Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2021.art20d
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Aktuell: Altes und neues Thema: Interdisziplinäre Frühförderung – Frühe Hilfen
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Franz Peterander
Die Interdisziplinäre Frühförderung (IFF) ist seit den 70er-Jahren ein erfolgreiches und international anerkanntes System zur Förderung von Kleinkindern mit Behinderung, einer drohenden Behinderung bzw. einer Entwicklungsverzögerung. Sie ist seit jeher regional bestens mit ihren zahlreichen Kooperationspartnern vernetzt – „Vernetzung“ ist nichts Neues – darunter auch mit der Kinder- und Jugendhilfe (Naggl und Thurmair 2008). Das höchste Gut der IFF ist jedoch das große Vertrauen der Eltern in das professionelle Handeln der Frühförderinnen.
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AK TUELL Altes und neues Thema: Interdisziplinäre Frühförderung - Frühe Hilfen Franz Peterander Die Interdisziplinäre Frühförderung (IFF) ist seit den 70er-Jahren ein erfolgreiches und international anerkanntes System zur Förderung von Kleinkindern mit Behinderung, einer drohenden Behinderung bzw. einer Entwicklungsverzögerung. Sie ist seit jeher regional bestens mit ihren zahlreichen Kooperationspartnern vernetzt - „Vernetzung“ ist nichts Neues - darunter auch mit der Kinder- und Jugendhilfe (Naggl und Thurmair 2008). Das höchste Gut der IFF ist jedoch das große Vertrauen der Eltern in das professionelle Handeln der Frühförderinnen. Die Eltern sind mit der Frühförderung ihrer Kinder äußerst zufrieden und sie kommen sehr gerne in die Interdisziplinären Frühförderstellen (Fragen zur Lage [FranzL] Studie 2010) - davon zeugen nicht zuletzt die zurzeit wieder langen und stetig steigenden Wartezeiten. Eine der Stärken der IFF ist die - mögliche - auch langjährige Kindförderung. Erst diese Kindförderung ermöglicht viele entwicklungsförderliche Gespräche und Reflexionen in der Kooperation mit Eltern und Familien über komplexe Förder- und Veränderungsprozesse - ein zentraler Wirkfaktor der IFF. Die IFF ist seit 2001 im SGB IX „Rehabilitation“ verankert - dort ist auch die Komplexleistung Früherkennung und Frühförderung in § 30 Abs. 1, S. 2 und § 56 SGB IX geregelt, d. h. „ein interdisziplinär abgestimmtes System ärztlicher, medizinischtherapeutischer, psychologischer, heilpädagogischer und sozialpädagogischer Leistungen, wobei medizinische und heilpädagogische Leistungen als gleichberechtigt nebeneinander stehend angesehen werden“ (Behringer und Höfer 2005). Im SGB IX „Rehabilitation“ ist auch die Finanzierung der IFF durch die Krankenkassen gesichert. Mit der Gründung des „Nationalen Zentrums Frühe Hilfen“ (NZFH) in 2007 sind Fragen zum Verhältnis der IFF - Frühe Hilfen (FH) entstanden. Aufseiten der IFF wird heute mit Blick auf das „Vernetzungskonzept“ der FH auch von einer „Einvernahme“ der Interdisziplinären Frühförderung durch das NZFH gesprochen. Wenn man die oft hausinternen Artikel und Materialien des NZFH der letzten Jahre liest, kann diese Gefahr in der Tat bestehen. Im Februar 2021 hat der Vorstand der VIFF-Bayern wegen der Brisanz des Themas eine eigene Arbeitsgruppe „Frühe Hilfen“ gebildet (Mitgliederrundbrief Nr. 33 der Bundes-VIFF). Auslöser für die Bildung dieser AG „Frühe Hilfen“ war allein der dem Vorstand der VIFF-Bayern bekannt gewordene Artikel von Thyen & Simon (2020) in der Monatsschrift für Kinderheilkunde sowie weitere hausinterne Materialien des NZFH (Frühe Hilfen aktuell 2020, Heft 4 mit dem provokativen Titel „Frühförderung als Teil der Frühen Hilfen“). Ja, es ist selbstkritisch anzumerken, diese Intentionen im NZFH nicht schon früher ernster genommen zu haben. Die Autorinnen des Artikels: Prof. Dr. med. Ute Thyen ist langjährige Leiterin des NZFH - Prof. Dr. Liane Simon ist 1. Vorsitzende der Bundes-VIFF und gleichzeitig Mitglied des Beirats im NZFH. Die Publikation von Thyen & Simon (2020) stellt die IFF offensichtlich als viel zu eng und unvollständig dar. Die Autorinnen sprechen zudem von einem Wechsel der gesetzlichen Zuständigkeit für die IFF vom bisherigen SGB IX „Rehabilitation“ ins SGB VIII der „Kinder- und Jugendhilfe“. Über die gesetzlichen, strukturellen und finanziellen Risiken für die IFF wird dabei nicht reflektiert. Es sind bisher weder juristische Gutachten noch sonstige valide Daten über einen „Wechsel“ Frühförderung interdisziplinär, 40.-Jg., S.-220 - 223 (2021) DOI 10.2378/ fi2021.art20d © Ernst Reinhardt Verlag 220 221 FI 4/ 2021 Aktuell der IFF von SGB IX „Rehabilitation“ ins SGB VIII (Jugendamt) bekannt. Noch ist die IFF durch die Finanzierung der Krankenkassen (Komplexleistung) selbstbestimmt im SGB IX „Rehabilitation“ verortet. In der IFF werden sich die Frühförderinnen zunehmend der IFF-FH-Problematik bewusst. Im Mitgliederrundbrief Nr. 33 der Bundes-VIFF (2021) sprechen die beiden Bundesvorsitzenden bereits davon, dass das Verhältnis zwischen Frühförderung und Frühe Hilfen „… sich besonders in den Chatverläufen des Symposions (2021 in Köln) als umstrittenes Thema dargestellt hat“. Was ist geschehen? Die Gründung des NZFH geschah infolge der Kindesmisshandlung mit Todesfolge des Buben „Kevin“. Ziel war damals die als politische Reaktion richtigerweise notwendig erachtete Stärkung des Kinderschutzes. Ohne Zweifel ein wichtiges gesellschaftspolitisches Anliegen. Die neu geschaffenen Koordinierenden Kinderschutzstellen in Bayern (KoKi - Netzwerk Frühe Kindheit) (unterschiedliche Namen in anderen Bundesländern) sind ein gutes Beispiel für eine erste Stärkung des Kinderschutzes. Wenn wirklich Kinderschutz effektiv gestützt werden soll, dann bedüfte es natürlich auch immenser neuer finanzieller Mittel. Fundierte Kostenschätzungen liegen aber nicht vor. Zur Finanzierung der Hebammen wird z. B. erst heute über die Gesundheitsminister*innen-Konferenz der Länder nach einer Krankenkassenfinanzierung gesucht (Juni 2021), was den zukünftigen Finanzbedarf für einen effektiven Kinderschutz schon erahnen lässt. Eine umfassend organisierte „Vernetzung“, wie vom NZFH gefordert (Impulspapier 2013), muss zudem in ihrer Wirkung auf die kindliche Förderung und ihre positive Entwicklung auch nach evidenzbasierten wissenschaftlichen Kriterien differenziert untersucht werden. Prof. Dr. med. Manfred Cierpka, einer der Mitbegründer des NZFH, hat nämlich in diesem Zusammenhang über die Wirkungen der FH geschrieben: „Die vorwiegend internat. Literatur dokumentiert in zahlreichen Evaluationsstudien moderate Effekte durch F. H. (Frühe Hilfen) im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes, den Belastungen der Bezugspersonen und der Beziehung zw. dem Kind und den Bezugspersonen“ (Cierpka 2020, 646). Der Dreh- und Angelpunkt der aktuellen Diskussionen über die „Vernetzung“ von IFF und FH ist nicht die „Vernetzung“ per se, sondern die beabsichtigte Eingliederung der IFF in das SGB VIII in das Kinder- und Jugendhilferecht. Ein „Übergang“ ins SGB VIII, auch wenn darüber gesetzlich erst 2028 entschieden werden soll, stellt für die Autonomie der IFF ein großes Problem dar. Die Kostenträger der IFF, insbesondere die Krankenkassen und Sozialhilfeträger, finanzieren im SGB IX „Rehabilitation“ die Förderung von Kindern mit Behinderungen und Entwicklungsverzögerungen - nicht jedoch präventiven Kinderschutz für alle Kinder von Geburt an. Die IFF muss stets im Blick haben, dass ohne die Mitwirkung von Ärzt*innen, medizinischem Personal und Krankenkassen eine alleinige pädagogische Frühförderung für die betroffenen Kinder und ihre Familien völlig unzureichend wäre. Ein „Übergang“ der IFF in ein sogenanntes „inklusives“ SGB VIII - in Thyen & Simon (2020) wird dies als zentrales befürwortendes Argument vorgetragen - entspricht nicht den Intentionen der UN-Behindertenkonvention (UN-BRK), auch wenn es stets vom NZFH fälschlicherweise vorgetragen wird. Eine wissenschaftliche Analyse zur Bedeutung der UN-BRK für die IFF findet sich in Speck (2021). Chancen zur Teilhabe werden in der IFF schon immer über die Stärkung der kindlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten und die enge Kooperation mit den Eltern erfolgreich unterstützt. Und das bietet die IFF den betroffenen Kindern und Familien in bester Weise. „Zu Recht können viele Spezialeinrichtungen in der Behindertenhilfe und Sonderschulen auf ihre hohe Förderkompetenz verweisen“ (Fegert 2011, 71). Neu erworbene kindliche Fähigkeiten und Fertigkeiten bilden die Voraussetzung für ein selbstgestaltetes autonomes Leben der Kinder mit Be- 222 FI 4/ 2021 hinderungen und Entwicklungsverzögerungen. Und was heißt übrigens „inklusives“ SGB VIII? Den Ausführungen von Professor Bernasconi et al. (2021) zum Thema Inklusion in der „Frühförderung interdisziplinär“ ist zuzustimmen: „Unterschiedliche Vorstellungen von Inklusion werden nicht explizit thematisiert und aufgelöst. Somit ergibt sich die paradoxe Situation, dass Inklusion realisiert werden soll, ohne dass eindeutig geklärt ist, welcher Zustand genau angestrebt wird und wie die Umsetzung in den verschiedenen Kontexten und Institutionen aussehen soll“ (ebd., 135). Was die Interdisziplinäre Frühförderung im Fall des „Übergangs“ ins SGB VIII (Jugendamt) hinsichtlich „Steuerung“ und Kontrolle durch das Jugendamt bzw. Gesundheitsamt erwarten könnte, lässt sich aus den Ausführungen des NZFH am Ende ihres 40-seitigen Impulspapiers (2013) gut ersehen: „Die kommunalen Behörden (in der Regel das Jugendamt, evtl. auch das Gesundheitsamt, wenn vorhanden die Sozialraumplanung) haben in der Regel die Planungs-, und Steuerungsverantwortung für diese Netzwerke … Wenn möglich sollte zukünftig systematisch ein/ e Vertreter/ in der regionalen Interdisziplinären Frühförderstelle(n) Mitglied in einem solchen Steuerkreis sein“ (S. 36). Eine riesige deutschlandweite Ausweitung der Verwaltung und Bürokratie wäre die Folge, wenn nach dem Impulspapier des NZFH (2013) Tausende von (für die IFF und alle anderen Kooperationspartner) verbindlichen „regionalen Kooperationsverträgen“ geschlossen und eingehalten werden müssten. Offensichtlich ein immenser Kontroll- und Machtzuwachs für das Jugendamt mit seinen völlig anderen Entscheidungs- und Arbeitskulturen. Es ist zu befürchten, dass das Jugendamt die zentrale Koordinierungs- und Kontrollfunktion über die Umsetzung der Förderprozesse auch im Kontext der IFF bekommen würde. Dann ginge es wohl nicht mehr nur um ein bisschen „Vernetzung“. Bei all der Diskussion um das Thema der „Übernahme“ der IFF sollte nicht aus den Augen verloren werden: Das NZFH ist für Kinderschutz verantwortlich und ist dabei per Gesetz mit der Aufgabe konfrontiert, ein Teil des Wächteramtes des Staates im Kontext von Kindeswohlgefährdung zu sein. Thyen (2011) betont: „Für Mitarbeiter(innen) der Jugendämter und neuerdings allen im § 8 a SGB VIII genannten Kooperationspartnern der Jugendhilfe ist es immer schon eine der Tätigkeit inhärente Aufgabe gewesen, eine helfende und unterstützende Haltung den Klienten gegenüber einzunehmen und gleichzeitig den gesellschaftlichen Wächterauftrag wahrzunehmen, der es erlaubt, Kinder vor Gefährdungen auch durch ihre eigenen Eltern zu schützen“ (S. 13). Das NZFH weist immer wieder selbst auf die mangelnde Akzeptanz der Kinder- und Jugenhilfe bei den Eltern hin (Impulspapier NZFH, 2013, 23f) - eine Lösung für das NZFH im Kinder- und Jugendhilferecht des SGB VIII ist in diesem Punkt sicher nicht einfach. Es drängt sich bei der Literaturanalyse (Begrifssbestimmung der „Frühen Hilfen“) der Eindruck auf, dass sich das NZFH selbst gerne auch noch woanders, über den Kinderschutz hinaus, sehen würde (Sann 2010). Es stellt sich aktuell die Frage, wie sich die Bundes-VIFF in der Frage des SGB IX „Rehabilitation“ positioniert? Auf der Mitgliederversammlung der Bundes-VIFF im November 2021 soll ein Positionspapier zum Verhältnis IFF - Frühe Hilfen verabschiedet werden (Bundesrundbrief Nr. 33, 2021), was auch der Grund für den vorliegenden aktuellen Beitrag ist. In diesem Positionspapier sollte sich die Bundes-VIFF zum Schutz des Systems der IFF auf allen sozialpolitischen und fachgesellschaftlichen Ebenen für den Verbleib der IFF im SGB IX „Rehabilitation“ nachhaltig einsetzen. Prof. Dr. F. Peterander LMU München Fakultät Psychologie und Pädagogik - Frühförderung - Aktuell 223 FI 4/ 2021 Literatur Behringer, L., Höfer, R. (2005): Wie Kooperation in der Frühförderung gelingt, Ernst Reinhardt, München Cierpka, M. (2020): „Frühe Hilfen“. In: Wirtz, M. A. (Hrsg.): Lexikon der Psychologie, Bern, Hogrefe Verlag Bernasconi, T., Sachse, S. K., Kröger, S. (2021): Einschätzung inklusiver Praxis in Kindertagestätten mit dem Inclusive Classroom Profile. Frühförderung interdisziplinär 3(40), 134 - 156, https: / / doi.org/ 10. 2378/ fi2021.art13d Fegert, J. M. (2011): Editorial. Frühförderung interdisziplinär 2(30), 71 - 72 Naggl, M., Thurmair, M. (2008): Frühförderung und Kindeswohl - Frühe Hilfen für entwicklungsgefährdete Kinder. Frühförderung interdisziplinär 2(27), 52 - 66 Impulspapier des NZFH (2013): Weiß, H. unter Mitwirkung von Sann, A. Interdisziplinäre Frühförderung und Frühe Hilfen - Wege zu einer intensiveren Aktuell Kooperation und Vernetzung (Seite 1 - 47). Redaktion: Sann A., Hallensleben, U. (Hrsg.): Nationales Zentrum für Frühe Hilfen (NZFH) und Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Köln Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) (2020): Frühe Hilfen aktuell: Schwerpunkthema „Frühe Hilfen und Frühförderung“, Heft 4 Sann, A. (2010): Frühe Hilfen sind mehr als Kinderschutz. Fachtagung Interdisziplinäre Frühförderung im System der Frühen Hilfen. Lebenshilfe, 22. März 2010, Kassel Speck, O. (2021): Interdisziplinäre Frühförderung - Frühe Hilfen und Inklusion. Dfferente Profile - Ein Klärungsversuch. Frühförderung interdisziplinär 3(40), 157 - 166, https: / / doi.org/ 10.2378/ fi2021.art15d Thyen, U. (2011): Gesundes Aufwachsen ermöglichen. Frühe Kindheit Heft 3/ 11 Thyen, U., Simon, L. (2020): Frühe Förderung und Frühe Hilfen. Monatsschrift Kinderheilkunde 168, 195 - 207, https: / / doi.org/ 10.1007/ s00112-020-00859-2 - Anzeige -
