eine stärkere organisatorische Bindung an die Frühen Hilfen bzw. eine Anbindung an die Kinder- und Jugendhilfe, verbunden mit zusätzlichen neuen Zuständigkeiten von Gesundheitsamt und Jugendamt enthalten das Risiko einer belastenden Verkomplizierung der Arbeit der Interdisziplinären Frühförderung. 5. Die rechtliche Verortung der Interdisziplinären Frühförderung im SGB IX (Rehabilitation) hat sich bewährt und bildet keinen Anlass zu grundlegenden Veränderungen dieser Zuordnung. Das Suchen nach Wegen zur Beseitigung von Unzulänglichkeiten der intersystemischen Zusammenarbeit wird nur erfolgreich sein, soweit dabei diese primäre interfachliche Zuordnung nicht infrage gestellt oder belastet wird. Prof. Dr. Otto Speck Pfarrer-Grimm-Str. 42 80999 München E-Mail: otto.speck@superkabel.de Literatur Bank-Mikkelsen, N. E. (1976): Misconceptions of the Principle of Normalization. 4. Intern. Congress of the IASSMD, Washington Deutscher Bildungsrat (1973): Empfehlungen der Bildungskommission. Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher. Ernst Klett Verlag, Stuttgart Nationales Zentrum Frühe Hilfen (Hrsg.) (2010 a): Interdisziplinäre Frühförderung und Frühe Hilfen - Wege zu einer intensiveren Kooperation und Vernetzung. Impulspapier. Nationales Zentrum Frühe Hilfen (Hrsg.) (2010 b): Interdisziplinäre Frühförderung im System der Frühen Hilfen. Dokumentation der Fachtagung „Interdisziplinäre Frühförderung im System der Frühen Hilfen“. Nationales Zentrum Frühe Hilfen (Hrsg.) (2014): Leitbild Frühe Hilfen. Maarweg, Köln, 149 - 161; www.fruehehilfen.de Müller-Fehling, N. (2021): Auf dem Weg zu einer Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen und ihre Familien. Unsere Jugend 3, 110 - 116; https: / / doi.org/ 10.2378/ uj2021.art19d Paul, M. (2020): Kompetenzen bündeln. Frühe Hilfen aktuell 4, 1 Peterander, F., Speck, O. (1990): Strukturelle und inhaltliche Bedingungen der Frühförderung. Anmerkungen zu einem Forschungsprojekt. Geistige Behinderung 1, 40 - 47 Sohns, A. (2020): Frühförderung als Teil der Frühen Hilfen. Frühe Hilfen aktuell 4, 3 Speck, O. (1973): Früherkennung und Frühförderung behinderter Kinder. Gutachten und Studien der Bildungskommission 25. In: Muth, J. (Hrsg.): Sonderpädagogik 1, 111 - 150. Stuttgart, Ernst Klett Verlag Speck, O. (1977): Frühförderung entwicklungsgefährdeter Kinder. 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