eJournals Frühförderung interdisziplinär 41/3

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Originalarbeit: Das Konzept der Inklusiven Frühförderung

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2022
Armin Sohns
Gesellschaft verändert sich und mit ihr auch der Bedarf an sozialen Hilfeleistungen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten beiden Jahrzehnte belegen immer mehr, wie bedeutend die ersten Lebensmonate für ein Kind und seine weiteren Entwicklungschancen sind. Frühförderung ist ein Hilfesystem, das seit fünf Jahrzehnten Kinder und ihre Familien in ihrer Entwicklung möglichst früh unterstützt. Entsprechend verändert auch sie sich. Der Gesetzgeber hat den Veränderungen Rechnung getragen, indem er die Teilsysteme der Frühförderung als ein familienorientiertes Gesamtsystem definiert und im Rahmen einer „Komplexleistung“ interdisziplinäre Standards (SGB IX 2001) sowie einen offenen Zugang für alle verunsicherten Familien zu dieser Komplexleistung vorgibt (Bundesteilhabegesetz, BTHG 2016/2020). Zudem hat er bestimmt (Kinder- und Jugend-Stärkungsgesetz, KJSG 2021), dass mit einer Übergangszeit bis 2028 die pädagogische Frühförderung vollständig in den Zuständigkeitsbereich der Jugendhilfe wechselt. Es liegt nun an der Frühförderung, inwieweit sie diese neue Rolle annimmt und der Jugendhilfe wegweisende moderne Konzepte präsentiert. Das Konzept der „Inklusiven Frühförderung“ liefert hierfür ein mögliches Modell, das derzeit in der Praxis erprobt wird. Entsprechend können das Gesamtkonzept und erste Erfahrungen vorgestellt werden.
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Frühförderung interdisziplinär, 41.-Jg., S.-138 - 152 (2022) DOI 10.2378/ fi2022.art18d © Ernst Reinhardt Verlag 138 Das Konzept der Inklusiven Frühförderung Armin Sohns Einführung: Gesellschaft verändert sich und mit ihr auch der Bedarf an sozialen Hilfeleistungen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten beiden Jahrzehnte belegen immer mehr, wie bedeutend die ersten Lebensmonate für ein Kind und seine weiteren Entwicklungschancen sind. Frühförderung ist ein Hilfesystem, das seit fünf Jahrzehnten Kinder und ihre Familien in ihrer Entwicklung möglichst früh unterstützt. Entsprechend verändert auch sie sich. Der Gesetzgeber hat den Veränderungen Rechnung getragen, indem er die Teilsysteme der Frühförderung als ein familienorientiertes Gesamtsystem definiert und im Rahmen einer „Komplexleistung“ interdisziplinäre Standards (SGB IX 2001) sowie einen offenen Zugang für alle verunsicherten Familien zu dieser Komplexleistung vorgibt (Bundesteilhabegesetz, BTHG 2016/ 2020). Zudem hat er bestimmt (Kinder‐ und Jugend‐Stärkungsgesetz, KJSG 2021), dass mit einer Übergangszeit bis 2028 die pädagogische Frühförderung vollständig in den Zuständigkeitsbereich der Jugendhilfe wechselt. Es liegt nun an der Frühförderung, inwieweit sie diese neue Rolle annimmt und der Jugendhilfe wegweisende moderne Konzepte präsentiert. Das Konzept der „Inklusiven Frühförderung“ liefert hierfür ein mögliches Modell, das derzeit in der Praxis erprobt wird. Entsprechend können das Gesamtkonzept und erste Erfahrungen vorgestellt werden. Schlüsselwörter: Inklusive Frühförderung, familienorientiertes Gesamtsystem, Zuständigkeitsbereich Jugendhilfe, Modellkonzept The Concept of Inclusive Early Childhood Intervention Introduction: Society is changing and with it the need for social assistance. The scientific findings of the last two decades increasingly prove how important the first months of life are for a child and its further developmental chances. Early intervention is a system that has been supporting children and their families in their development as early as possible for five decades. It is changing accordingly. Legislators have taken the changes into account by defining the subsystems of early intervention as a family‐oriented overall system and by prescribing interdisciplinary standards within the framework of a „complex service“ (SGB IX 2001) as well as open access to this complex service for all families with sorrow for disabilities in their childs development (Bundesteilhabegesetz, BTHG 2016/ 2020). In addition, it has determined (Kinder‐ und Jugend‐Stärkungsgesetz, KJSG 2021) that with a transitional period until 2028, educational early intervention will change completely to the area of responsibility of Jugendhilfe (youth welfare system). It is now up to early intervention to what extent it accepts this new role and presents pioneering modern concepts to Jugendhilfe (youth welfare system). The concept of „inclusive early intervention“ provides a possible model for this, which is currently being tested in practice. Accordingly, the overall concept and initial experiences can be presented. Keywords: Inclusive early intervention, family‐oriented comprehensive system, responsibility of Jugendhilfe (youth welfare system) Model concept ORIGINALARBEIT W esentlich für die Namensgebung des Konzepts sind jahrzehntelange Erfahrungen (s. u.: Problemanalyse), wonach Kinder mit Entwicklungsrisiken vielfach „zu spät“ den Weg zur Frühförderung finden, weil hochschwellige Zugangssysteme, die an den Status einer (drohenden) Behinderung gekoppelt sind, abschreckende Wirkung haben. Während Integration den Anspruch beinhaltet, dass alle Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben und daher Menschen mit Behinderungen oder sonstigen Benachteiligungen 139 FI 3/ 2022 Das Konzept der Inklusiven Frühförderung Hilfen erhalten, geht Inklusion darüber hinaus (vgl. Weiß in diesem Heft). Sie beschreibt eine Haltung, bei der sich die hilfebedürftigen Menschen nicht mehr im Zuge einer (administrativen) Zuordnung stigmatisiert oder gar ausgesondert fühlen müssen. In einem inklusiven Setting gibt es vielfältige „diverse“ Hilfebedarfe bei Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten. Diese werden jedoch nicht mehr von einem Status „Behinderung“ und einer Kategorisierung als „behindertes Kind“ abhängig gemacht. Das Konzept der „Inklusiven Frühförderung“ kategorisiert die Kinder entsprechend nicht mehr in „leistungsberechtigt“ (behindert oder von Behinderung bedroht) und nicht leistungsberechtigt. Das Angebot der Komplexleistung Früherkennung und Frühförderung richtet sich nach dem subjektiven Bedarf der Eltern und geht damit bewusst über bestehende Rechtsansprüche hinaus. Wenn sich die Eltern bezüglich der Entwicklung ihrer Kinder unsicher sind, haben sie einen Anspruch darauf, von der Frühförderung aufgenommen, begleitet und beraten zu werden - so lange, bis die Unsicherheit aufgearbeitet und eine mögliche Entwicklungsgefährdung des Kindes ausgeschlossen ist. Entsprechend beinhaltet das Konzept gleichermaßen Hilfen für das Kind sowie für sein soziales Umfeld („soziale Kontextfaktoren“, vgl. Fricke/ Hollmann in diesem Band). Für die Verwaltungen bedeutet dies eine neue Denkweise. Für eine wirkungsvolle Hilfe und eine höhere Chancengleichheit, gerade für Kinder aus sozial benachteiligtem Milieu, ist die Früherkennung von besonderer Bedeutung (vgl. ebd.: „Die ersten 1000 Tage sind entscheidend“). Die wissenschaftliche Forschung der letzten Jahre zeigt mit hoher Dringlichkeit auf, wie nachhaltig zentrale Weichen für die weitere kindliche Entwicklung bereits im Säuglings‐ und Kleinkindalter gestellt werden. Dies betrifft neurobiologische Erkenntnisse ebenso wie zentrale Ergebnisse der Bindungs‐, Resilienz‐ und Responsivitätsforschung. Sicher gebundene Kinder entwickeln ein anderes Explorationsverhalten, das sich wiederum auf ihre weitere Gesamtentwicklung auswirkt. Unsichere, überforderte Eltern sind häufig weniger in der Lage, ein förderliches Milieu für das kindliche Explorationsverhalten zu schaffen (vgl. „Erschöpfte Eltern“, Beitrag von Weiß in diesem Band). Es stellt sich die Frage, ob die Frühförderung in ihren traditionellen Strukturen den veränderten Anforderungen ihrer Klientel noch entspricht und welchen Beitrag sie leisten kann, um vermehrt präventiv wirken zu können. Die Umsetzung einer Inklusiven Frühförderung trifft auf einen Widerspruch. Dieser liegt zwischen den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur frühkindlichen Entwicklung und der bisherigen praktischen Ausgestaltung der Frühförderung durch die Verwaltungen - v. a. der drei primär zuständigen Rehabilitationsträger Eingliederungshilfe, Jugendhilfe und Gesundheitswesen. Alle drei Bereiche registrieren seit Jahrzehnten innerhalb ihrer Systeme jeweils hohe Kostensteigerungen. Dies korrespondiert mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, die mit einer zunehmenden Individualisierung und dem Verblassen allgemeingültiger Erziehungsvorstellungen zu einer Überforderung eines Teils der Familien führen. Wesentliche Einflussfaktoren sind hierbei auch die strukturellen Unterschiede in der Gesellschaft im Kontext von Armut und Anregungs‐Verarmung (vgl. Weiß in diesem Band). Die Folge sind zunehmende Entwicklungsrisiken und Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendlichen, die sich auch im System der Frühförderung widerspiegeln. Gleichzeitig sind gerade hier die Interventionsmöglichkeiten besonders hoch. Bereits die materielle Verbesserung der Situation von Familien in prekären Lebenslagen wirkt sich positiv auf die hirnorganische Entwicklung von Kindern im ersten Lebensjahr aus (Deutsches 140 FI 3/ 2022 Armin Sohns Ärzteblatt, 9. 2. 2022). Inklusive Frühförderung erhebt den Anspruch, über den engen Rahmen einer funktionsorientierten Förderung „am Kind“ hinaus zu denken und nimmt das Gesamtsystem der Frühen Hilfen (NZFH 2012) in den Blick. Um dies in ein praxisorientiertes Konzept zu überführen, bedarf es zunächst einer kritischen Analyse der bestehenden Strukturen. Problemanalyse „Frühförderung findet zunehmend unter erschwerten Rahmenbedingungen statt“ (Fricke und Hollmann in diesem Heft). In der deutschen Frühförderung zeichnen sich fünf zentrale Faktoren ab, die eine gelingende Frühförderung beeinträchtigen: 1. Die Klientel der Frühförderung entspricht nicht dem Bild, das die zuständigen Rehabilitationsträger, aber auch Nachbarsysteme im Bereich der Kinder‐ und Jugendhilfe, häufig von ihr haben: Frühförderung sei Eingliederungshilfe und fördere v. a. Kinder mit Behinderungen (Thyen und Simon 2020, 198; vgl. Weiß in diesem Heft). Hingegen stehen im Mittelpunkt der Frühförderung in den meisten Bundesländern nicht (mehr) Kinder mit primären körperlichen und geistigen Entwicklungsstörungen, sondern Kinder mit allgemeinen Entwicklungsverzögerungen unklarer Genese (vgl. Sohns 2001, 15; Sohns et al. 2015, 226f) - häufig vor dem Hintergrund sozialer Benachteiligung. Unter Berücksichtigung des Ursprungs der Entwicklungsprobleme müsste de facto die Mehrzahl der Kinder in den Frühförderstellen inzwischen der Jugendhilfe zugeordnet werden. Auch das Gesundheitswesen ist von dieser Entwicklung elementar betroffen: Inzwischen ist wissenschaftlich belegt (Erhart et al. 2007, RKI 2021), dass sich die zunehmenden kindlichen Entwicklungsrisiken auch auf die gesundheitliche Entwicklung der Kinder auswirken (als „neue Morbidität“, Schlack et al. 2008, 245, Reinhardt und Petermann 2010, Brockmann et al. 2019) - mit einem starken Bezug zur sozialen Herkunft der Familie („sozialer Gradient“, Schlack 2006). Damit sind die überwiegend etablierten Finanzierungskonzepte für die Frühförderstellen (regelmäßige Behandlungseinheiten zur Förderung der Funktionsfähigkeit „am Kind“) zwar verwaltungstechnisch gut überschaubar, greifen jedoch fachlich in vielen Fällen zu kurz. Wissenschaftliche Untersuchungen (vor allem aus den USA) lassen an der Wirkung dieser therapeutischen Maßnahmen zweifeln, wenn sie nicht in ein responsives Angebot an das gesamte System Familie (und Kindertagesstätte) eingebunden sind (Mahoney 2016, 116, Sarimski 2017, 291). Das verhindern die meisten deutschen Rehabilitationsträger und halten stattdessen an systemspezifischen Parallelstrukturen fest, bei denen die Institutionen, die Kinder und Familien unterstützen, sich nicht auf ein gemeinsames Konzept verständigen. 2. Bedingt durch diese störungsorientierte Sichtweise erfolgen die Interventionen der interdisziplinären Frühförderung zum großen Teil symptomorientiert und zielen auf die Behebung festgestellter Funktionsdefizite, ohne dass deren Hintergründe in den Fokus rücken. Die lange Tradition mobiler familiennaher Hilfen der Frühförderung wurde in den letzten beiden Jahrzehnten vielerorts zugunsten isolierter therapeutischer Interventionen und durch z. T. massive Kürzungen der Dauer einer Fördereinheit („Fachleistungsstunde“) beschnitten. Wenn also Kinder eine verzögerte Sprachentwicklung zeigen, weil ihr Elternhaus mit einer kind‐ und altersgerechten Anregung der Kin- 141 FI 3/ 2022 Das Konzept der Inklusiven Frühförderung der im Alltag überfordert ist, steht i. d. R. nicht die Stärkung des Elternhauses im Vordergrund, sondern das Trainieren zur Linderung eines Symptoms. Dies lässt sich in vielen nach 2018 abgeschlossenen Landesrahmenvereinbarungen zur Frühförderung deutlich ablesen: Z. B. sind nun in Nordrhein‐Westfalen die direkten Leistungen der Frühförderung ausschließlich auf Leistungen „am Kind“ begrenzt, eine gemeinsame Reflexion von Problemen im Elternhaus darf nur an maximal vier Terminen pro Jahr erfolgen. Bei manchen Kindern wäre aber die wöchentliche Stärkung der Eltern im Umgang mit ihrem Kind wesentlich wirkungsvoller. Die Wirkung der Frühförderung bleibt somit dadurch begrenzt, dass sie sich in der Regel über zumeist wöchentliche Förderstunden finanzieren (muss), in denen die Kompetenz des Kindes spielerisch gefördert und den festgestellten Entwicklungsstörungen entgegengewirkt wird. Diese einmalige Spielstunde in der Woche bleibt jedoch meist wirkungslos, wenn sich für den Rest der Woche nichts in der Lebenswelt des Kindes ändert (White et al. 1992, Mahoney 2016). Anregungen („stimulations“) erfolgen im Elternhaus zwölfmal häufiger als durch pädagogische Förderungen oder Therapiemaßnahmen (Mahoney und MacDonald 2007). Entscheidend ist jedoch auch, wie die Förderung durch die Eltern erfolgt. Während bei einem Ko‐Therapeutenmodell (Primärmodell) bestenfalls eine sehr begrenzte Wirksamkeit festgestellt werden kann, ändert sich dies bei einer Stärkung der Responsitivität der Eltern (Mahoney 2016). Diese fachliche Ausrichtung wird jedoch in der Praxis zumeist unterbunden. Das „etablierte Primärmodell ist auch heute noch sehr dominant im Bereich der Frühförderung“ (ebd., 113). Obwohl der Gesetzgeber für die Leistungen zur Teilhabe ausdrücklich fordert, die „persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern“ (§ 4 Abs. 1 Pkt. 4 SGB IX), erklären sich die Träger der Eingliederungshilfe für eine gezielte Unterstützung der Familien vielfach als nicht zuständig. Diese starre Verengung der Arbeitsweise von Frühförderung verhindert vielerorts individuelle bedarfsorientierte familiäre Hilfen, die über regelmäßige Spielstunden für das Kind und die „Erläuterung“ des kindlichen Verhaltens hinausgehen. 3. Verstärkt wird diese Orientierung auf einzelne Behandlungseinheiten zur Refinanzierung der Einrichtung durch die „Ökonomisierung der Frühförderung“ (Sohns 2022) und damit einhergehende Konkurrenzstrukturen zwischen den Einrichtungen und ihren verschiedenen Trägern. Frühfördereinrichtungen (Frühförderstellen und Sozialpädiatrische Zentren) wurden zu konkurrierenden Wirtschaftsbetrieben, die nicht mehr im Auftrag der öffentlichen Hand, sondern als selbstständige Unternehmen ihre Existenz sichern müssen. Dies erschwert eine interinstitutionelle Kooperation innerhalb der Sozialräume. 4. Hingegen war es bei der Einführung des SGB IX (2001) noch wesentliches Ziel, die Leistungen der verschiedenen Rehabilitationsträger in ein gemeinsames System zusammenzuführen (vgl. Sohns 2010), für die Frühförderung wurde hierzu der Begriff „Komplexleistung Frühförderung“ eingeführt. Dies ist bislang weitgehend misslungen. Bei Verhandlungen zu entsprechenden Landesrahmenvereinbarungen wurde die Jugendhilfe zumeist gar nicht erst einbezogen, die kommunalen Spitzenverbände und die Vertreter der Krankenkassen zeigen sich primär um die Abgrenzung ihrer Zuständigkeiten und eine parallele Existenz der bisherigen Verfahrensweisen einschließlich der Heilmittelrichtlinien bemüht. Auch das Anliegen des Gesetzgebers, wonach sich die unterschiedlichen Hilfesysteme auf ein gemeinsames Förderkonzept verständigen und dies in einen gemein- 142 FI 3/ 2022 Armin Sohns samen Förder‐ und Behandlungsplan (FuB) überführen sollen (FrühV, seit 2003), führt nur partiell zu einem fachlichen Austausch der unterschiedlichen Disziplinen. Die Jugendhilfe grenzt sich i. d. R. von der Frühförderung als Teil der Behindertenhilfe inhaltlich ab, die Kinderärzte beschränken sich bei der Unterschrift unter den FuB zumeist auf den medizinischen Teil. Eine gemeinsame Abstimmung der Gesamtentwicklung und der Lebensbedingungen des Kindes, bei dem die unterschiedlichen Fachpersonen die Sichtweisen ihrer jeweiligen Disziplin abgleichen und erweitern können, erfolgt in der Regel nicht, weil es insbesondere für das medizinische Fachpersonal keine ausreichende Finanzierungsgrundlage gibt. Das Bedürfnis der Abgrenzung spiegelt sich auch in der Praxis einer überwiegend praktizierten 2‐Kreuze‐Regelung wider (Sohns 2010, Sarimski 2017), die alternativ zu einer Komplexleistung Frühförderung sogenannte „Solitärleistungen“ ohne einen interdisziplinären Rückhalt für die Frühförderer vorsieht. Hingegen definiert die Bundesvereinigung für interdisziplinäre Frühförderung (VIFF) Leistungen der Frühförderung immer als interdisziplinäre Komplexleistung (Sohns 2016). 5. Anders als im Gesundheitswesen mit seinen niedrigschwelligen Zugängen zu einer ärztlichen und therapeutischen Versorgung beinhaltet der Zugang zur pädagogischen Frühförderung meist hohe Hemmschwellen. Diese liegen in einer aufwendigen Antragstellung und behördlichen Überprüfung einer (drohenden) Behinderung. Das schreckt insbesondere Familien aus benachteiligtem sozialem Milieu ab (vgl. Weiß in diesem Heft). Auch viele vermittelnde Einrichtungen (vor allem Praxen für Kinderheilkunde und Kindertagesstätten) verzichten auf eine frühe Vermittlung zur Frühförderung, da sie die Eltern nicht mit der Zuschreibung „Behinderung“ konfrontieren wollen und bei vielen Kindern im sehr frühen Kindesalter nur eine geringe Wahrscheinlichkeit der Genehmigung nach einer Überprüfung durch das Gesundheitsamt sehen. Stattdessen wird die Verordnung medizinisch‐ therapeutischer Leistungen bevorzugt oder es wird abgewartet, bis sich die Risikofaktoren zu einer so manifesten Störung verdichtet haben, dass diese auch von den Gesundheitsämtern als solche akzeptiert wird. Die Folge ist eine späte Ersterfassung durch die Frühförderstellen (im Durchschnitt mit fast 4 Jahren, vgl. Sohns et al. 2015, 226). Dann sind Großteile der kindlichen (hirnorganischen) Entwicklung jedoch bereits abgeschlossen und wesentliche Weichen für den künftigen Lebensweg gestellt. Die aufgeführten Problemfelder haben keine generelle Gültigkeit, spiegeln jedoch noch immer die überwiegende Realität für die deutschen Frühförderstellen wider. Das Konzept der Inklusiven Frühförderung überwindet all diese kritischen Aspekte und setzt stattdessen systemübergreifende Akzente, die den modernen Anforderungen an Frühförderung Rechnung tragen sollen. Es überwindet auch die Schnittstellen zwischen den SGBs V, VIII, IX und XII und erprobt bislang nicht etablierte Parameter im Rahmen der Frühen Hilfen. Dabei sieht sich Frühförderung neben den Bereichen Jugendhilfe, Gesundheitswesen und Schwangerenberatung als eine der vier tragenden Säulen des Netzwerks Frühe Hilfen (vgl. Definition des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen, NZFH 2012), die ihre umfangreichen Rechtsgrundlagen und fachlichen Traditionen (v. a. Interdisziplinarität, Mobilität, Familienorientierung oder ICF‐Orientierung mit ihrem bio‐psycho‐sozialen Modell) einbringt, um das gesamte Netzwerk mit seinen Standards aufzuwerten und die umfangreichen Ressourcen innerhalb überschaubarer Sozialräume zum Nutzen der Kinder und Familien zu bündeln. Seine Etablierung als 143 FI 3/ 2022 Das Konzept der Inklusiven Frühförderung Modellprojekt liefert den Beleg, dass auch Rehabilitationsträger vor Ort ein Interesse daran haben (können), neue Konzepte mit der Frühförderung zu erproben. Leitlinien des Konzepts Inklusive Frühförderung Kernpunkt des Konzeptes Inklusive Frühförderung ist ein niedrigschwelliges, interdisziplinäres Gesamtsystem mit umfassenden systemorientierten Hilfen unter Einbeziehung der Kindertagesstätten, Familienzentren, Jugendhilfe sowie der (niedergelassenen) medizinischen Therapeut: innen und Ärzt: innen. Letztere können über eigene Finanzmittel in eine verbindliche Kooperation einbezogen werden. Ausgehend von der hohen Komplexität an Fragestellungen an die heutige Frühförderung (vgl. Fricke und Hollmann in diesem Heft) benötigen die Fachpersonen Freiräume, um in jedem Einzelfall einen notwendigen Hilfebedarf durch ein interdisziplinäres Diagnostikverfahren erkennen und bedarfsgerechte Hilfen anregen zu können, die auf die Ursachen des kindlichen Entwicklungsrisikos zielen, gerade weil diese überwiegend nicht (mehr) in organischen Störungen im Sinne einer körperlichen oder geistigen Behinderung liegen. Dabei geht es nicht darum, die Frühförderung zu einem System auszubauen, das sich selbst für alle Fragestellungen zuständig erklärt, sondern sie ist Teil eines sozialraumorientierten Gesamtnetzwerks. Allerdings tritt in dem Konzept ein präventiver Ansatz der Frühförderung zunehmend gegenüber einem kurativen in den Vordergrund. Die Angebote der Frühförderung erweitern sich somit: Die Frühförder: innen bleiben weiterhin Expert: innen für Kinder mit Behinderungen, gleichzeitig sind sie jedoch in der Lage, viel früher Risikofaktoren zu erkennen und gemeinsam mit einem Netzwerk Frühe Hilfen in überschaubaren Sozialräumen bedarfsgerechte Hilfen anzubieten. Orientierungspunkt ist das responsiv orientierte „Parenting‐Model“ (Mahoney 2016), das eine Sensibilisierung der zentralen Bezugspersonen des Kindes für die kindlichen Bedürfnisse und seine Signale in den Mittelpunkt stellt. Damit verändert sich auch die Arbeitsweise der Frühförderstelle: Im Mittelpunkt stehen nicht mehr die traditionell wöchentlich erfolgenden Frühfördereinheiten - stattdessen werden bedarfsgerechte Settings abgestimmt. Frühförderung übernimmt hierbei die Rolle einer Koordinierungsinstanz. Diese muss jedoch nicht zwingend durch die Frühförderung erfolgen: Im Kreis Ortenau übernehmen dies beispielsweise die Erziehungsberatungsstellen (Böttinger 2015), in Süd‐Thüringen das Sozialpädiatrische Zentrum in Suhl. Auch die Frühförderstellen erscheinen auf der Grundlage ihrer umfassenden Rechtsgrundlagen und der langjährigen Tradition einer interdisziplinären und familienorientierten Arbeitsweise mit einem hohen Anteil an mobiler Hausfrühförderung dazu geeignet, die verschiedenen Systeme innerhalb des Netzwerks Frühe Hilfen zusammenzuführen. Wesentlich für eine gelingende Früherkennung und Frühförderung ist das Vertrauensverhältnis der Eltern zu den Fachkräften als Bezugspersonen. Dies wird maßgeblich beeinflusst von der Verlässlichkeit bedarfsgerechter Termine. Entsprechend sind in dem Konzept längere Wartelisten inakzeptabel. Es gilt die Regel, dass nach Möglichkeit kein Termin beendet werden soll ohne eine Vereinbarung eines neuen Termins oder weiterer Schritte. Entsprechend müssen dem Personal ausreichende zeitliche Ressourcen zur Verfügung stehen. Arbeitsphasen einer Inklusiven Frühförderung Die Umsetzung des Konzeptes der Inklusiven Frühförderung differenziert sich in fünf Ebenen: 144 FI 3/ 2022 Armin Sohns 1. Der offene Zugang Das Konzept geht von der Annahme aus, dass der zunehmenden Zahl kindlicher Entwicklungsauffälligkeiten frühzeitig präventive Maßnahmen entgegenzusetzen sind. Entsprechend sind die Ansätze der Früherkennung und niedrigschwelligen Hilfeleistung zu verbessern. Der Gesetzgeber hat dem inklusiven Gedanken im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes (2016/ 2020) dadurch Rechnung getragen, dass ein „Offenes Beratungsangebot“ (OBA) bereits als Bestandteil der Komplexleistung definiert wird, die damit allen Eltern offensteht, „die ein Entwicklungsrisiko bei ihrem Kind vermuten“ (§ 6 a FrühV). Dies widerspricht der noch immer vielerorts praktizierten behördlichen Praxis, nach der zunächst eine (drohende) Behinderung als Zugang zur Komplexleistung Frühförderung und Grundlage für deren Finanzierung festzustellen sei. Die zentrale Rolle einer guten Früherkennung liegt bei den niedergelassenen Kinder‐ und Jugend‐ oder Hausärzt: innen (vgl. Fricke und Hollmann in diesem Heft), im späteren Verlauf auch bei den Kindertagesstätten. Sie können den Eltern nun vermitteln, dass die Frühförderung sich ohne administrative Vorleistungen ihrer Sorgen annimmt. Das senkt die Ressentiments gegenüber professionellen Hilfen erheblich. Grundsätzlich werden die Eltern dort abgeholt, wo sie es wünschen - das kann in der Frühförderstelle sein, in Form von Hausbesuchen oder an einem „neutralen Ort“ Kindertagesstätte oder Familienzentrum. Durch die enge Verbindung der Frühförderung mit allen anderen Institutionen im Sozialraum wird sich hier gegenseitig ergänzt. 2. Interdisziplinäre Diagnostik Während bundesweit die Rehabilitationsträger mit einer obligatorischen Überprüfung der drohenden Behinderung im Anschluss an das OBA häufig die positiven Effekte einer gelingenden Früherkennung wieder aufheben, verzichtet das Konzept der Inklusiven Frühförderung auch weiterhin auf jegliche Kategorisierungen durch Antragstellungen und Überprüfungsverfahren. Können die vermuteten Entwicklungsrisiken im Rahmen des offenen Beratungsangebotes nicht ausgeräumt werden, erfolgt eine interdisziplinäre Eingangsdiagnostik unter Federführung einer zentralen Bezugsperson der Frühförderstelle, die den Eltern als kontinuierliche Ansprechpartnerin zur Verfügung steht. Sie arbeitet die interdisziplinären Einzeldiagnostiken mit den Eltern auf, ergänzt sie und vermittelt die Erkenntnisse durch interdisziplinäre Absprachen. Die Kontinuität dieser Bezugspersonen ist wichtig zum Aufbau eines Vertrauensverhältnisses - gerade bei Familien, die öffentlichen Institutionen traditionell kritisch gegenüberstehen. Insofern sind den Eltern häufige Wechsel zwischen verschiedenen Diagnostik‐ und Begutachtungseinrichtungen zu ersparen oder sie entsprechend zu begleiten. Unnötige Doppeldiagnostiken, z. B. die amtsärztlichen Begutachtungen, entfallen. Im Mittelpunkt der Kooperationen steht vor allem die medizinisch-pädagogisch-psychologische Zusammenarbeit. Ausgehend von der besonderen Bedeutung der Kinder‐ und Jugendärzt: innen im Rahmen der Früherkennung (vgl. Fricke und Hollmann in diesem Heft) werden alle (HausärztInnen und) PädiaterInnen, die die Vorsorgeuntersuchungen durchgeführt haben, in die Diagnostikphase und die weiteren Absprachen einbezogen, sofern die Eltern einverstanden sind. Gleiches gilt für andere Einrichtungen wie Kindertagesstätten, Beratungsstellen, (niedergelassene) TherapeutInnen oder Einrichtungen der Jugendhilfe. Die Erfahrung zeigt, dass die Eltern diese Vermittlungsangebote meist dankbar annehmen, sofern eine einfühlsame Vertrauensbeziehung zu der Bezugsperson besteht. 145 FI 3/ 2022 Das Konzept der Inklusiven Frühförderung 3. Interdisziplinäre Erstellung eines Förder‐ und Behandlungsplans (FuB) Kommen die beteiligten Fachpersonen und die Eltern nach Abschluss der Diagnostikphase zu der Einschätzung, dass hier ein weiterer Hilfebedarf vorliegt, erfolgt eine fallbezogene Absprache im interdisziplinären Team, an dem neben den Eltern die externen Fachkräfte (Kinder‐ und JugendärztIinnen, niedergelassene TherapeutIinnen, Fachpersonen der Kindertagesstätte und der Frühen Hilfen), die Kind und Familie kennen, verbindlich beteiligt werden. Hier werden die Lebenssituation des Kindes und die eventuellen Hilfebedarfe für Kind, Familie und ggfs. weitere betreuende Einrichtungen (z. B. Kindertagesstätten) thematisiert und dokumentiert. An den Gesprächen nimmt auch ein/ e HilfeplanerIn des Landkreises teil. Die Dokumentation erfolgt mit einem zentralen Dokumentationsinstrument für alle involvierten Einrichtungen und Behörden. Somit entfallen für den Bereich der Frühförderung sämtliche Gesamtpläne für das Sozialamt, es wird kein extern vorgefasster Teilhabeplan eingekauft und eingesetzt, auch die Hilfepläne der Jugendhilfe und ein möglicher Bedarf an teilstationären Hilfen (Integration in Kindertagesstätten) gehen in einem gemeinsamen FuB/ Hilfeplan auf. Der FuB erhält am Ende vier Unterschriften: die gesetzlich vorgegebenen Unterschriften der pädagogischen Frühförder: in und der betreuenden Kinderärzt: in, die Unterschrift der Eltern und die Unterschrift der Hilfeplaner: in des Landkreises. Durch die ärztliche Unterschrift wird auch ein Bedarf an medizinischtherapeutischer Behandlung gegenüber den Krankenkassen rezeptiert, durch die Unterschrift der/ des Hilfeplaners: in erfolgt automatisch die Genehmigung des Landkreises für die pädagogisch-psychologischen Leistungen. Eine weitere behördliche Bearbeitung und Überprüfung durch das Sozial‐ oder Gesundheitsamt entfällt. Die Eltern haben zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, einen Antrag auf Behinderung ihres Kindes stellen zu müssen oder von behördlichen Entscheidungen abhängig zu sein. 4. Bedarfsgerechte Hilfen für Kind und Familie Die im interdisziplinären Team beschlossenen Hilfen umfassen alle Bedarfe der Familie, die sich positiv auf die Entwicklung des Kindes auswirken. Es kann eine wöchentliche spielerische Förderung des Kindes sein, möglicherweise wird sein Förderbedarf aber auch durch medizinische Therapien (z. B. Ergotherapie) ausreichend abgedeckt und die pädagogische Frühförderung konzentriert sich auf die weitere Begleitung der Eltern oder der Kindertagesstätte, ggfs. auch in Form einer Entwicklungspsychologischen Beratung (EPB) oder anderer Konzepte. Art und Umfang der jeweiligen Hilfen richten sich immer nach dem individuellen Bedarf. Dieser wird keineswegs ausschließlich durch die Frühförderstelle abgedeckt. Vielmehr beinhalten die Leistungen der Inklusiven Frühförderung alle Hilfen des einbezogenen Netzwerks. So kann eine Elternberatung eventuell auch besser durch vertraute Bezugspersonen der Erziehungsberatungsstelle oder sozialpädagogischen Familienhilfe erfolgen. Die Frühförderung bleibt dann in einer koordinierenden Funktion im Hintergrund und gewährleistet die Instrumente und Finanzierung weiterer interdisziplinärer Kooperationen der anderen Einrichtungen. 5. Präventive Angebote Zentral für das Konzept der Inklusiven Frühförderung ist es, administrative Zuschreibungen in Form einer (drohenden) Behinderung 146 FI 3/ 2022 Armin Sohns aufzuheben. Wirksame Frühförderung muss bestrebt sein, bereits im Vorfeld oder Frühstadium von Auffälligkeiten beim Kind oder Unsicherheiten der Eltern unterstützend im Sinne eines ressourcenorientierten Ansatzes im Gesamtsystem Familie zu wirken. Hierzu gibt es bislang keine allgemein anerkannte Finanzierungsgrundlage. Die Frühförderstellen in Nordfriesland, wo ein ähnliches Konzept bereits seit 15 Jahren erprobt wird (Sohns 2010, Thomsen 2016), leisten inzwischen etwa 50 % ihrer Gesamttätigkeiten als sogenannte „fallunspezifische Arbeit“ z. B. in Form von (Eltern)‐ Beratung in Kindertagesstätten, Psychomotorikgruppen in Gemeinden, ausgewählten Elternabenden, Gesprächskreisen oder dem Verleih von Spiel‐ und kindgerechten Lesematerialien. Die finanziellen Auswirkungen des Konzeptes im Landkreis Nordfriesland sind offensichtlich. Seit deren Einführung stagnieren die Kosten im Bereich der Jugendhilfe weitgehend, während in vergleichbaren Nachbarkreisen jährliche Steigerungsraten von 10 - 15 % bestehen blieben (Thomsen 2016). Der Landkreis führt diese Entwicklung auf die guten präventiven Angebote durch die Frühförderung zurück, die offenbar unmittelbare Auswirkungen auf die nachfolgenden Systeme haben. Auch das Konzept der Inklusiven Frühförderung beinhaltet in Absprache mit den Gemeinden und Institutionen vor Ort den Ausbau solcher präventiven Angebote. Die entsprechenden Konzepte sind dabei mit den beteiligten Kooperationspartnern vor Ort zu entwickeln. In Nordfriesland können die Frühförderstellen oft gar nicht mehr differenzieren, ob die Kinder nun „in der Frühförderung sind“ oder mit ihren Eltern lediglich bestimmte präventive Angebote wahrnehmen. Diese haben auch das Ziel, den Zugang zu weiteren Hilfen durch das unverbindliche Kennenlernen von Vertrauenspersonen der Frühförderung zu erleichtern. Praktische Umsetzung des Konzeptes im Rahmen eines Modellprojektes im Landkreis Göttingen Die Sozial‐ und Jugendhilfeausschüsse des Landkreises Göttingen haben einstimmig beschlossen, das Konzept der Inklusiven Frühförderung als Modellprojekt im Altkreis Osterode am Harz (ca. 75.000 Einwohner, 636 qkm) zu erproben. Hierzu wurden Gelder zur Verfügung gestellt, die von dem Projektteam der Hochschule Nordhausen verantwortet werden. Mit diesen Mitteln konnten alle Reformen für eine Inklusive Frühförderung eingeleitet werden. Der Landrat des Landkreises Göttingen spricht von einem „Leuchtturmprojekt mindestens im Land Niedersachsen“ (Riethig 2020). „Das Modellprojekt dient…der Erprobung bislang nicht etablierter Parameter bei der interdisziplinären Frühförderung als Bestandteil der Frühen Hilfen. Es ordnet sich bereichsübergreifend in die Bereiche Jugendhilfe, Eingliederungshilfe und Gesundheitswesen ein, überwindet die Schnittstellen zwischen SGB VIII, IX, XII und V und vereinigt die verschiedenen Leistungen der Frühen Hilfen unter Standards, die im SGB IX für die interdisziplinäre Frühförderung vorgesehen sind“ (Riethig und Sohns 2021, 360). Eine wissenschaftliche Begleitung des Projektes wird durch eine externe Forschungsgruppe an der Medical School Hamburg unter Leitung von Prof. Dr. Liane Simon durchgeführt. Insgesamt wurden fünf Arbeitskreise gebildet, die das Projekt auf unterschiedlichen Ebenen begleiten. Mit Beginn des Projektes wurde im gesamten Landkreis eine sozialraumorientierte Struktur eingeführt, die Modellregion wurde in zwei Sozialräume unterteilt. Parallel dazu wurden die Finanzierungsgrundlagen geändert. Aufgegriffen wurde das Motto des Kreises Nordfriesland, „Die Frühförderstelle soll ihr Geld nicht mehr an den Problemen der Kinder, sondern an deren 147 FI 3/ 2022 Das Konzept der Inklusiven Frühförderung Lösung verdienen“ (vgl. Sohns 2010, 277). Wesentliches Anliegen des Frühförderteams vor Beginn des Projektes war der Wunsch, von dem hohen Druck durch das obligatorische Erbringen sehr vieler Fördereinheiten befreit zu werden. Dem wurde dadurch Rechnung getragen, dass das gesamte Finanzierungssystem der Frühförderung ab 2021 auf ein jährliches Gesamtbudget umgestellt wurde. Die Zuwendungen für die Frühförderstelle wurden dabei parallel zu den Geldern des Modellprojektes wesentlich erhöht. Die Arbeitsweise der Fachpersonen wurde flexibilisiert und mit Ansätzen ausgebaut, die über das defizitäre Behandeln von Funktionsbeeinträchtigungen hinausgehen. Eine Abrechnung einzelner Fördereinheiten erfolgt nicht mehr. Dies wirkte sich sofort auf die Arbeitsweise der Frühförderstelle aus, die flexibler und bedarfsgerechter erfolgen kann. Nach der Abschaffung der Antragsverfahren und dem Ausbau der offenen Beratungsangebote der Frühförderung wurden mit allen kooperierenden Systemen (u. a. Familienzentren, Kindertagesstätten, Tagespflege, medizinische Therapeut: innen, ASD des Jugendamtes) separate Treffen vereinbart, in denen das Konzept vorgestellt und eine künftige gemeinsame Zusammenarbeit abgesprochen wurde. Dabei gab es ausschließlich positive Rückmeldungen. Von besonderer Bedeutung waren hierbei die niedergelassenen Kinder‐ und Jugendärzt: innen. Zwar war bereits zuvor ein Pädiater regelmäßig in die Fallbesprechungen der Frühförderstelle eingebunden, es gab jedoch keine Teilnahme der die Familie betreuenden niedergelassenen Kinder‐ und Jugendärzt: innen. Entsprechend zeigte sich hier am Anfang die größte Skepsis, sehr bald jedoch auch die größten Veränderungen. Mit dem Angebot eines angemessenen Honorars für die Beteiligung an den interdisziplinären Absprachen aus Mitteln des Modellprojektes werden die Kinderärzt: innen seitdem regelmäßig in die Fallbesprechungen einbezogen. Beide Seiten bezeichnen dies als großen fachlichen Gewinn. Auch mit den Familienzentren und Kindertagesstätten findet seit Beginn des Projektes eine umfangreiche Kooperation statt, die u. a. das Angebot von offenen Sprechstunden der Frühförderung vor Ort beinhaltet. Von den medizinischen Therapeut: innen wurde betont, wie sehr sie sich in ihrer Praxis auf dem Land als Einzelkämpfer: in fühlten und eine solche Kooperation sehr wünschten. Auch sie erhalten aus Projektmitteln für ihre Teilnahme an den interdisziplinären Absprachen ein eigenes Honorar. Wesentlich ist die Veränderung der Rolle des Sozialamtes. Bislang beschränkte sich diese auf eine Überprüfung der vorliegenden Antragsverfahren durch zuständige Sachbearbeiter. Dies entfällt ersatzlos. Dafür wird die inhaltliche Arbeit des Sozialamtes aufgewertet, in dem Hilfeplaner: innen des Amtes in die interdisziplinären Absprachen zur Feststellung des Bedarfs an weiteren Hilfen für Kind und Familie einbezogen werden und diese mit verantworten. In der Übergangszeit kam es in dem Amt zu Verunsicherungen, weil bspw. in dem neuen FuB vergeblich die Stelle gesucht wurde, an der die (drohende) Behinderung des Kindes anzukreuzen ist. Aus Verwaltungssicht ist zunächst nicht nachvollziehbar, wie eine solche gesetzliche Vorgabe für einen Rechtsanspruch plötzlich bedeutungslos werden kann, weil das fachlichpolitische Konzept des Landkreises freiwillig darüber hinausgeht. Auch das Gesundheitsamt verliert zunächst vermeintlich an Bedeutung, da es nicht mehr alle Kinder sieht und begutachtet. Einerseits wird hier Verwaltung reduziert, andererseits wird in dem Konzept jedoch die fachliche Arbeit des Gesundheitsamtes aufgewertet, da seine Mitarbeiter: innen in die Ausgestaltung der präventiven Angebote des Modellprojektes einbezogen und diese mit den parallel erfolgenden Angeboten im Zuge des Präventionsgesetzes verknüpft werden. 148 FI 3/ 2022 Armin Sohns Erste Auswirkungen des Konzeptes Das Konzept der Früherkennung greift. Vor Beginn des Projektes wurde durch den Landrat betont, es sollten statt der bisherigen 1,5 - 2,5 % der Kinder künftig 10 % der Kinder im Vorschulalter erfasst werden, eine frühere Intervention sei besser als „ein späterer Reparaturbetrieb des Staates“ (Riethig 2020). Dieses Anliegen wurde mit dem Modellprojekt zeitnah umgesetzt. Erfolgten in der Frühförderstelle in den Jahren vor der Einführung (bis 2019) jährlich etwa 60 - 70 Neuanmeldungen, stieg die Zahl bereits im ersten Jahr nach der Einführung einer inklusiven Frühförderung auf ca. 300. Es zeigt sich, wie groß die Zahl von „verunsicherten Eltern“ ist, und es liegt die These nahe, dass deren Hilfebedarf zuvor durch die hochschwelligen Antragsverfahren administrativ unterdrückt wurde. Die Vermittlungen erfolgen jetzt vor allem durch die niedergelassenen Kinder‐ und Jugendärzt: innen, die nun regelmäßig an den interdisziplinären Teamabsprachen teilnehmen. Damit werden die angemeldeten Kinder auch deutlich jünger. Zuvor wurde in der Frühförderstelle der Lebenshilfe Herzberg kein einziges Kind vor dem ersten Lebensjahr betreut. Jetzt machen diese Kinder einen Großteil der Neuanmeldungen aus. Damit wurde kurzfristig ein zentrales Anliegen des Modellprojektes erreicht. Es besteht nun die Möglichkeit, sehr früh mit den Familien in Kontakt zu kommen und Entwicklungsrisiken zu begegnen, bevor das Kind mit manifesten Entwicklungsstörungen auffällt. Notwendig wurde auch die Umstellung der Dokumentation von einer klassischen Aktenführung, in der infolge des hohen Zeit- und Kostendrucks nur eingeschränkt systematisch Daten erfasst wurden, auf ein digitales Dokumentationssystem. Dieses ist sowohl für eine kooperative Arbeit im gesamten Sozialraum als auch für die notwendige Transparenz gegenüber einem Leistungsträger, der auf jegliche Antragsverfahren verzichtet, unerlässlich. Insgesamt bringt die Einführung des Konzeptes eine gravierende Umstellung der Arbeitsweisen der Frühförder: innen mit sich. Stand zuvor die systematische Erbringung wöchentlicher Fördereinheiten „am Kind“ im Mittelpunkt der Arbeit, ändert sich mit der Einführung eines ICF- und umfeldorientierten Konzeptes ihre Rolle: Sie sind nun zentrale Bezugspersonen, die in Abstimmung mit den kooperierenden Fachkräften im Sozialraum die gesamte Lebenswelt des Kindes in den Fokus ihrer Hilfeangebote nehmen. Dies führt auch zur Notwendigkeit weiterer Qualifizierungen. Auch für die Behörden im Landkreis Göttingen bringt das Konzept gravierende Veränderungsprozesse. Im wissenschaftlichen Beirat des Projektes (18. 5. 2021) beschrieb der Leiter des Sozialamtes, wie sich durch das Projekt und die regelmäßigen Absprachen mit der Projektleitung ein regerer Austausch in den Ämtern und zwischen den Ämtern ergeben hat. Dabei haben sich alle Beteiligten in den Sozialräumen auf die Vorlage eines FuB der Bundesvereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung (VIFF 2021) als gemeinsames Dokumentationsinstrument geeinigt. Besonders bemerkenswert ist, dass sowohl die Leiterin des Jugendamtes als auch die Mitarbeiter: innen des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) die Vorlage des FuB ebenfalls im Rahmen der gemeinsamen Absprachen einsetzen wollen. Dies ist ein zweiter Erfolg des Modellprojektes: In den Sozialräumen entsteht eine Mentalität, mit der die verschiedenen Systeme sich auf gemeinsame Haltungen, Arbeitsweisen und Instrumente verständigen. Dies ist besonders interessant vor dem Hintergrund geäußerter Befürchtungen vor einer „Einvernahme der interdisziplinären Frühförderung durch das NZFH“ (Peterander 2021, 220). In der Tat beschreibt das NZFH (2012): „Angebote der Frühen Hilfen kommen aus verschiedenen Systemen, insbesondere aus dem Bereich der Kinder‐ und Jugendhilfe, dem Gesundheitswesen, der Frühförderung und der 149 FI 3/ 2022 Das Konzept der Inklusiven Frühförderung Schwangerschaftsberatung.“ Auch das Konzept der Inklusiven Frühförderung sieht diese ausdrücklich als Teil dieses Gesamtsystems Frühe Hilfen. Aber so wie Sozialpädiatrische Zentren neben den Interdisziplinären Frühförderstellen eine per Gesetz definierte Institutionsform der Interdisziplinären Frühförderung darstellen, ohne dabei ihre Identität zu verlieren, bettet sich auch die Frühförderung in das Netzwerk Frühen Hilfen ein, ohne seine fachlichen Ansprüche oder Autonomie aufzugeben. So wie SPZ über die Frühförderung hinaus auch für Kinder und Jugendliche im Schulalter zuständig sind, bleiben die Frühförderstellen auch für Kinder über drei Jahre zuständig. Jedoch zeigt das Modellprojekt auf, wie wichtig die in einer langen Tradition entstandenen fachlichen Errungenschaften der Frühförderung sind. Wenn der Förder‐ und Behandlungsplan der Frühförderung zum zentralen Instrument für alle Leistungsträger wird und alle anderen Gesamtpläne, Teilhabepläne und die Hilfepläne der Jugendhilfe ersetzt, scheint es keineswegs so zu sein, dass in einem gemeinsamen System die Jugendhilfe „dominiert“, sondern vielmehr Instrumente der Frühförderung dankbar annimmt und in ihr Konzept integriert. Gerade eine selbstbewusste Frühförderung ist eher geeignet, ihre fachlichen Ansprüche und Errungenschaften auch nach außen zu vermitteln. Es wirkt befremdlich, wenn in diesem Zusammenhang ausgeführt wird: „Ein ,Übergang‘ ins SGB VIII, auch wenn darüber gesetzlich erst 2028 entschieden werden soll, stellt für die Autonomie der IFF ein großes Problem dar“ (Peterander 2021, 221). Diese rechtliche Einschätzung ist unrichtig (vgl. Editorial/ Sohns 2022 a). Der Wechsel der Frühförderung von der Eingliederungshilfe zur Jugendhilfe ist bereits „verbindlich“ (BMFSFJ 2022) beschlossen worden. Ob der Übergang tatsächlich zum Problem oder zur Chance für eine moderne niedrigschwellige Frühförderung wird, lässt sich noch nicht abschließend überblicken. Entsprechend sammelt das Modellprojekt auch hier bereits Erfahrungen, wie eine starke Frühförderung ihre fachlichen Inhalte und Traditionen in Kooperation mit der Jugendhilfe einbringen kann. Ansätze sind in der praktischen Ausgestaltung bereits erkennbar: Die Angebote der Frühförderung verteilen sich dezentral über die gesamte Modellregion. Wesentlich hierbei sind mit den Familienzentren und Kindertagesstätten als offene Anlaufstellen Einrichtungen der Jugendhilfe, in deren Räumen viele Angebote der Frühförderung wohnortnah integriert werden. Die präventiven Angebote der „fallunspezifischen Frühförderung“ werden zunächst in sechs Fachbereiche unterteilt: Offene Treffs (z. B. Café Kinderwagen), spezifische Angebote für Kinder im ersten Lebensjahr und ihre Eltern, Schwerpunkt Migration, Sozial- BLOG mit Beratung im Internet, Yoga für Kinder und Psychomotorik. Ziel ist es, fließende Übergänge zu schaffen zwischen einer Stärkung und Anregung durch die offenen Angebote, die bei weiterem Bedarf in spezifische Angebote der Frühförderung überführt werden können. Nicht in die Umsetzung des Konzeptes einbezogen werden konnten bislang die Krankenkassen. Entsprechend ist der konzeptionelle Anspruch, wonach mit der ärztlichen Unterschrift unter einen gemeinsamen FuB automatisch die dort aufgeführten medizinisch‐therapeutischen Leistungen veranlasst werden (s. o.), bislang nicht umgesetzt. Die Ärzt: innen im Team müssen neben dem FuB jeweils zusätzlich ein Rezept für die Therapeut: innen ausstellen. Entgegen der gesetzlichen Vorgaben (§ 5 Abs. 1 FrühV) werden auch diese verordneten Leistungen im Rahmen einer Komplexleistung Frühförderung noch immer auf das ärztliche Budget angerechnet. Mit der inhaltlichen Ausweitung der Frühförderung und der verbesserten Früherkennung steigt der Bedarf an Fachpersonal, dem bislang nur eingeschränkt Rechnung getragen werden kann. Die Frühförderstelle der Lebenshilfe in Herzberg entsprach zuvor einem durchschnitt- 150 FI 3/ 2022 Armin Sohns lichen Standard der Frühförderung in Deutschland. Es ist klar, dass sich die Rahmenbedingungen der Frühförderstellen in Deutschland in ihren Standards erheblich unterscheiden. Dies gilt auch für die Qualifikation und Bezahlung. Während in der pädagogischen Frühförderung in Hessen und Baden-Württemberg ein Akademisierungsgrad der Fachpersonen von fast 100 % besteht, liegt er z. B. in Thüringen lediglich bei 26 % (Sohns et al. 2015, 235). Die Gehälter der pädagogischen Fachpersonen in den Frühförderstellen entsprechen hier zumeist denen des Personals in Kindertagesstätten. Dies trifft auch auf die Frühförderstelle in Herzberg (Niedersachsen) zu, die entsprechend kaum Fachpersonal mit abgeschlossenem Hochschulstudium einstellen konnte. Dies wird mit dem Modellprojekt geändert. Mit der fachlichen Aufwertung der Frühförderung und der gelingenden Früherkennung sowie der erstmaligen Umwandlung in eine „Interdisziplinäre Frühförderstelle“ (IFF) werden auch für alle derzeitigen und künftigen Fachpersonen die Gehälter deutlich angehoben. Damit verbunden ist eine systematische Weiterqualifizierung, auch durch Angebote der Projektgruppe an der Hochschule Nordhausen (u. a. mit dem dortigen berufsbegleitenden Masterstudiengang „Transdisziplinäre Frühförderung“ und dem Verbund mit der Lehrfrühförderstelle an der Hochschule). Nur so lässt sich dem gravierenden Fachkräftemangel gerade im ländlichen Bereich entgegentreten, der den schnellen Ausbau des Teams mit qualifiziertem Personal verzögert und entsprechende Wartelisten begünstigt. Weitere Perspektive Das Konzept der inklusiven Frühförderung erfährt insgesamt eine hohe Öffentlichkeit. So besuchte der niedersächsische Ministerpräsident die Frühförderstelle in Herzberg, um sich vor Ort über das Konzept zu informieren. Im Sommer 2022 ist eine Diskussion darüber im Sozialausschuss des niedersächsischen Landtages geplant. Der Landkreis Göttingen hat die Hoffnung, sich mit der Aufwertung von präventiven Angeboten im sehr frühen Kindesalter mögliche Folgekosten v. a. im Bereich der Jugendhilfe zu ersparen. Gleiches Interesse müssten auch die Schulämter und die Krankenkassen haben. Letztere haben eine Beteiligung an dem Projekt leider abgelehnt, da es mit seiner systemübergreifenden Ausrichtung nicht auf die spezifischen Förderrichtlinien im Rahmen des Präventionsgesetzes anwendbar sei. Der Landkreis Göttingen strebt hingegen eine möglichst baldige Erweiterung des Modellprojektes auf die anderen Kreisteile und die dortigen Frühförderstellen an. Auch andere deutsche Landkreise zeigen sich in jüngster Zeit an dem Konzept interessiert und haben es in ihren Ausschüssen beraten. Der niedersächsische Landkreistag begrüßt das Modellprojekt „ausdrücklich. Das Modellprojekt unterstützt in vorbildlicher Weise die Ausgestaltung der derzeit in Verhandlung befindlichen Landesrahmenvereinbarung zur Frühförderung und ist geeignet, die präventiven Ansätze der Frühförderung in einem vernetzten System wirkungsvoller früher Hilfen zu stärken. In Niedersachsen ist im niedersächsischen Landkreistag (NLT) kein örtlicher Träger der Eingliederungshilfe bekannt, der nach diesen Ansätzen die Rolle der Frühförderung definiert und danach arbeitet. Der NLT ist sehr an den Ergebnissen dieses Modellprojektes interessiert“ (NLT 2020). Mit dem Landrat des Landkreises Göttingen wurde zu Beginn des Projektes eine kritische Bestandsaufnahme gezogen: „Während sich die gängige Praxis durch eine Vielzahl parallel verlaufender Maßnahmen auszeichnet, sind nach wissenschaftlichen Erkenntnissen die Hilfen dann besonders wirkungsvoll, wenn weniger, aber sehr qualifizierte Fachkräfte als Bezugspersonen der Familien akzeptiert werden. Diese transdisziplinär arbeitenden Fachkräfte brauchen jedoch eine kontinuierliche interdisziplinäre fachliche Absicherung. Den kindlichen Entwicklungsrisiken kann nur durch 151 FI 3/ 2022 Das Konzept der Inklusiven Frühförderung ein umfassendes netzwerkorientiertes Konzept begegnet werden, bei dem eine ärztliche Früherkennung eng mit familienorientierten pädagogischen Hilfen verknüpft wird. Häufig unterbleibt diese gemeinsame Abstimmung“ (Riethig und Sohns 2021, 360). Wesentlich für ein langfristiges Gelingen des Konzeptes ist das Zusammenführen der Leistungen der unterschiedlichen Rehabilitationsträger in einen gemeinsamen Finanzierungstopf - so wie es das SGB IX bei seiner Verabschiedung ursprünglich angedacht hatte (vgl. Sohns 2010). In einem ersten Schritt wird eine Erweiterung des Budgets des Sozialamtes durch ein weiteres Budget der Jugendhilfe angestrebt. Ein Einbeziehen der Krankenkassen ist bisher noch nicht absehbar. Gemeinsam mit der begleitenden Projektgruppe werden Haltung und Arbeitsweise der Frühförderung systematisch neu aufgestellt. Dies spiegelt sich an praktischen Erfahrungen wider. Wird beispielsweise ein zweijähriges Kind von ärztlicher Seite an die Frühförderung vermittelt mit der Indikation einer notwendigen Sprachförderung, wird diese nicht mehr automatisch umgesetzt, sondern es werden auch die Auswirkungen solcher Interventionen auf das Gesamtsystem Familie bedacht. Dabei wird hinterfragt, ob die Gewährleistung neuer Therapieanforderungen an das Elternhaus nicht eine weitere Belastung und Überforderung darstellen kann. Stellt sich dabei z. B. heraus, dass die Kindertagesstätte das Kind als „nicht mehr tragbar“ bezeichnet und die zuvor ganztägige Betreuungszeit auf wenige Stunden gekürzt hat und alle älteren Geschwisterkinder in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe unterbracht wurden, stellt sich die Frage nach Bedeutung, Aufwand und Nutzen einer einmaligen Sprachförderung pro Woche. Durch das Instrument der Erstellung eines interdisziplinären Förder‐ und Behandlungsplans unter Einbeziehung aller Beteiligten (Eltern, Pädiater, Kita, sozialpädagogische Familienhilfe u. a.), der einen Hilfeplan der Jugendhilfe beinhaltet (s. o.), koordiniert die Frühförderung ein Gesamtkonzept zur Stärkung der gesamten Familie (z. B. mit dem Einsatz einer Entwicklungspsychologischen Beratung). Wenn es gelingt, mithilfe einer solchen familienorientierten und ganzheitlichen Frühförderung als Teil des Systems der Frühen Hilfen die Ressourcen der Familie so zu stärken, dass nur bei einem einzigen Kind ein Bruch in seiner Biografie und eine dauerhafte Fremdunterbringung vermieden werden kann, lässt sich aus den eingesparten Geldern das gesamte Modellprojekt über Jahre hinaus finanzieren. 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