eJournals Frühförderung interdisziplinär 41/2

Frühförderung interdisziplinär
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Rezension: Eliane Retz, Christiane Stella Bongertz: Wild Child

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2022
Charlotte Laule
Das Buch mit dem Subtitel „Entwicklung verstehen, Kleinkinder gelassen erziehen, Konflikte liebevoll lösen“ richtet sich an Bezugspersonen von Kleinkindern (1-5 Jahre), die bindungsorientiert erziehen wollen. Der Erziehungsratgeber wurde von Dr. Eliane Retz, Pädagogin und systemische Beraterin, und von Christiane Stella Bongertz, Autorin und Kommunikationswissenschaftlerin, geschrieben. Trotz seiner fast 400 Seiten ist der Erziehungsratgeber sowohl für Fachpersonal als auch für Laien wohldosiert, was Theorie und Praxis anbelangt.
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104 FI 2/ 2022 Rezensionen Den Abschluss bilden „Systemische Behandlungsprinzipien“ und die (Rück-)Wirkungen des Verhaltens eines Kindes mit einer Entwicklungsstörung auf die Familie. Diese Sichtweise erweitert die diagnostische Perspektive und liefert Argumente und Handreichungen, wie individualisiert und familienorientiert an die Behandlung von Entwicklungsstörungen herangegangen werden kann. Insgesamt ist dieses Buch für die Interdisziplinäre Frühförderung ein sehr wertvoller Beitrag, um über eine Symptomsammlung hinaus auch mit einem umfassenden systemischen Verständnis an Entwicklungsstörungen, deren Ätiologie und besondere Kennzeichen heranzugehen. Der/ die Lesende gewinnt die Erkenntnis, dass gewissenhafte Diagnostik nicht darauf ausgelegt sein kann, abschließende und eindeutige Ergebnisse zu generieren, sondern interdisziplinär orientiert auch in der Behandlung individuell hilfreich wirken soll. Teresa Landwehrmann DOI 10.2378/ fi2022.art14d Eliane Retz, Christiane Stella Bongertz Wild Child Verlag Piper, 2. Auflage, 2021, 384 S., € 18,- Das Buch mit dem Subtitel „Entwicklung verstehen, Kleinkinder gelassen erziehen, Konflikte liebevoll lösen“ richtet sich an Bezugspersonen von Kleinkindern (1 - 5 Jahre), die bindungsorientiert erziehen wollen. Der Erziehungsratgeber wurde von Dr. Eliane Retz, Pädagogin und systemische Beraterin, und von Christiane Stella Bongertz, Autorin und Kommunikationswissenschaftlerin, geschrieben. Trotz seiner fast 400 Seiten ist der Erziehungsratgeber sowohl für Fachpersonal als auch für Laien wohldosiert, was Theorie und Praxis anbelangt. Besonders Leser*innen-freundlich sind die Minutenangaben für die einzelnen Kapitel. Diese schaffen eine hilfreiche Struktur für alle Personen, die sich ihre Lesezeit einteilen wollen oder müssen. Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil behandelt Bindung und wissenschaftliche Erkenntnisse der Bindungsforschung, leicht verdaulich aufbereitet, sodass auch Laien einen guten Überblick bekommen. Bindungsstile, Bindung versus Autonomiebestreben, Bindungspersonen, Bindungsmerkmale, all diese Komponenten werden beleuchtet und miteinander in Zusammenhang gebracht. Auch wird das Geheimnis des Buchtitels gelüftet. Bei „Wild Child“ mögen viele Leser*innen an ein wildes Kind denken, also an ein Kind, welches ungestüm und unangepasst agiert. Die Autorinnen finden den Begriff passend, da Kleinkinder evolutionär bedingt neugieriges, exploratives und nach Autonomie strebendes Verhalten zeigen, welches im gesellschaftlichen Kontext von Erwachsenen nicht immer als angemessen empfunden wird. Vor allem während der Autonomiephase, die etwa mit 1,5 Jahren beginnen kann, kann man dieses „wilde“ Verhalten als erziehende Person zu spüren bekommen. Die in diesem Buch beschriebene bindungsorientierte Erziehung heißt diese Form der Wildheit willkommen und begegnet ihr mit Verständnis und bindungsförderlichem, grenzsetzenden Verhalten. Um Grenzen Setzen geht es dann auch im zweiten Teil: Dieser setzt sich mit der Rolle der Eltern/ Bezugspersonen auseinander. Er lässt die Bezugspersonen über ihre eigenen Bindungserfahrungen nachdenken und darüber, welche Erfahrungen sie mit Erziehung gemacht hat. Auch beinhaltet 105 FI 2/ 2022 Rezensionen er einen Selbstfürsorgeteil. Hier bekommt der/ die Leser*in Atemübungen und Affirmationen an die Hand, für Zeiten und Situationen, in denen das Zusammensein mit dem Kind besonders herausfordernd ist. Besonders hilfreich sind die 12 „Alltagsbasics“. Diese geben einen Überblick über bindungs- und beziehungsförderliche Grundhaltungen und Kommunikationsstrategien. Basics wie „Kindliches Weinen - ein Signal, dass Sie nie ignorieren sollten“ oder „Nein - wie sie ein starkes Wort bindungsorientiert nutzen“ schlagen eine Brücke von der Theorie zur Praxis und geben den Bezugspersonen erste Tools an die Hand, die ihnen im Alltag mit dem Kind Handlungsstrategien verschaffen. Im dritten Teil geht es um konkrete Alltagssituationen. Trödeln, Fremdeln, Körperpflege, Essen, Schlafen. Zu all diesen Entwicklungsbausteinen fällt jeder Bezugsperson auch etwas Konflikthaftes im Zusammenspiel mit einem Kleinkind ein. In über 20 kurzen Beispielen behandeln die Autorinnen konkrete Beispiele. Schön ist hierbei, dass zunächst das kindliche Entwicklungsthema oder Motiv beleuchtet wird und dann Handlungstipps gegeben werden. Zum Beispiel das Thema Teilen. Die Autorinnen eröffnen das Kapitel mit einem humorvollen Gedankenspiel. Der/ Die Leser*in soll sich vorstellen, Gäste würden das mühevoll sortierte Bücherregal durcheinanderbringen oder immer wieder kostbare Vasen in die Hand nehmen. Zu allem Überfluss würden ständig alle sagen: „Nehmt Euch ruhig was, xy muss lernen zu teilen“. Ein wunderbares Beispiel, um auf der Gefühlsebene zu verdeutlichen, dass Teilen etwas Freiwilliges sein sollte. Kleinkinder aber sind mit dem Wunsch der Erwachsenen, auf diesem Gebiet prosoziales Verhalten zu zeigen, hoffnungslos überfordert. Was die Fähigkeit zu teilen anbelangt, wird man in diesem Kapitel noch mit einer wissenschaftlichen Studie vertraut gemacht und es gibt einen Ausblick, ab welchem Alter Kinder kognitiv und emotional in der Lage sind, freiwillig und von sich aus zu teilen. Das Buch ist auf jeden Fall auch für Mitarbeiter*innen von Frühförderstellen relevant. Gerade die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse und wissenschaftlichen Ausführungen der frühkindlichen Bindungsrepräsentation frischen bereits erworbene Kenntnisse auf belebende und praxisnahe Art und Weise wieder auf. Es ist auch vorstellbar, mit Eltern oder anderen Bezugspersonen an konkreten Beispielen aus dem dritten Kapitel zu arbeiten. Gerade der wissenschaftliche erste Teil des Buches über Bindung kann auch für die Mitarbeiter*innen der Harl.e.kin Frühgeborenennachsorge interessant sein. Aber auch im Praxisteil gibt es ein Fallbeispiel „Aus der Beratungspraxis Lara“. Hier geht es um ein ehemaliges frühgeborenes Mädchen, welches aufgrund langwieriger Erfahrungen auf der Intensivstation Wahrnehmungsbesonderheiten im Mundraum entwickelt hat und daher keine harten Gegenstände (Löffel, Zahnbürste) im Mund zulassen kann. Eine Buchempfehlung für Eltern sollte im Beratungskontext der Frühförder- oder Harl.e.kin-Arbeit sorgfältig abgewägt werden. Viele Inhalte sind sehr an das attachment parenting angelehnt, was zu Überforderung bei Eltern führen kann. Eltern, die hier differenzieren und selbstreflexiv ein good enough in ihrem Erziehungsverhalten akzeptieren können, sind aber sicherlich sehr gut mit diesem Buch beraten. Charlotte Laule DOI 10.2378/ fi2022.art15d