Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Originalarbeit: Inklusion und Integration als zentrale Aufgaben einer Interdisziplinären Frühförderung - und mögliche Hindernisse ihrer Realisierung
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Hans Weiß
Die Frühförderung hat seit ihren Anfängen eine fundierte Expertise für Kinder mit sozialen Entwicklungsrisiken und deren Familien aufgebaut. Aufgrund ihrer rechtlichen Grundlagen kann sie dennoch zur Inklusion und Integration dieses Personenkreises nicht hinreichend beitragen. Wenn überhaupt, erhalten diese Kinder häufig erst im Kindergartenalter Frühförderung. Dabei sind sie oft schon ab der Pränatalzeit einem ‚Hemmungszirkel‘ interagierender und kumulierender psychosozialer und biologischer Faktoren ausgesetzt. Ihm ist rechtzeitig - d.h. oftmals frühestmöglich - ein interdisziplinärer ‚Förderzirkel‘ entgegenzusetzen, der aus nachgehenden Frühen Hilfen, z.B. Familien-Gesundheitsfachkräften, und Interdisziplinären Frühförderstellen besteht. Eng verzahnt können beide Systeme inklusive und integrative Hilfe und Förderung anbieten.
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Frühförderung interdisziplinär, 41.-Jg., S.-116 - 127 (2022) DOI 10.2378/ fi2022.art16d © Ernst Reinhardt Verlag 116 Inklusion und Integration als zentrale Aufgaben einer Interdisziplinären Frühförderung 1 - und mögliche Hindernisse ihrer Realisierung Hans Weiß Zusammenfassung: Die Frühförderung hat seit ihren Anfängen eine fundierte Expertise für Kinder mit sozialen Entwicklungsrisiken und deren Familien aufgebaut. Aufgrund ihrer rechtlichen Grundlagen kann sie dennoch zur Inklusion und Integration dieses Personenkreises nicht hinreichend beitragen. Wenn überhaupt, erhalten diese Kinder häufig erst im Kindergartenalter Frühförderung. Dabei sind sie oft schon ab der Pränatalzeit einem ‚Hemmungszirkel‘ interagierender und kumulierender psychosozialer und biologischer Faktoren ausgesetzt. Ihm ist rechtzeitig - d. h. oftmals frühestmöglich - ein interdisziplinärer ‚Förderzirkel‘ entgegenzusetzen, der aus nachgehenden Frühen Hilfen, z. B. Familien-Gesundheitsfachkräften, und Interdisziplinären Frühförderstellen besteht. Eng verzahnt können beide Systeme inklusive und integrative Hilfe und Förderung anbieten. Schlüsselwörter: Soziale Selektivität, Hemmungszirkel, Förderzirkel, Frühe Hilfen Inclusion and integration as central objectives of interdisciplinary early childhood intervention - and possible obstacles to their realization Summary: Since its implementation, early childhood intervention has built up a large body of profound expertise in working with children whose social development is at risk and with their families. However, due to its legal basis, early childhood interventions cannot sufficiently contribute to the inclusion and integration of this group of individuals. Most of these children do not receive early intervention until they enter kindergarten, if they receive it at all. In many cases from the prenatal period on, they are exposed to a “circle of inhibition” consisting of interacting and cumulative psychosocial and biological factors. This “circle of inhibition” must be countered in time - often this means as early as possible - by an interdisciplinary “circle of support” consisting of follow-up early support providers, e. g., family health professionals, and interdisciplinary early intervention centers. As they are closely intertwined, both systems can offer inclusive and integrative assistance and developmental support. Keywords: Social selectivity, circle of inhibition, circle of support, early support ORIGINALARBEIT D as System der Interdisziplinären Frühförderung steht unter dem (Selbst-)Anspruch, inklusiv und integrativ zu wirken. Inklusiv sei dabei verstanden als eine Haltung und Zielsetzung, die Menschen - im Blick auf die Interdisziplinäre Frühförderung Kinder mit Behinderungen oder Entwicklungsproblemen und ihre Familien - in ihrer persönlichen (körperlichen, seelischen und geistigen) sowie sozialen Situation gemeinsame Lebens- und Spielräume, Teilhabe in zentralen Bereichen wie Bildung, Gesundheit, Arbeit, kulturelles Leben, Erholung und Muße zu ermöglichen sucht. Inklusion zielt auf Partizipation, also nicht nur Nicht-Ausgrenzung, sondern aktive Teilhabe, und beinhaltet spezielle möglichst nicht stigmatisierende Hilfe-Angebote, die Menschen, die sie brauchen, nicht als aussondernd erleben (vgl. Sohns in diesem Heft). 117 FI 3/ 2022 Inklusion und Integration als zentrale Aufgaben einer Interdisziplinären Frühförderung Ein solches Verständnis von Inklusion hat viele Gemeinsamkeiten mit Integration. In diesem Heft (vgl. den Beitrag von Sohns) soll integrativ und Integration - einem heute vorherrschenden Sprachgebrauch entsprechend - in einem speziellen Sinn verstanden werden: Es ist darunter insbesondere die Eingliederung von Menschen, speziell auch Kindern, aus unterschiedlichen, ‚fremden‘ Kulturen in die kulturelle Verfasstheit eines Aufnahmelandes zu verstehen, beispielsweise von Flüchtlingen und anderen Menschen mit Migrationsgeschichte. Integration wird dann erreicht, wenn diese Menschen ihre Herkunftskultur interkulturell weiterentwickeln und damit an den kulturellen Gegebenheiten des neuen Landes angemessen teilhaben können. Dieser inklusions- und integrationsbezogene Selbstanspruch der Interdisziplinären Frühförderung steht in einem Spannungsverhältnis zu der Tatsache, dass dieses System insofern exklusiven Charakter hat, als es gemäß seinen rechtlichen Grundlagen für eine bestimmte, ‚besondere‘ Klientel - Kinder mit (drohender) Behinderung - zuständig ist. Vor diesem Hintergrund sehen Klose und Willmann (2019, 87) die Frühförderung durch eine „strukturimmanente Paradoxie“ zwischen Inklusionshilfe und Exklusionsrisiko (ebd.) gekennzeichnet. Meine Intention ist es nicht, eine empirische Analyse darüber vorzulegen, inwieweit und unter welchen Bedingungen die Interdisziplinäre Frühförderung bei den von ihr betreuten Kindern und deren Familien zu inklusiven und integrativen Prozessen beitragen kann. Zwar sind mir für den deutschen Sprachraum keine systematischen Studien bekannt. Gleichwohl ließen sich auf der Ebene der unmittelbaren Erfahrung und im Kontext von Einzelfallstudien dazu viele Beispiele für gelungene Inklusions-, Partizipations- und Integrationsprozesse bei Kindern und Familien finden, insbesondere auch bei jenen in marginalisierten Lebenslagen sowie bei Familien mit Migrationsgeschichte (vgl. Wimpelberg und Weiß 2016; 2019). Sie bedürften auf einer wissenschaftlichen Ebene der quantitativen und qualitativen Analyse. Hingegen steht in diesem Beitrag die These im Zentrum, dass die Entfaltung des Inklusions- und Integrationspotenzials der Interdisziplinären Frühförderung durch institutionsspezifische, vor allem rechtlich-administrative Bedingungen eingeschränkt wird. Dies geschieht dadurch, dass viele Kinder, denen aus wissenschaftlichfachlicher Sicht die Komplexleistung Früherkennung und Frühförderung zustünde, sowie ihre Familien, dieses Angebot entweder verspätet (Problem der Rechtzeitigkeit) oder gar nicht erhalten (Problem der sozialen Selektivität). Diese systeminternen selektiven Effekte und ihre (Hinter-)Gründe sollen genauer erörtert werden. 1. Einschränkungen des Inklusions- und Integrationspotenzials der Interdisziplinären Frühförderung und deren (Hinter-)Gründe 1.1 Rechtzeitige Frühförderung - ein oftmals nicht hinreichend eingelöstes Desiderat 2002 hat Gerhard Klein auf die „sozial selektive Wirkung des Systems Frühförderung“ aufmerksam gemacht (Klein 2002, 48). Er meint damit vor allem Kinder mit psychosozialen Risiken, deren Unterrepräsentanz in der Frühförderung empirisch vielfach belegt ist (vgl. z. B. MASGF Brandenburg 2007, 93). Diese Kinder erhalten, wenn überhaupt, häufig verspätet Frühförderung, meist erst im Kindergartenalter und oftmals durch Vermittlung des Kindergartens, wenn Kinder dort auffallen, mitunter Probleme machen, weil sie Probleme haben. Es gibt jedoch viele Hinweise dafür, dass Kinder mit frühförderrelevanten Entwicklungsproblemen nicht nur aus sozial benachteiligten Familien (wenngleich aus diesen besonders häufig), sondern auch relativ 118 FI 3/ 2022 Hans Weiß unabhängig vom sozioökonomischen Status der Familie verspätet in das System der Interdisziplinären Frühförderung gelangen. Genauere, länderspezifische Studien zum Aufnahmezeitpunkt von Kindern in die Interdisziplinäre Frühförderung sind meines Wissens schon mindestens ein Jahrzehnt alt, zwei seien kurz referiert. Nach der ISG-Studie „Evaluation zur Umsetzung der Rahmenempfehlung Frühförderung in Nordrhein-Westfalen“ (ISG 2012 b) lag der Beginn der Frühförderung je nach Leistungsart und Einrichtungstyp etwas unterhalb der Hälfte aller frühgeförderten Kinder im frühen Kindergartenalter (3 - 5 Jahre): bei 43 % der Kinder mit Solitärleistungen in Einrichtungen mit Anerkennung der Komplexleistung; bei 45 % der Kinder mit Solitärleistungen in Einrichtungen ohne Anerkennung der Komplexleistung und bei 51 % der Kinder mit Komplexleistung (vgl. ISG 2021, 54, Tab. 22). Die entsprechenden Zahlen für das Säuglingsalter lagen bei 12 %, 8 % und 7 % (vgl. ebd.). Mit knapp 45 % wurden ähnlich viele Kinder wie in NRW nach der sog. FranzL-Studie (Arbeitsstelle Frühförderung Bayern 2010, 2) im frühen Kindergartenalter (3 - 5 Jahre) in Interdisziplinäre Frühförderstellen in Bayern aufgenommen. Hingegen lag der Anteil der Kinder, die bereits im 1. Lebensjahr Frühförderung erhielten, in Bayern mit 4,9 % noch deutlich unter den Zahlen aus NRW. 2 Die Gründe für die nach wie vor in der Tendenz zu späte Aufnahme vieler Kinder, die Frühförderleistungen brauchen, dürften vielfältig sein. Nur zwei seien angedeutet: n Die Bedeutung, Aufgaben und spezifischen Inhalte einer rechtzeitigen - und das heißt oftmals bereits frühzeitigen - Frühförderung im 1. Lebensjahr sind aufgrund eines auch bei Kostenträgern verbreiteten Verständnisses einer funktionalen Förderung ‚am Kind‘ allem Anschein nach nicht hinreichend bekannt. n Die verfahrensrechtlichen Prozeduren der Aufnahme eines Kindes in die Interdisziplinäre Frühförderung, insbesondere der Nachweis einer ‚Frühförderberechtigung‘ des Kindes im Sinne einer (drohenden) Behinderung, führt zu dessen Kategorisierung als behindert oder von Behinderung bedroht oder analogen Zuordnungen. Die Anerkennung einer solchen Kategorisierung fällt Eltern oftmals nicht leicht. Für Kinder- und Jugendärzt*innen (wie auch für Hausärzt*innen, wenn sie mit U-Untersuchungen befasst sind) kann es eine Hemmschwelle sein, Eltern damit zu konfrontieren - mit der Folge, eher erst einmal abzuwarten. Weitere Gründe für eine häufig nicht rechtzeitige Frühförderung sind im Zusammenhang mit der von Klein angedeuteten sozialen Selektivität der Frühförderung zu sehen. 1.2 Inklusive interdisziplinäre Frühförderung für alle Kinder, die sie brauchen - eine kritische Auseinandersetzung mit der Einschränkung der Klientel Wenn Kinder insbesondere mit gravierenden psychosozialen Lebens- und Entwicklungsproblemen nicht rechtzeitig oder gar keine Frühförderung erhalten, also aus dem System der Interdisziplinären Frühförderung ganz oder teilweise exkludiert sind, liegt dies sicherlich im historischen Kontext des Systems Frühförderung begründet. Es war von seinen ursprünglichen, in den Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates von 1973 festgehaltenen Intentionen her zwar sowohl für Kinder mit manifesten Behinderungen als auch umweltbedingten Beeinträchtigungen gedacht. Aber durch die sozialrechtliche Verankerung der Interdisziplinären Frühförderung in der Eingliederungshilfe sind die Indikationskriterien für Frühförderung ‚an das 119 FI 3/ 2022 Inklusion und Integration als zentrale Aufgaben einer Interdisziplinären Frühförderung Kind‘ gebunden (streng genommen zählen kontextorientierte Merkmale, also das Lebensumfeld eines Kindes, für sich genommen nicht zu den Indikationskriterien von Frühförderung). Daher kann die Frühförderung im Grunde nur Kinder aufnehmen, bei denen bereits Auffälligkeiten im Sinne einer (drohenden) Behinderung bestehen. Dadurch werden Kinder, deren Entwicklungsgefährdung (zunächst) vor allem in ihren Lebens- und Entwicklungsbedingungen liegt, z. B. Kinder in ‚erschöpften‘ Familien, oftmals zu spät oder gar nicht erreicht. Trotz dieses Konstruktionsfehlers des Systems Frühförderung erhalten auch bisher Kinder z. B. mit gravierenderen armutsbedingten Auffälligkeiten des Lernens und Verhaltens oftmals unter der mit einem Rechtsanspruch verbundenen Indikationskategorie ‚(drohende) seelische Behinderung‘ Frühförderung (wenngleich häufig nicht frühzeitig genug und nicht alle infrage kommenden Kinder). Diese Entwicklung begann bereits mit den ersten Anfängen des Ausbaus der Frühförderung zu einem flächendeckenden System ab den 1970er-Jahren, wenn auch sicher länderspezifisch unterschiedlich. Kinder und Familien mit sozialen Entwicklungsgefährdungen wurden von Beginn der Frühförderung an als Teil ihres fachlichen Verantwortungsbereichs gesehen, also noch vor der Zeit, in der gesellschaftlich bedingte Veränderungen der gesundheitlichen Situation von Kindern unter dem Stichwort ‚Neue Morbidität‘ diskutiert worden sind (vgl. Sohns in diesem Heft). Dies hat allein schon einen Grund in der Entstehungsgeschichte der Frühförderung in Deutschland: Sowohl in Baden-Württemberg als auch in Bayern als den Bundesländern, in denen mit am frühesten ein flächendeckendes Netz an Frühförderstellen aufgebaut wurde, dockte man dieses Netz zunächst an den damals bestehenden Sonderschulen an, u. a. an den Schulen für Lernbehinderte (wie sie in den 1970er- Jahren hießen). Deren Schülerinnen und Schüler kommen nachweislich zu 80 bis 90 % aus sozial benachteiligten Verhältnissen. Bereits in den ersten Veröffentlichungen zur Frühförderung (z. B. Klein 1979, Weiß 1980) spielten Kinder aus sozial benachteiligten Familien eine wichtige Rolle im Frühförderdiskurs. Einer Erhebung der Arbeitsstelle Frühförderung Bayern aus dem Jahr 1979 (Spörri 1982) zufolge stammten 38 % der betreuten Kinder aus Arbeiterfamilien und weitere 10 % aus sozial benachteiligten Familien (ebd., 294f.). Ferner waren 6 % der Familien „ausländischer Herkunft, die ebenfalls häufig unter extremen Belastungen leben“ (ebd., 295). Daher verwundert es nicht, dass sich der Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung „Pädagogische Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder“ (1982) auch folgenden Themen widmete: „Probleme elternbezogener Aktivitäten in sozial benachteiligten Familien der Frühförderung“; „Berücksichtigung und Einbeziehung der ökonomischen Grundlagen von Sozialisationsprozessen im familiären Bereich“; „Berücksichtigung der Lebens- und Erziehungssituation in der Unterschicht“. Sicher dürften, gerade wegen der Auftretenshäufigkeit von behinderungsrelevanten biologisch-neurologischen Schädigungen in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status (BMFSFJ 2002), unter den Kindern der Frühförderung mit (drohenden) geistigen und körperlichen Behinderungen - damals wie heute - auch viele sein, die in psychosozial belasteten Lebensverhältnissen aufwachsen. Darüber hinaus - und dies sei gegenüber einer klientelbezogenen Einengung ausdrücklich betont -, haben schon immer, vermutlich regional unterschiedlich, auch folgende Kinder eine Eintrittskarte in die Frühförderung erhalten: „Kinder, die ohne manifeste biologische Schädigungen unter so schwierigen Lebens- und Entwicklungsbedingungen (psychosozialen Risiken) aufwachsen, 120 FI 3/ 2022 Hans Weiß dass ihre Entwicklung als erheblich gefährdet zu betrachten ist“ (Weiß et al. 2004, 66; Hervorhebung H. W.). Diese Feststellung könnte nicht nur durch eine zusammenfassende Auswertung der Jahresberichte zahlreicher Interdisziplinärer Frühförderstellen erhärtet werden, sondern wird auch durch breiter und systematischer angelegte Studien belegt (vgl. Klein 2002, Sohns 2001). Sicher weist die Interdisziplinäre Frühförderung infolge ihrer gesetzlichen Grundlagen einen sozial-selektiven Faktor auf, der die Niedrigschwelligkeit für Kinder mit psychosozialen Risiken einschränkt und präventives Arbeiten erschwert. Gleichwohl machen - auch vor dem Hintergrund der ‚Neuen Morbidität ‘ - Kinder insbesondere im Kindergartenalter mit Verhaltensbesonderheiten, Lern- und Leistungsstörungen sowie aus sozial benachteiligten Familien einen erheblichen Anteil in der Frühförderung aus (Thurmair und Naggl 2010, 21). Dies allerdings ist im Sinne eines niedrigschwelligen, inklusiven Systems weiter ausbaubedürftig. Gerade aber die Weiterentwicklung dieses inklusiven Aspekts wird zum einen durch strukturelle Probleme, die länderspezifische Vielfalt der deutschen Frühförderung und damit verbundene verengte, präzisierungsbedürftige Sichtweisen innerhalb des Systems Frühförderung einschließlich des Selbstverständnisses der Frühförderfachkräfte behindert. Zum anderen bestehen auch in deren ‚Nachbarschaft‘ unzureichende Kenntnisse über und ungeprüfte Vorannahmen zur Interdisziplinären Frühförderung sowie Einseitigkeiten im interdisziplinären Diskurs. So wird die Frühförderung aufseiten der Jugendhilfe sowohl auf der Ebene der Theorie (etwa in Fachpublikationen) wie der Praxis noch immer nicht hinreichend im Sinne der Kooperation und Vernetzung zur Kenntnis genommen; z. B. lassen Präventionskonzepte im Kontext von Kinderarmut die Interdisziplinäre Frühförderung als ein Glied oder Teilglied sog. Präventionsketten meist unberücksichtigt (vgl. u. a. Holz 2010). 3 Wenn die Interdisziplinäre Frühförderung im Sinne guter Kooperationsstrukturen der Hilfe für Kinder mit psychosozialen Lebens- und Entwicklungsproblemen und deren Familien oftmals nur unzureichend von benachbarten Institutionen wahrgenommen wird, hat dies sicher mit dem angesprochenen Konstruktionsfehler im System Frühförderung zu tun. Er besteht darin, dass entgegen neuerer neurowissenschaftlicher Erkenntnisse (vgl. Kap. 2.1) entwicklungsgefährdende, sich letztlich auch auf der biologischen Ebene eines davon betroffenen Kindes niederschlagende Kontextbedingungen selbst in der Kategorie ‚drohende seelische Behinderung‘ oftmals nicht hinreichend gewichtet werden. Dies ist zu Recht zu kritisieren. Zieht man daraus jedoch, wie es in der Literatur auch anklingt, den kritischen Schluss, dass die Interdisziplinäre Frühförderung solche Kinder in der Praxis bislang im Grunde ausklammert, entspricht dies nicht nur nicht der Realität. Vielmehr trägt man dazu bei, den fachlichen Zuständigkeitsbereich der Frühförderung auf Kinder mit Behinderung einzuengen und entsprechend verengte Vorstellungen in der Jugendhilfe zu zementieren. In den vorangegangenen Überlegungen habe ich zwar einerseits dezidiert den Stellenwert der Interdisziplinären Frühförderung für Kinder mit psychosozialen Lebens- und Entwicklungsproblemen betont, aber auch auf die Grenzen der Frühförderung in der Arbeit speziell mit dieser Kindergruppe aufmerksam gemacht. Die Vorsitzende des Beirats des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen, Ute Thyen, sieht hier eine „Lücke“ in der Hilfe- und Förderstruktur für diese Klientel. Sie sei „nach fast vierzig Jahren mit den Frühen Hilfen wieder geschlossen worden, allerdings um den Preis, dass eine Verdoppelung eines sehr ähnlichen Systems stattfand, was in der Praxis nun unter vielen Anstrengungen einer regionalen Kooperation wieder zusammengeführt wird“ (2017, 66). 121 FI 3/ 2022 Inklusion und Integration als zentrale Aufgaben einer Interdisziplinären Frühförderung Der Autorin ist zuzustimmen, wenn sie die Frühen Hilfen als „eine Verdoppelung eines sehr ähnlichen Systems“ sieht, das durch regionale Kooperation mühsam zusammengeführt werden soll. Aber wäre es gerade deshalb nicht sinnvoll, anstelle eines neuen „sehr ähnlichen Systems“ die bisherigen restriktiven gesetzlichen Vorgaben der (drohenden), insbesondere seelischen Behinderung aufzubrechen und weiterzuentwickeln? Auch Klose und Willmann (2019) betrachten die Frühen Hilfen als Ergebnis einer „intrasystemischen Ausdifferenzierung“ durch „duale Spaltung des speziellen Fördersystems“ (ebd., 105). Ergebnis der dualen Spaltung ist eine Doppelbzw. Parallelstruktur. Die Überwindung der dualen Spaltung durch „systemische Vernetzung und interdisziplinäre Kooperation“ (ebd., 106) stehe „allerdings vor einigen Hürden, zu denen nicht nur die Parallelstruktur der Systeme zählt“ (ebd.). In einem Interview unter der Überschrift „Jugendhilfe und Frühförderung müssen als systemrelevant gelten. Die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V. über Gemeinsamkeiten von Frühen Hilfen und Frühförderung und die Auswirkungen von Corona“ stellt Ute Thyen (2020) im Hinblick auf die Zielgruppen der beiden Systeme fest: „Die Schwerpunkte der Arbeit sind etwas unterschiedlich, weil die Frühförderung auf drohende körperliche und geistige Behinderung abstellt. Bei den Frühen Hilfen liegt der Fokus eher auf sozialen Risikofaktoren. Die wären kein Eintrittsticket für Frühförderung.“ Die in dieser Aussage vorgenommene Einschränkung der Frühförderklientel auf Kinder mit (drohender) körperlicher und geistiger Behinderung wird in einem Beitrag von Thyen und Simon insofern aufgebrochen, als sie die Frühförderung auf Kinder beziehen, „die körperlich, seelisch oder geistig beeinträchtigt sind“ (2020, 195). Diese notwendige Erweiterung der frühförderspezifischen Klientel führt zu der Frage, welche Kinder der Begriff der ‚seelischen Beeinträchtigung‘ umfassen sollte, um das Inklusions- und Integrationspotenzial der Interdisziplinären Frühförderung auszuschöpfen und damit einer unnötigen Mäanderung der Hilfe- und Förderstrukturen vorzubeugen. 2. Kinder mit psychosozialen Risiken und ihre rechtzeitige, interdisziplinär ausgerichtete, inklusive Frühförderung Zu Kindern mit seelischer Beeinträchtigung oder - in der Gesetzesterminologie - Kindern mit (drohender) seelischer Behinderung gehören vor allem vernachlässigte, misshandelte, traumatisierte Kinder und Kinder mit psychisch kranken Eltern. Dazu kommt aber noch die große Gruppe von Kindern, die großenteils von Geburt an unter benachteiligten Lebens-, Entwicklungs- und Sozialisationsbedingungen aufwachsen, also in einem Umfeld mit reduziertem Anregungsgehalt - dies oftmals, weil die Eltern in Armuts- und sonstigen Benachteiligungsverhältnissen leben und in einer Situation „sozialer Erschöpfung“ (Lutz 2014) ohne angemessene Hilfen überfordert sind. Bestimmt mag für einen Teil dieser Kinder die Etikettierung ‚von seelischer Beeinträchtigung oder Behinderung bedroht‘ zutreffen. Sie pauschal so zu bezeichnen ist durchaus kritisch zu sehen, wenn man bedenkt, dass viele dieser Kinder und späteren Jugendlichen z. B. in (Förder-)Schulen eine soziale Sensibilität entwickeln können, die zum Begriff ‚seelische Behinderung‘ quer steht. 4 Unbestritten ist jedoch, dass diese Kinder vom frühesten Lebensalter an in ihrem Bezug zur Welt, ihrer Entwicklung und ihren frühen Lern- und Bildungsprozessen be- oder gehindert und 122 FI 3/ 2022 Hans Weiß dadurch in ihrer „vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft“ (Art. 1 UN-BRK; vgl. Art. 3 UN-BRK) bzw. „am Leben in der Gemeinschaft“ (Teil 1 Kap. 1 § 1 BTHG) eingeschränkt werden. Ihnen wird auch heute oftmals keine oder erst im höheren Kindergartenalter Frühförderung zuteil. Dies führt dazu, dass die Quote der frühgeförderten Kinder weniger als die Hälfte jener Kinder ausmacht, die aufgrund ihrer Entwicklungsbeeinträchtigungen berechtigt wären, die Komplexleistung Frühförderung zu erhalten (vgl. Krinninger 2021, unter Bezug auf BMAS Forschungsbericht 419 (ISG 2012 a). Bereits im Kindergartenalter fallen sie häufig durch die Aufnahmeraster der Interdisziplinären Frühförderung, weil sie nicht in die Kategorien der (drohenden) geistigen, körperlichen und Sinnesbehinderung passen und oftmals auch nicht in jene der (drohenden) seelischen Behinderung. Um ihren vor allem umweltbedingten - oftmals gravierenden - Entwicklungs- und Förderbedürfnissen möglichst gut gerecht zu werden, bietet sich eine enge Kooperation zwischen Frühen Hilfen und Interdisziplinärer Frühförderung an. Da Fachkräfte der Frühen Hilfen, z. B. Familienhebammen, schon aufgrund belastender familien- und kindbezogener Kontextbedingungen aktiv werden können, ist es ihnen möglich, niedrigschwellig und flexibel mit der Familie Kontakt aufzunehmen, die Eltern zu stärken und bei Bedarf darauf hinzuwirken, dass Kinder in die Interdisziplinäre Frühförderung vermittelt werden. 2.1 Die Notwendigkeit eines interdisziplinären (Früh-)Förderansatzes bei Kindern mit (primär) umweltbedingten Entwicklungsgefährdungen Zu fragen ist jedoch, inwieweit Kinder mit psychosozialen Entwicklungsrisiken eine rechtzeitige, d. h. oftmals möglichst frühzeitige komplexe und damit interdisziplinär, also (heil-)pädagogisch-psychologisch und medizinisch-therapeutisch orientierte Frühförderung erhalten sollen, wenn, zumindest auf einer vordergründigen Ebene, keine medizinisch fassbare Symptomatik erkennbar ist. Die ansatzweise Beantwortung dieser Frage beginne ich mit einem Zitat der französischen biologisch-neurologisch orientierten Philosophin Catherine Malabou: „Meine Reflexion über das Gesellschaftliche ist von dem Vergleich ausgegangen, den der Neurologe António Damásio zwischen Hirngeschädigten und sozial Ausgegrenzten gezogen hat. Man stellt bei beiden Kategorien, bei Alzheimerpatienten im fortgeschrittenen Stadium und bei Obdachlosen in äußerstem Elend, die gleichen Symptome fest: totaler Orientierungsverlust, Vernachlässigung des Körpers und so weiter. Heute weiß man, dass die soziale Ausgrenzung Rückwirkungen auf das Gehirn hat und dass jede Beeinträchtigung des Gehirns soziale Auswirkungen hat“ (2015, 73). Die enge Verknüpfung vom Biologischem und Sozialem (und Psychischem) durchzieht das Leben des Menschen von seiner Zeugung bis zum Tod im Positiven wie im Negativen (vgl. auch Fricke und Hollmann in diesem Heft). Belastende Umweltbedingungen in der Schwangerschaft können über die werdende Mutter die Entwicklung der unteren Ebene des limbischen Systems beeinträchtigen. Diese untere Ebene umfasst z. B. den Hypothalamus, die zentrale Amygdala und die vegetativen Zentren des Hirnstamms und „ist eng mit der Regulation lebenswichtiger Funktionen verbunden. Hier geschieht auch die Auslösung und Kontrolle angeborener Verhaltensweisen wie Flucht, Erstarren, Verteidigung, Aggression, Stressregulation und elementarer affektiv-emotionaler Zustände wie Wut und Zorn, Freude oder Trauer. Diese Funktionen bedingen auch die grundlegenden Eigenschaften unserer Persönlichkeit, Temperament genannt, mit denen wir auf die Welt kommen“ (Roth und Strüber 2018, 110). 123 FI 3/ 2022 Inklusion und Integration als zentrale Aufgaben einer Interdisziplinären Frühförderung Lange Zeit nahm man an, dass das Temperament vererbt ist. Heute wissen wir, dass das Temperament, die grundlegenden Eigenschaften unserer Persönlichkeit, z. B. Reaktivität und Regulationsfähigkeit, zwar genetisch-epigenetisch angelegt ist, aber auch durch vorgeburtliche Erfahrungen des Fötus, vermittelt über positive und negative Erfahrungen der werdenden Mutter, beeinflusst wird. In der Pränatalphase bilden sich also genetisch und epigenetisch, aber auch durch Umwelteinflüsse beeinflusst die untere Ebene des limbischen Systems und damit bereits grundlegende Persönlichkeitszüge aus. In den ersten Lebensjahren hingegen spielt die Entwicklung der mittleren Ebene des limbischen Systems in der weiteren Ausbildung des „Kerns unserer Persönlichkeit“ (Roth und Strüber 2018, 442) und ihrer elementaren Funktionen wie Furcht, Freude, Glück eine zentrale Rolle (ebd.). Dies geschieht vorrangig über die Bindungserfahrungen des Kindes, also im Zusammenleben mit dessen engen und bedeutsamsten Bezugspersonen. Die frühen Lebensjahre, in denen Kinder ihren Persönlichkeitskern ausbilden, ist für sie eine sehr prägende, aber deshalb auch besonders verletztliche (vulnerable) Zeit. So verwundert es nicht, dass frühe und lang andauernde Armut einen besonders hohen Risikofaktor für die Entwicklung davon betroffener Kinder darstellt (vgl. Duncan und Brooks-Gunn 1997). Je jünger ein Kind ist, umso mehr ist es widrigen Bedingungen seiner Lebenswelt relativ schutzlos ausgesetzt und umso weniger hat es in seinem bisherigen Leben Abwehr- und Bewältigungsstrategien gegen aversive Reize entwickeln können. Dies gilt sowohl in biologischer wie auch in psychosozialer Hinsicht, weil schädliche Bedingungen in direkter Weise auf sich erst ausbildende (neuro-)biologische und psychische Strukturen einwirken können. So haben früh einsetzende deprivierende, stressreiche Umweltbedingungen entsprechend frühe problematische Einflüsse auf die Entwicklung des neurobiologischen Systems, insbesondere auf den präfrontalen Cortex, die Sprachregionen in der linken Hirnhälfte und den Hippocampus. Dies hat Auswirkungen vor allem auf die exekutiven Funktionen (Planung der Handlungsabläufe, willentliche Aufmerksamkeitsfokussierung, soziale und emotionale Selbstregulierung), die sprachliche Entwicklung und das Gedächtnis (vgl. z. B. Noble et al. 2012). Je länger Kinder in einem anregungsarmen familiären Milieu aufwachsen, umso größer wird der Rückstand im Wachstum z. B. der Amygdala (vgl. ebd.). Die Forschungsergebnisse zum Zusammenhang von niedrigem Sozialstatus und neurologischer Entwicklung von Kindern hat die Neurowissenschaftlerin Martha J. Farah pointiert zusammengefasst: „Nirgends waren die Unterschiede [zwischen niedrigem und mittlerem sozialem Status; H. W.] dramatischer als im Bereich der kindlichen Entwicklung“ (Farah et al. o. J.). Kinder in hoch anregungsarmen Lebenswelten entwickeln also im Zusammenwirken sozialer (einschließlich psychischer) und biologischer Faktoren oftmals schon in ihrer frühesten Lebensgeschichte (die vorgeburtliche Zeit eingeschlossen) insbesondere neuronale Auffälligkeiten und sonstige biologisch fassbare Beeinträchtigungen, die - sozialrechtlich betrachtet - „[…] sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft [und damit in ihren Entwicklungs- und Lernprozessen; H. W.] mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“ (§ 2 (1) BTHG, Teil 1 - SGB IX). Die Lebens- und Entwicklungsbedingungen dieser Kinder setzen oftmals einen ‚Hemmungszirkel‘ interagierender und kumulierender sozialer (einschließlich psychischer) und biologischer Prozesse in Gang. Ihm ist mit einem rechtzeitigen, d. h. oftmals frühzeiti- 124 FI 3/ 2022 Hans Weiß gen, komplexen, interdisziplinär ausgerichteten und ICF-orientierten ‚Förderzirkel‘ im Sinne der Komplexleistung Frühförderung zu begegnen. 2.2 Aspekte einer frühzeitigen, interdisziplinär orientierten Frühförderung im Kontext der Frühen Hilfen Gerade im Blick auf Kinder mit (primär) umweltbedingten Entwicklungsrisiken und deren Familien und eine rechtzeitige Förderung und Hilfe für diesen Personenkreis ist eine intensive Zusammenarbeit der Interdisziplinären Frühförderung, die als autonomes System zum Netzwerk Frühe Hilfen gehört, mit den weiteren Elementen dieses Netzwerks wichtig. Neben Schwangerschafts(konflikt)beratungsstellen, Kinder- und Jugendärzt*innen, Sozialpädiatrischen Zentren, Sozialpädagogischen Familienzentren, Kitas oder ehrenamtlichen Personen ist hier vor allem an spezielle Akteure wie Familienhebammen sowie Familien-, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegende zu denken. Diese Fachpersonen stehen werdenden Eltern in erschwerten Schwangerschaftssituationen mit Rat und Tat zur Seite und unterstützen Eltern und Familien mit Kindern von 0 bis in der Regel 3 Jahren bei Bedarf in der Pflege und Erziehung. Solche in regelmäßigen Hausbesuchen mit Eltern zusammenarbeitenden Fachpersonen haben eine gute Chance, möglichst frühzeitig sich ausbildende ‚Hemmungszirkel‘ in der Entwicklung von Kindern zu erkennen und mit den Eltern weitergehende Hilfeangebote wie die Interdisziplinäre Frühförderung im Sinne eines ‚Förderzirkels‘ zu besprechen und in die Wege zu leiten. Frühförderstellen stehen somit mit diesen in einem engen sich ergänzenden Zusammenhang. Eine stärkere Vernetzung der Frühen Hilfen und Interdisziplinären Frühförderung im Sozialraum könnte - unter Beachtung eines weit gefassten Verständnisses des Kindeswohls, das den Schutz des Kindes wie auch die Förderung seiner Entwicklung und die Einlösung seiner (Teilhabe-)Rechte einschließt - synergetische Effekte aus den jeweiligen Stärken und Schwächen der beiden Systeme erzielen (Weiß und Sann 2013). Dies käme gerade Kindern mit umweltbedingten Entwicklungsrisiken und ihren Familien zugute. Speziell im Blick auf diese Kinder ist es wichtig, die Eltern im Sinne des „Parenting Model“ (Mahoney 2016) hinreichend einzubeziehen, d. h. die familiären Bezugspersonen für die Bedürfnisse eines Kindes zu sensibilisieren und ihre Resonanz zu stärken. Ziel ist es, in Kooperation mit der Familie und auf der Grundlage eines tragfähigen, vertrauensvollen Arbeitsbündnisses mitzuwirken, dass das Kind Schutz und Sicherheit erhält, verlässliche Beziehungen zu (erwachsenen) Bezugspersonen aufbauen kann, und die Eltern in einem möglichst anregenden Zusammenleben mit ihm zu unterstützen. Zu einer solchen Stärkung „entwicklungsförderliche[r] Beziehungen innerhalb der Familie“ (Sarimski 2017, 308) trägt bei, dass Fachpersonen selbst in responsiver Weise auf die Eltern eingehen (vgl. Sohns in diesem Heft). Nur dann kann es Eltern gelingen, ihre durch vielfältige materielle und psychosoziale Belastungen und damit oftmals verbundene soziale Erschöpfungszustände verschütteten intuitiven elterlichen Kompetenzen (wieder) zu entwickeln. Das enge Zusammenwirken von Frühen Hilfen und Interdisziplinärer Frühförderung kann dazu beitragen, möglichst frühzeitige Hilfen zu gewährleisten. Erinnert sei an die erwähnten neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zur Bedeutung der vorgeburtlichen Zeit für die Entwicklung eines Kindes. Auf ihrer Grundlage ist es gesellschaftlich und fachlich gefordert, alles zu tun, um die schwierige, hoch belastete Lebenssituation einer schwangeren Frau so gut wie möglich zu verbessern. Ob die damit ver- 125 FI 3/ 2022 Inklusion und Integration als zentrale Aufgaben einer Interdisziplinären Frühförderung bundenen Interventionen als Frühe Hilfen bezeichnet werden oder - vom werdenden Kind her gesehen - auch als ‚frühzeitigste‘ Form von Förderung (weil versucht wird, dessen Entwicklungsbedingungen im Mutterleib zu ‚fördern‘ bzw. positiv zu beeinflussen), ist zweitrangig. Wichtig ist, dass es geschieht - und da besteht noch ein gewaltiger Nachholbedarf. Um bei diesem fiktiven Beispiel zu bleiben: Gegebenenfalls muss beim Fortbestehen einer z. B. sozioökonomisch und psychosozial prekären Lebenssituation der Mutter bzw. der Eltern nach der Geburt des Kindes diese Form der Frühen Hilfen weiterlaufen, auch als eine über die Mutter/ Eltern vermittelte Form von Förderung. Zeichnet sich bei diesem Kind aufgrund seiner psychosozialen sowie somatischen Entwicklungsbedingungen ein expliziter Förderbedarf ab, dann ist auch Frühförderung im engeren Sinn als Komplexleistung angezeigt. Bei der Vermittlung zur Frühförderung könnte und müsste, wie bereits angedeutet, auch die Familienhebamme - oder welche Fachperson der Frühen Hilfen immer - aktiv sein. Dies setzt eine entsprechende Vernetzung der Systeme und ein fachliches Grundwissen des Personals der Frühen Hilfen für die Entwicklung von Kindern in den ersten Lebensjahren voraus. Gut aufeinander abgestimmt - was großer wechselseitiger Aufgeschlossenheit und intensiver Weiterentwicklungsarbeit bedarf - können die beiden, möglichst eng verzahnten Systeme Frühe Hilfen, speziell ihre Angebote durch aufsuchend arbeitende Akteure, und Interdisziplinäre Frühförderung wichtige präventionsbezogene Teile einer umfassenden Präventionsstruktur sein. Diese hat ihre institutionellen Orte vor allem im Gesundheitswesen (z. B. Kinder- und Jugendarztpraxen, Gemeindeschwester-Stationen), der Kinder- und Jugendhilfe (z. B. Hilfen zur Erziehung), in Krippen, Kindergärten und Schulstufen bis hin zur Berufs(aus)bildung. Zeitlich gesehen sind sie Glieder einer Präventionskette (Holz 2010). Kurzes Resümee zum Schluss Es bedarf vielfältiger Wege, das Inklusions- und Integrationspotenzial der Interdisziplinären Frühförderung einzulösen. Eine möglichst hohe Rechtzeitigkeit von Frühförderung und die Reduzierung sozialer Selektionseffekte durch rechtzeitige, gesetzlich verankerte interdisziplinäre Förderung und Hilfen für Kinder mit (primär) umweltbedingten Entwicklungsgefährdungen sind dafür wichtige Wege. Dabei sollte sich die Interdisziplinäre Frühförderung ihres spezifischen Erfahrungs- und Kompetenzprofils in der Arbeit mit sozial benachteiligten Kindern und Familien, die sie sich über die gesamten Jahrzehnte ihres Bestehens erworben hat, bewusst sein (oder ggf. auch wieder mehr bewusst werden) - und sie in ein kooperatives System der Frühen Hilfen einbringen. Hans Weiß Frauenbrünnlstr. 2 a 93077 Bad Abbach Anmerkungen 1 Auch im Wissen darum, dass die länderspezifisch geprägte vielfältige Landschaft der Frühförderung in Deutschland neben Interdisziplinären Frühförderstellen viele heilpädagogische Frühförderstellen umfasst, verwende ich in diesem Beitrag, orientiert an den administrativen Grundlagen, wie der Frühförderverordnung (vgl. § 3 FrühV ), hauptsächlich die Bezeichnung „Interdisziplinäre Frühförderstellen“. Damit möchte ich die hohe Bedeutung der Interdisziplinarität als grundlegendem Arbeitsprinzip und der Komplexleistung Früherkennung und Frühförderung zum Ausdruck bringen. 2 Eine im Februar 2022 durchgeführte telefonische Umfrage an einzelnen bayerischen Frühförderstellen erbrachte einen nur als vorsichtige Einschätzung zu verstehenden Wert von ebenfalls unter 5 %. 3 Allerdings gibt es inzwischen auch positive Ansätze, z. B. wird in dem Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie, Bd. 28 zu„Misshandlung und Vernachlässigung“ (Rassenhofer et al. 2016) die Frühförderung Im Rahmen des Netzwerkes Frühe Hilfen berücksichtigt. 126 FI 3/ 2022 Hans Weiß 4 Zur Reduzierung diskreditierender Assoziationen, die der Begriff ‚(drohende) Behinderung‘ auslösen könnte, böte sich die Umschreibung (Entwicklungs-) Risiken für die körperliche und funktionelle, geistige und seelische Entwicklung an. Literatur Arbeitsstelle Frühförderung Bayern (2010): Fragen zur Lage - Systemanalyse Interdisziplinäre Frühförderung in Bayern. FranzL 2010. Resultate, Teil I. München Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Gesundheit (BMFSFJ) (Hrsg.) (2002): Elfter Kinder- und Jugendbericht. Bonn Duncan, G. J., Brooks-Gunn, J. (1997): Consequences of growing up poor. Russel Sage Foundation, New York Farah, M. J., Noble, K. G., Hurt, H. (o. J.): Poverty, privilege, and brain development: empirical finding and ethical implications. 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Der Autor bündelt überblicksartig die wichtigsten Informationen zu Konzepten, Arbeitsprinzipien, methodischem Vorgehen und deren Effizienz. Er zeigt, wie die ICF als „gemeinsame Sprache“ von Frühförderung und frühen Hilfen dienen kann. Eigene Kapitel behandeln die Themen Teilhabe sowie Kinder psychisch kranker Eltern. Ein Grundlagenwerk für Fachkräfte und Studierende!
