Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Aus der Praxis: Onlinearbeit in der Frühförderung - sehr viel besser als nichts!
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2022
Katja Rittel
Bis dato unvorstellbar, unerwünscht und unerlaubt, doch plötzlich unumgänglich. Digitale Förderung von Kindern, die das Schulalter noch nicht erreicht haben und auf unterschiedliche Weise eine intensive professionelle Unterstützung benötigen, um sich bestmöglich entwickeln zu können. Die große Herausforderung der Frühförderung seit dem Frühjahr 2020 ist die durchgehende, kompetente und entwicklungsförderliche Begleitung der kleinen und großen Klientinnen und Klienten, trotz Kontaktsperren, Schließungen von Kindertageseinrichtungen und Quarantäneanordnungen.
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37 Frühförderung interdisziplinär, 41.-Jg., S.-37 - 43 (2022) DOI 10.2378/ fi2022.art04d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS Onlinearbeit in der Frühförderung - sehr viel besser als nichts! Katja Rittel Bis dato unvorstellbar, unerwünscht und unerlaubt, doch plötzlich unumgänglich. Digitale Förderung von Kindern, die das Schulalter noch nicht erreicht haben und auf unterschiedliche Weise eine intensive professionelle Unterstützung benötigen, um sich bestmöglich entwickeln zu können. Die große Herausforderung der Frühförderung seit dem Frühjahr 2020 ist die durchgehende, kompetente und entwicklungsförderliche Begleitung der kleinen und großen Klientinnen und Klienten, trotz Kontaktsperren, Schließungen von Kindertageseinrichtungen und Quarantäneanordnungen. Dieser Artikel befasst sich mit den Möglichkeiten und Grenzen einer digitalen Frühförderung und der Frage nach dem fachlichen und emotionalen Nutzen dieser Form der Leistungserbringung. Er basiert ausschließlich auf den Erfahrungen, die die Autorin in ihrer Arbeit als Leiterin einer interdisziplinären Frühförderstelle in Sachsen-Anhalt seit März 2020 mit Onlineförderung gesammelt hat. Wissenschaftliche Untersuchungen liegen, zumindest in Deutschland, zu diesem Thema bislang nicht vor. Im März 2020 wurde den Frühförderstellen in Sachsen-Anhalt das Arbeiten komplett untersagt, erst mit der Eindämmungsverordnung Sachsen- Anhalts vom 24. 3. 2020 gab die Landesregierung die alternative Leistungserbringung frei, sodass sowohl über Telefon, Mail, Post als eben auch digital mit den Frühförderfamilien gearbeitet werden konnte. Die Autorin, die aus der Arbeit in ihrer Praxis für heilkundliche Psychotherapie, aber auch als Lehrende an verschiedenen Hochschulen das digitale Arbeiten bereits kannte, reagierte sofort und so konnte die Onlineförderung schon eine knappe Woche später starten. Mit Erstaunen stellten die KollegInnen fest, wie technisch gut ausgestattet die meisten Familien waren. Außerdem erlebte das Team bei vielen Eltern eine große Offenheit und auch Dankbarkeit für den Kontakt in der erzwungenen Isolation. Die Begeisterung der Frühfördermitarbeitenden hielt sich dagegen doch in Grenzen, es zeigten sich viele Vorbehalte. Einige wenige stürzten sich mit viel Enthusiasmus und Ideenreichtum in die digitale Arbeit. Erst nach einer internen Weiterbildung, in der zwei Kolleginnen, die mehrere Monate täglich online gefördert hatten, ihre Erfahrungen teilten und die Sorgen und Bedenken der anderen Teammitglieder aufgegriffen wurden, stieg die Motivation und Bereitschaft des gesamten Teams. Technische Voraussetzungen Welcher technischen Ausstattung bedarf es, um eine entwicklungsunterstützende Fördereinheit online zu gestalten? Idealerweise verfügen beide Seiten über einen Laptop neueren Baujahres, der mit Kamera und Mikrofon ausgestattet ist. Das Alter ist entscheidend, da Kameras betagterer Modelle oft von den Onlineplattformen nicht genutzt werden können. Die Arbeit kann natürlich auch an einem Desktop-PC stattfinden, doch damit ist man ortsgebunden und somit unflexibel. Auch Tablets oder Smartphones erfüllen ihren Zweck, allerdings wird mit kleiner werdenden Bildschirmen die Angebotsvielfalt ebenfalls kleiner, da sich die Sichtbarkeit von Details verringert. Anbieter digitaler Arbeitsräume gibt es inzwischen unüberschaubar viele. Die Frühförderstelle, aus der hier berichtet wird, nutzte die Plattform „Redmedical“, die kostenlos für Ärzte/ Ärztinnen so- 38 FI 1/ 2022 Aus der Praxis wie Therapeutinnen/ Therapeuten freigegeben ist und somit datenschutzrechtlich unbedenklich ist. Den Familien wurde per E-Mail ein Link zugesandt, den diese nur anklicken mussten, und schon konnte die Stunde beginnen. Es werden keine Apps oder Programme auf das Endgerät der Klientinnen und Klienten geladen. Es ist also, außer der oben beschriebenen Technik und einer E-Mail- Adresse keine weitere Ausstattung oder großes technisches Können vonnöten. Das war für viele Familien ein Pluspunkt und entscheidend für deren Motivation, sich auf eine Onlinestunde einzulassen. Als nicht notwendiges, aber sehr nützliches Zusatztool haben sich eine 2. Kamera, z. B. die eines Smartphones oder eine Webcam, aber auch ein zweiter Bildschirm herausgestellt. Diese könnten im Idealfall auf beiden Seiten zum Einsatz kommen. Dadurch können die Anwenderinnen und Anwender gleichzeitig die Materialien auf dem Tisch, die Arbeit der Hände und das Gesicht des Gegenübers sehen, was sich als sehr vorteilhaft erwies zur Aufrechterhaltung des Kontaktes und dem Lesen der emotionalen Signale, um auftretende Schwierigkeiten rechtzeitig wahrzunehmen. Welche Zielgruppe erreicht man mit Onlineförderung? Die Erfahrungen des letzten Jahres zeigen, dass sehr viele Familien von den Onlineangeboten der Frühförderung profitieren können, doch bei weitem nicht alle, zumindest nicht alle in einer direkten Arbeit mit dem Kind. Sind die technischen Voraussetzungen gegeben, benötigt man für eine digitale Stunde neben dem Kind unbedingt einen älteren Unterstützenden. Dies kann jede dem Kind vertraute Person sein, die es bei der Erledigung der Aufgabenstellung unterstützen kann und ein Mindestmaß an technischem Verständnis besitzt. So fanden Förderstunden in Anwesenheit von Großeltern, Tanten, Nachbarn, aber auch älteren Geschwistern statt. Die älteren Geschwister, die mindestens das Ende der Grundschulzeit erreicht haben sollten, erwiesen sich oft als im besonderen Maße geeignet, da sie häufig kreativer, geduldiger und manchmal sogar interessierter waren als Erwachsene. Die begleitende Person muss bei jüngeren Kindern während der gesamten Sitzung anwesend sein, bei älteren Kindern reicht es meist, wenn sie sich in Rufweite befinden. Das Alter der Förderkinder spielte eine bedeutende Rolle. So waren Förderstunden mit Kindern ab 3 Jahren in der Regel möglich, effektiv und nützlich. Jüngere Kinder konnten oft nur wenige Minuten auf den Bildschirm fokussiert bleiben. Die gleichen Schwierigkeiten ergaben sich bei Kindern mit schweren geistigen Beeinträchtigungen und jenen, die an ausgeprägten Konzentrationsstörungen litten. Hier nutzten die Mitarbeitenden dann die Möglichkeiten des digitalen Elterncoachings. was sich deutlich effektiver darstellte als ausschließliche Unterstützung über Telefon. Im Onlineformat konnten die Inhalte nicht nur erklärt, sondern eben auch demonstriert und korrigiert werden, so dies nötig war. Ein wirkliches Ausschlusskriterium scheint die Sprachbarriere zu sein. Ist in der Familie niemand des Deutschen und im Team niemand der Sprache der Familie so mächtig, dass er oder sie einfache Anweisungen verstehen und umsetzen oder vermitteln kann, ist eine Förderung, nach den Erfahrungen der FrühförderInnen der hier beschriebenen Einrichtung, nicht möglich. Förderinhalte online vermitteln, was geht? Wie bei allen Neuentwicklungen arbeiteten auch die Autorin und ihr Team nach dem Versuch-und- Irrtum-Prinzip. Grundsätzlich konnte festgestellt werden, dass fast alles, was aus der Präsenzförderung bekannt ist, auch in der Onlineförderung funktioniert, nur auf kleinerem Raum. Bei jedem Angebot muss mitbedacht werden, dass ausschließlich der Ausschnitt zur Verfügung steht, den Kamera und Bildschirm zulassen. Die MitarbeiterInnen in der genannten Einrichtung förderten alle Entwicklungsbereiche, jede Profession des interdisziplinären Teams war eingebunden. In Weiterbildungen und Vorträgen, die die Autorin zum Thema anbietet, taucht immer wieder die Frage nach medizinisch-therapeutischer Arbeit online 39 FI 1/ 2022 Aus der Praxis auf. Natürlich können keine speziellen physio- oder ergotherapeutischen Techniken so angeleitet werden, dass die Umsetzung einer fachkompetenten Anwendung entsprechen würde. Man kann Begleitpersonen online keine Manuelle Therapie oder Sensorische Integrationstherapie lehren. Doch Bewegungsangebote, kleine Massagetechniken oder Wahrnehmungsaufgaben sind durchaus praktikabel und nützlich. Wie in der Förderung im Livekontakt sollte eine Onlinestunde abwechslungsreich gestaltet sein, also neben Aufgaben, die am Tisch sitzend ausgeführt werden, auch Bewegungselemente enthalten. So bleiben Motivation, Konzentration und Ausdauer länger erhalten. Inhaltlich können im Bereich der Sprachförderung grundsätzlich alle Aufgaben angeboten werden. Im Onlinekontakt darf sogar gegessen, gesungen und gepustet werden, was ja in der Präsenzstunde aktuell nur sehr eingeschränkt möglich ist. Für die Kognition finden auch fast uneingeschränkt die alltäglichen Förderangebote Anwendung. Hier können Arbeitsblätter, die zuvor per Mail oder Post an die Familien gesandt wurden, genutzt werden, aber auch Brettspiele, die möglicherweise in der Familie wie der Frühförderstelle vorhanden sind. Alternativ kann man sich aber auch Brettspiele ausdenken und aufmalen oder bekannte Versionen auf Papier bringen. Als Spielfiguren können alle Kleinteile genutzt werden, die sich im Haushalt finden, (hier Vorsicht bei sehr jungen Kindern) aber auch Naturmaterialien, wie Steine oder Schneckenhäuser. Das kann gleich eine Hausaufgabe im Freien sein, diese Materialien zu suchen. Sollte sich kein Würfel im Haushalt der Förderfamilie finden, was vorkommt, dann kann man einfach gemeinsam einen basteln und dabei das Prinzip der Zahlenanordnung auf diesem ergründen. Für die Arbeit mit der Wahrnehmung ist alles möglich, was die Familien in ihrer Wohnung erlauben, doch auch das ist aus der Hausfrühförderung bereits lange bekannt. Darf das Kind mit Farbe oder Wasser matschen, den Spiegel mit Creme einschmieren und Schaum über den Tisch pusten, kann man all das online anleiten. Erlauben die Begleitpersonen dies nicht, schränkt das die Angebotsvielfalt erheblich ein. Was motiviert die Fachkraft zur Onlinearbeit? In der Frühförderstelle, die hier beschrieben wird, gab es, wie oben bereits erwähnt, bei den KollegInnen mehrheitlich Vorbehalte gegen die digitalen Angebote. Der Kontakt sei nicht echt, man müsse die Technik beherrschen, „Wie soll ich arbeiten, wenn ich nicht eingreifen kann? “, „Das kann doch nie eine richtige Förderstunde sein.“ u. v. a. m. Erst nach einer internen Weiterbildung durch zwei begeisterte Anwenderinnen im Team konnten Unsicherheiten und Ressentiments abgebaut werden. Mit praktischen Übungen wurden die Probleme in der Computernutzung simuliert und Lösungswege eingeübt. Der Austausch über inhaltliche Ideen und positive Erfahrungen rundete die Veranstaltung ab und stärkte zusätzlich die Motivation zur digitalen Arbeit. Doch wie motiviere ich mich selbst? Nicht nur in dieser neuen Anwendungsform, sondern auf allen neuen Wegen baut Erfahrung Hemmungen ab. Durch praktisches Tun, Vertrautwerden mit der Technik, Austausch mit anderen kann dies vorangetrieben werden. Erste Probestunden mit der Kollegin im Nebenzimmer können ein unbefangenes Ausprobieren ermöglichen. Auch das Wissen, dass der Anspruch an eine digitale Fördereinheit ein anderer ist als der an eine vor Ort. Bei der Arbeit auf Distanz kommt es vor allem darauf an, die Begleitperson so anzuleiten, dass die Umsetzung auf der 40 FI 1/ 2022 Aus der Praxis Seite der Familie entwicklungsförderlich vonstatten gehen kann. Das stellt eine große Herausforderung und eine intensive Lernaufgabe für die Leistungserbringenden dar. Wie leite ich an, was ich sonst mit meinen eigenen Händen tue? Dies muss man sich immer wieder bewusst machen. Empfehlenswert ist es, in herkömmlichen Förderstunden so oft es geht darüber nachzudenken, wie man diese oder jene Handlung verbal anleiten könnte, wenn man jetzt im Netz arbeiten würde. Das stellt ein tägliches Training dar, welches bestens auf die Onlineförderung vorbereitet, aber auch die allgemeine Anleitungskompetenz der Fördernden schult. Außerdem muss man sich bewusst sein, dass eine Stunde im Netz meist nicht länger als 30 Minuten dauert, da das Fokussiertbleiben auf einen Bildschirm viel anstrengender zu sein scheint als das auf eine anwesende Person. Wer schon einmal an einer Onlineveranstaltung teilgenommen hat, wird dies nachvollziehen können. Die kürzere Zeitdauer muss natürlich in die Planung einbezogen werden, so werden frustrierende Situationen vermieden, weil man nicht alles geschafft hat. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass eine Onlinestunde eine äußerst gründliche Vorbereitung benötigt. Alle Materialien müssen auf beiden Seiten zur Verfügung stehen und in Griffweite bereitliegen. Das Halten des Kontaktes ist hier noch wichtiger als in herkömmlichen Stunden, in denen man über Berührung diesen meist schnell wieder herstellen kann. So ist es schwierig, in der Onlinestunde noch umzuplanen und andere Materialien zu holen, da dadurch der Kontakt abreißt. In der Praxis hat sich das Vorbereiten eines Plan B bewährt, da die Umsetzung des eigentlichen Vorhabens manchmal nur eingeschränkt möglich ist. So gab es Missverständnisse zum Beispiel über den Einsatz von Legosteinen, die für das Spiel bunt hätten sein müssen. Die Familie bestätigte die Frage, ob es Legosteine im Haushalt gebe, doch diese waren ausschließlich grau, alle! (Lego Star Wars, des Kindesvaters, wer hätte damit gerechnet? ) Auch ein Fadenspiel scheiterte daran, dass die Frühförderin nicht genau die Länge, die benötigt wurde, benannte und in der Familie nur ein winziger Fadenzipfel vorhanden war. In diesen Fällen bewährte sich der Plan B, der immer mit Haushalts- und Alltagsmaterialien durchführbar sein muss, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in jeder Wohnung vorhanden sind. So vorbereitet, ist der Weg für die erfolgreiche digitale Arbeit geebnet. Wie motiviere ich die Klientinnen und Klienten zur Arbeit im Netz? Ähnlich wie bei den Mitarbeitenden kommt es auch aufseiten der Familien zu Bedenken, die die Onlineförderung betreffen. Hier zeigen sich Transparenz, Vorhersehbarkeit und detaillierte Informationen als genauso hilfreich wie Probestunden mit den Begleitpersonen. Dabei können der Arbeitsplatz gemeinsam eingerichtet, die Position des Endgerätes bestimmt und die Materialien ausprobiert werden, ohne dass die Aufmerksamkeit dabei auf das Kind gelenkt werden muss, das an diesen Stunden nicht teilnimmt. Auch Erfahrungsberichte und die bereits beobachteten Effekte bei anderen Kindern können Überzeugungsarbeit leisten. Der wohl wichtigste Faktor scheint allerdings die eigene Einstellung zur Arbeit im Netz zu sein. Ist man selbst unsicher und voller Vorbehalte, wird sich dies auf die Begleitpersonen auswirken. Fühlt sich der Fördernde sicher oder ist gar begeistert von der Erbringungsform, dann ist dies wohl am überzeugendsten. 41 FI 1/ 2022 Aus der Praxis Methodisch-didaktisches Vorgehen Das methodisch-didaktische Vorgehen unterscheidet sich nur dadurch von direkter Frühförderarbeit, dass es keinen Körperkontakt zwischen der Fachkraft und den Klientinnen und Klienten geben kann. Doch dieser kleine Unterschied hat erhebliche Auswirkungen auf das Tun. Wie schon mehrfach erwähnt, ist es unerlässlich, sich mit der Art der Informationsvermittlung in der Onlinestunde zu befassen. Das gesprochene Wort und das Bild sind die Kanäle, über die die Inhalte weitergegeben werden können. Hierbei hat sich das Anleiten im Stile der videogestützten Entwicklungsberatung Marte Meo, die von der niederländischen Pädagogin Maria Aarts in den 1970er und 1980er Jahren erarbeitet wurde, bewährt. Maria Aarts setzt den Kontakt zum Gegenüber als grundlegende Voraussetzung für entwicklungsförderliche Kommunikation in den Mittelpunkt der Methode, diesen zu halten ist eine besondere Herausforderung in der digitalen Arbeit. Durch das Benennen des eigenen Tuns, aber auch das des Gegenübers kann die Verbindung gestärkt werden, man selbst macht sich vorhersehbar, der Mensch am anderen Bildschirm fühlt sich gesehen. Auch das Anleiten durch die drei großen W‘s, die da heißen Wann, Was und Wozu, haben sich als sehr nützlich erwiesen, die Kompetenzen der Begleitpersonen weiter zu entwickeln und nachhaltig zu stärken. Das meint, die Fördernden bedenken vor der Anleitung, wann tue ich was und wozu, aber auch auf die Seite der Familie bezogen, wann sollten diese was und wozu tun. In dieser Form gibt man die Information dann weiter. Das Wozu schafft eine Transfermöglichkeit in andere Bereiche und fördert das Verständnis und die Anwendungsmotivation, so die Erfahrungen in dieser Art der Wissensvermittlung. In der Praxis beobachtete Effekte Nach mehreren Monaten der intensiven Anwendung digitaler Förderung konnten u. a. folgende Effekte beobachtet werden. Kinder, die regelmäßig mindestens eine, eher zwei Onlinestunden in der Woche absolvierten, reagierten in den darauffolgenden Präsenzangeboten deutlich besser auf ausschließlich verbale Anleitung. Die Einsicht der Begleitpersonen in die Arbeit der Frühförderung konnte in vielen Fällen gestärkt werden. So äußerten diese mehrfach, dass sie nun viel besser verstünden, was Frühförderarbeit bedeute, auch wenn sie zuvor in regulären Stunden, z. B. in der Hausförderung, anwesend waren. Bei einigen Erwachsenen konnte eine Verbesserung der Anleitekompetenz beobachtet werden. Auch das Verständnis für die Auswirkung mancher Störungsbilder war eine Folge der digitalen Arbeit. So gab es z. B. Väter, die zuvor mit viel Unverständnis auf die Fördermaßnahmen reagierten, im Einsatz als Begleitperson aber deutlich erkannten, was die Entwicklungsauffälligkeiten ihres Kindes für Auswirkungen auf Lern- und Verständnisprozesse haben. In Gesprächen und Livesitzungen war dies zuvor nicht erreicht worden. Auch bei den Fachkräften konnten positive Veränderungen registriert werden. So setzten die Kolleginnen, die regelmäßig über mehrere Wochen online arbeiteten, deutlich bewusster die Sprache ein, formulierten detaillierter und hielten sich im Tun mehr zurück, was Auswirkungen auf die Selbstständigkeitsentwicklung der kleinen Klientinnen und Klienten zu haben scheint. In einigen Familien stieg die Motivation zur Frühförderung nach den Onlinestunden deutlich an, da die Kompetenzen der Fachkräfte intensiver wahrgenommen wurden und auch Effekte der Arbeit für die Sorgeberechtigten sichtbarer scheinen. Der Kontakt zu den Familien in der Zeit der Lockdowns war online intensiver und persönlicher, als bspw. am Telefon oder per E-Mail. Es ist möglich, dass online Dinge gefördert werden können, die man in dieser Form im Livekontext nicht erreichen kann. Dies gilt es künftig genauer zu betrachten und wissenschaftlich zu untersuchen. Zusammenfassung und Ausblick Mit der erzwungenen Onlineförderung ist eine Tür aufgestoßen worden, die es offen zu halten gilt. Viele interessante und unerwartete Erfolge 42 FI 1/ 2022 Aus der Praxis und Effekte sind zu beobachten, die man z. T. so bisher in der Präsenzförderung nicht erreicht hat und vermutlich auch nicht erreichen kann. Möchte man die Anleitekompetenzen der Bezugspersonen schulen, die Fähigkeit der Förderkinder mit verbaler Anleitung sicherer umzugehen, oder das Bewusstsein des Spracheinsatzes bei den Fachkräften, ist die Onlineförderung möglicherweise das zu bevorzugende methodische Vorgehen. Es scheint ein zeitgemäßes Mittel der Beratung zu sein und könnte auch Familien zur Inanspruchnahme der Frühförderung bewegen, die sonst Wege scheuen oder verunsichert sind, weil sie sich „outen“ müssten, wenn sie eine Beratungsstelle aufsuchten. Digitale Angebote können die Niedrigschwelligkeit des Zuganges erheblich verbessern. „Zusammenfassend ist zu sagen, dass sich die digitale Förderung als nützlich und wirkungsvoll erwiesen hat. Sie ist jedoch nicht als Ersatz der herkömmlichen Arbeit im direkten Kontakt zu sehen, aber als effektvolle Ergänzung sollte sie unbedingt erhalten bleiben. So könnten Förderstunden durchgeführt werden, die aus verschiedenen Gründen sonst ausfielen. Z. B. Wenn Eltern erkrankt sind, die sonst das Kind in die Frühförderstelle bringen würden, bei immer häufiger auftretenden extremen Wettersituationen, durch die man sich auf dem Weg zu den Familien in Gefahr brächte, defekte Fahrzeuge und auch ausgefallene oder verpasste Bahnen, Kinder, die schon fast genesen, aber noch ansteckend sind u. v. a. m.“ (Reiland und Rittel 2020, 36). Es ist zu bedenken, dass nicht jede Familie damit erreicht werden kann. Wie oben erwähnt scheinen sprachliche Hürden die digitale Arbeit auszuschließen, zumindest nach den ersten Erfahrungen. Bei intensiverer und kreativer Auseinandersetzung mit diesem Sachverhalt können evtl. Lösungen gefunden werden, die diese Barriere überwinden. Auch die Frage der technischen Ausstattung, die ja Voraussetzung für eine Onlinearbeit ist, sollte geklärt werden. Hier bedarf es Lösungen auf ministerialer Ebene, die ähnlich wie in Schulen Familien, denen der Zugang zu aktueller Technik erschwert oder verwehrt ist, Medien zur Verfügung stellen sollten. Außerdem taucht die Frage nach dem Schutz der Persönlichkeitsrechte der Frühfördernden auf. Wie kann ich verhindern, dass die Stunden durch die Leistungsempfangenden aufgezeichnet und möglicherweise ohne meine Einwilligung veröffentlicht werden? Neben diesen rechtlichen und organisatorischen Fragen ergeben sich viele wissenschaftlich interessante Fragestellungen. „Hat die mediale Distanz einen Einfluss auf die Akzeptanz der Frühförderung? Steigert die digitale Arbeit die Effizienz der Frühförderung, vor allem im ländlichen Raum? Müssen zusätzliche Vorbereitungszeiten eingeplant werden? Inwieweit lässt sich durch die Arbeit auf digitalen Wegen das Interesse und das Wissen über Frühförderung bei betroffenen Familien steigern und somit die Möglichkeit der Partizipation verbessern? Sicher sind dies nur erste interessante Fragestellungen. Mit der Onlinearbeit entsteht ein augenscheinlich effektvolles und zeitgemäßes Instrument, das so viele neue Möglichkeiten bieten kann, den ,Werkzeugkasten‘ der Frühförderung zu bereichern. Wie bei allen Tools ist auch hier der bedachte, kompetente und Grenzen akzeptierende Einsatz unabdingbar, damit es einen sicheren Beitrag zur allgemeinen Entwicklungsförderung leisten kann“ (Rittel 2021, 317) Einige Kolleginnen und Kollegen äußern: „Onlineförderung ist wenigstens besser als nichts! “, die Erfahrung zeigt, dass dies nicht zutrifft, wenn man sich intensiv mit der Thematik auseinandersetzt, die besondere Art der Kommunikation bedenkt, gut den Kontakt zu den Familien am Rechner hält und mit Freude und Ideenreichtum an diese spannenden Arbeit geht. Dann ist Onlineförderung sehr viel besser als nichts! In Sachsen-Anhalt ist das digitale Arbeiten seit dem Frühjahr 2021 verboten. Als Gründe werden von der Landesregierung die Sorge vor Missbrauch benannt und dass die Notwendigkeit nach vollständiger Öffnung aller Frühförderstellen und Kindereinrichtungen weggefallen sei. Einzelanträge von Familien, die aus gesundheitlichen Gründen direkte Kontakte meiden, oder Kinder, die sich in Quarantäne be- 43 FI 1/ 2022 Aus der Praxis finden, werden von dem Verbot ausgenommen. In vielen anderen Bundesländern gibt es keinerlei Einschränkung, hier haben Familien und Frühfördernde die freie Wahl darüber, in welcher Form die Leistung erbracht werden soll. Natürlich dürfen die Entscheidungen nicht aufgrund der Effektivität für oder gegen ein digitales Angebot gefällt werden. Es muss nachvollziehbar pädagogisch und therapeutisch begründet werden können, weshalb man wie entschieden hat. Transparenz gegenüber allen Beteiligten hat oberste Priorität, wenn diese neue Arbeitsweise einen festen Platz erhalten soll. Wissenschaftlich nachgewiesene Effekte tun dann das Übrige und sind ebenfalls unerlässlich. So liegt viel Arbeit vor denen, die die neuentdeckten Möglichkeiten digitaler Arbeit mit den Kleinen und Kleinsten, die den Frühförderinnen und Frühförderern anvertraut sind, erhalten und stärken wollen. Ein Feld zum Ausprobieren, Forschen und Entwickeln. Los geht’s! Katja Rittel Schloßplatz 3 06844 Dessau-Roßlau E-Mail: info@praxis-reha-rittel.de Literatur Aarts, M. (2011): Marte Meo - Ein Handbuch. Aarts Productions, Eindhoven Reiland, R., Rittel, K. (2020): Frühförderung digital? ! Ein Erfahrungsbericht aus einer interdisziplinären Frühförderstelle in Dessau in Sachsen-Anhalt. Heilpädagogik.de, 4/ 2020, 34 - 36 Rittel, K. (2021): Das System Frühförderung am Übergang in die digitale Welt? ! In: Gebhard, B., Simon, L., Ziemen, K., Opp, G., Groß-Kunkel, A. (Hrsg.): Transitionen - Übergänge in der Frühförderung gestalten, Idstein, Schulz- Kirchner Verlag Fotos: Ruth Reiland, Dessau
