Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Originalarbeit: Der Glukosetransporter (Glut1)-Defekt
101
2022
Anne Jurkutat
Regina Götz
Martina Barthold
Theresa Schölderle
Elisabeth Haas
Jörg Klepper
Der Glut1-Defekt ist eine genetisch bedingte Stoffwechselerkrankung, die erst in jüngster Zeit verstärkt in den Fokus der Forschung rückt. Goldstandard der Behandlung ist die Verabreichung einer speziellen ketogenen Diät mit variabler Wirkung auf unterschiedliche Symptombereiche der Erkrankung. Im Kontext pädagogischer, psychologischer und im Speziellen auch sprachlich-kommunikativer Förderung und Therapie erweist sich der Glut1-Defekt noch als weitestgehend unbekannt. Der vorliegende Artikel zielt darauf ab, die Relevanz des Störungsbildes für Fachkräfte in diesen Handlungsfeldern aufzuzeigen. Es erfolgt eine Vorstellung des klinischen Erscheinungsbildes der komplexen Erkrankung. Vorläufige Ergebnisse werden hinsichtlich der Sprach- und Sprechentwicklung bei betroffenen Kindern und Jugendlichen präsentiert. Dabei deutet die spezifische Symptomatik auf das Vorliegen von kindlichen Dysarthrien hin. Schlussfolgernd sollte den kommunikativen Beeinträchtigungen im Rahmen einer spezifischen Förderung von Anfang an mehr Bedeutung beigemessen werden, um eine bestmögliche gesellschaftliche Partizipation zu gewährleisten.
1_041_2022_004_0199
199 Frühförderung interdisziplinär, 41.-Jg., S.-199 - 211 (2022) DOI 10.2378/ fi2022.art23d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Der Glukosetransporter (Glut1)-Defekt Ein neues Syndrom als Herausforderung für die Sprach- und Sprechtherapie Anne Jurkutat, Regina Götz, Martina Barthold, Theresa Schölderle, Elisabet Haas, Jörg Klepper Zusammenfassung: Der Glut1-Defekt ist eine genetisch bedingte Stoffwechselerkrankung, die erst in jüngster Zeit verstärkt in den Fokus der Forschung rückt. Goldstandard der Behandlung ist die Verabreichung einer speziellen ketogenen Diät mit variabler Wirkung auf unterschiedliche Symptombereiche der Erkrankung. Im Kontext pädagogischer, psychologischer und im Speziellen auch sprachlich-kommunikativer Förderung und Therapie erweist sich der Glut1-Defekt noch als weitestgehend unbekannt. Der vorliegende Artikel zielt darauf ab, die Relevanz des Störungsbildes für Fachkräfte in diesen Handlungsfeldern aufzuzeigen. Es erfolgt eine Vorstellung des klinischen Erscheinungsbildes der komplexen Erkrankung. Vorläufige Ergebnisse werden hinsichtlich der Sprach- und Sprechentwicklung bei betroffenen Kindern und Jugendlichen präsentiert. Dabei deutet die spezifische Symptomatik auf das Vorliegen von kindlichen Dysarthrien hin. Schlussfolgernd sollte den kommunikativen Beeinträchtigungen im Rahmen einer spezifischen Förderung von Anfang an mehr Bedeutung beigemessen werden, um eine bestmögliche gesellschaftliche Partizipation zu gewährleisten. Schlüsselwörter: Glut1-Defekt, kindliche Dysarthrie, globale Entwicklungsstörung, ketogene Diät, Bogenhausener Dysarthrieskalen - Kindliche Dysarthrien“ (BoDyS-KiD) Glut1-deficiency syndrome (Glut1DS) A new syndrome as a challenge for speech and language therapy Summary: Glut1-deficiency syndrome (Glut1DS) is a genetically inherited metabolic disease which has only become the focus of increased research recently. The gold standard of treatment is the administration of a special ketogenic diet with variable effects on different symptom areas of the disease. In the context of educational, psychological and, in particular, linguisticcommunicative support and therapy, Glut1DS still proves to be largely unknown. The paper aims to show the relevance of the disorder to professionals in these fields. A presentation of the clinical appearance of the complex disease is given. Preliminary results are presented regarding communicative development in affected children and adolescents. Clinical symptoms indicate that the articulatory difficulties underlie childhood dysarthria. In conclusion, more importance should be attached to communicative impairments in the context of specific support from the very beginning in order to ensure the best possible participation in society. Keywords: Glut1-DS, childhood dysarthria, multiple disability, ketogenic diet, Bogenhausen Dysarthria Scales - Childhood Dysarthria (BoDyS-KiD) Einleitung D er Glut1-Defekt (engl. Glut1DS, Glucose Transporter Deficiency Syndrome) ist eine genetisch bedingte, seltene Stoffwechselerkrankung, die erstmalig 1991 beschrieben wurde (De Vivo et al. 1991). Bis 2014 konnten weltweit nahezu 300 Fälle diagnostiziert werden (Brockmann 2014), wobei sich die Diagnostik und Behandlung im Wesentlichen auf die USA und Westeuropa konzentrieren. Mit wachsenden Möglichkeiten in der molekularen Diagnostik zeigt sich seitdem ein stetiger Anstieg der Fallzahlen. Die tatsächliche Häufigkeit der 200 FI 4/ 2022 Anne Jurkutat, Regina Götz, Martina Barthold, Theresa Schölderle, Elisabet Haas, Jörg Klepper Störung ist in weiten Teilen Osteuropas, Südamerikas, Asiens und anderen Regionen der Welt jedoch noch völlig unbekannt und dementsprechend kaum erforscht. Auch hinsichtlich der klinischen Langzeitfolgen der Erkrankung, des Erscheinungsbildes im Erwachsenenalter sowie möglicher Einflussfaktoren auf den Krankheitsverlauf wurde bislang nur vereinzelt berichtet. Durch die stetige Zunahme der Fallzahlen und der damit verbundenen fortschreitenden Typisierung der Genvarianten bei Glut1-Defekt sowie der Erweiterung der Altersspanne bereits diagnostizierter PatientInnen konnten weitere Erkenntnisse über die Komplexität des Störungsbildes und den variablen Verlauf der Erkrankung gewonnen werden. Dies führte 2020 zu einem ersten internationalen Konsenspapier (Klepper et al. 2020). Ursachen und Diagnostik Klepper et al. (2020) fassen wesentliche Erkenntnisse zu Ursachen und Diagnostik des Glut1-Defekts zusammen: Für die energetische Versorgung benötigt das Gehirn Glukose als unverzichtbaren Stoffwechselbrennstoff. Der Transport von Glukose aus dem Blut über die Blut-Hirn-Schranke in das Gehirn wird durch ein Protein, den Glukosetransporter Type 1 (Glut1) ermöglicht. Ursache des Glut1-Defekts ist in den meisten Fällen eine autosomal-dominante Mutation im SLC2A1-Gen, die zu einer Störung dieses Transporters führt. Als Folge dieses Defekts kommt es zu einer energetischen Unterversorgung, einer cerebralen „Energiekrise“ im wachsenden Gehirn. Leitbefund ist daher eine isoliert erniedrigte Glukosekonzentration im Nervenwasser (Liquor) bei normalem Blutglukosewert, die sogenannte Hypoglykorrhachie. Weitere klinische Kennzeichen der Erkrankung sind altersspezifische charakteristische EEG-Befunde und niedrige Laktatwerte. Darüber hinaus zeigen bildgebende diagnostische Verfahren Auffälligkeiten in verschiedenen Hirnregionen. Die genetische Analyse identifiziert bei einem Großteil der Betroffenen, jedoch nicht bei allen PatientInnen, pathogenetische Varianten in SLC2A1. SLC2A1-negative PatientInnen werden auf Basis der oben genannten klinischen Eigenschaften und anhand ergänzender laboratorischer Analysen diagnostiziert. Ein gutes Ansprechen auf eine spezifische diätische Behandlung untermauert den Befund. Klinisches Bild Der Glut1-Defekt ist eine epileptische Enzephalopathie, deren phänotypische Ausprägung sich bereits im Säuglingsalter und in einer sehr breiten Varianz manifestiert (Brockmann 2014). Die Symptomatik divergiert im Spannungsfeld zwischen einer komplexen Bewegungs- und Sprechstörung, einer Epilepsie und einer globalen psychomotorischen Entwicklungsverzögerung (Klepper 2004). Bei der Mehrzahl der PatientInnen liegt der klassische Phänotyp der Erkrankung vor, der stets alle diese drei genannten Bereiche umfasst, wie Abbildung 1 veranschaulicht. Atypische Varianten sind beschrieben (Klepper et al. 2020). Bei einem Teil der PatientInnen dominiert die motorische Komponente in Form einer Bewegungsstörung mit Dyskinesien das klinische Bild (Pearson et al. 2013). Zu beobachten sind innerhalb des phänotypischen Spektrums auch PatientInnen mit Glut1-Defekt, die eine reine Bewegungsstörung ohne zerebrale Anfälle aufweisen (Brockmann 2014). Auch der Schweregrad der Entwicklungsverzögerung variiert stark und reicht, proportional zum Gesamtschweregrad der Erkrankung, von leichter bis hin zu schwerer kognitiver Beeinträchtigung bei gleichzeitig kaum beeinträchtigter sozial-interaktiver Kompetenz, die als Stärke der Kinder gewertet werden kann (Klepper 2004, Pearson et al. 2013, Klepper et al. 2020). 201 FI 4/ 2022 Der Glukosetransporter (Glut1)-Defekt Symptomatik im Entwicklungsverlauf Die Symptomatik des Glut1-Defekts ist von einem altersspezifischen Verlauf gekennzeichnet. Als erstes Anzeichen zeigt sich eine Häufung von pharmakoresistenten zerebralen Krampfanfällen bereits innerhalb der ersten acht Lebensmonate der Kinder, die sich durch Glukosezufuhr bessern. Dabei können alle Anfallstypen beobachtet werden, wobei generalisierte Anfälle häufiger auftreten als fokale (Klepper et al. 2020). Im Säuglingsalter dominieren atypische Anfallsmuster mit Bewusstseinseinschränkungen, Myoklonien und Episoden mit abruptem Tonusverlust, die oft von Nickanfällen und Augenverdrehen oder Zyanose begleitet werden. Als weitere Initialsymptomatik der Erkrankung manifestiert sich zunehmend eine globale Entwicklungsstörung mit verringertem Kopfwachstum, gefolgt von komplexen generellen Bewegungsstörungen (Klepper et al. 2020). Dabei variieren Art und Schweregrad der pathologischen Bewegungsmuster individuell erheblich. Die Bewegungsstörungen können anhaltend oder anfallsartig auftreten und verschlechtern sich u. a. durch Fasten, Bewegung, emotionalen Stress, Fieber und Müdigkeit. Der klassische Phänotyp in Bezug auf die motorische Störungskomponente ist durch spastische Tonuserhöhung, Ataxie und Dystonie mit daraus resultierenden Gangstörungen charakterisiert (Brockmann 2014, Klepper et al. 2020). Darüber hinaus sind Chorea, Tremor, Dyspraxie und Myoklonus zu beobachten, die auch die Muskulatur im Gesichtsbereich umfassen können (Pearson et al. 2013, Klepper et al. 2020). Betroffene Kinder erreichen die motorischen Meilensteine verzögert, erlernen jedoch im Entwicklungsverlauf immer freies Stehen und Laufen. In der Zeit des Kindes- und Jugendalters sind vor allem myoklonische Anfälle und Grand Mal zu beobachten. Im Erwachsenenalter ist der Anfallstyp variabel und kann, bedingt durch den bislang rudimentären Kenntnisstand über das Störungsbild, noch nicht eindeutig bestimmt werden (Klepper 2004). Klassischer Phänotyp Entwicklungs- Enzephalopathie Kognitive Beeinträchtigung/ Verhaltensstörung Bewegungsstörung Epilepsie Spastik Ataxie Dystonie Chorea kognitive Störungen Störungen des adaptiven Verhaltens Aufmerksamkeitsstörungen Krampfanfälle im Kindesalter Absenz-Anfälle Abb. 1: Neurologische Symptome bei Glut1-Defekt (nach Pearson et al. 2013) 202 FI 4/ 2022 Anne Jurkutat, Regina Götz, Martina Barthold, Theresa Schölderle, Elisabet Haas, Jörg Klepper Die klinischen Erscheinungsformen werden beeinflusst vom Alter der PatientInnen, der Pathologie der SLC2A1-Gen-Varianten und der frühzeitigen Anwendung neuartiger Behandlungsverfahren (Klepper et al. 2020). In einer Längsschnittstudie von Alter et al. (2015) konnte gezeigt werden, dass das altersspezifische Störungsprofil bei Glut1-Defekt durch eine Dominanz der Epilepsie im frühen Kindesalter mit stetiger Verbesserung im Entwicklungsverlauf gekennzeichnet ist. Im Gegensatz dazu kann eine kontinuierliche Zunahme der Bewegungsstörungen im Entwicklungsverlauf festgestellt werden. Im Jugend- und frühen Erwachsenenalter bilden diese das dominierende Symptom des Störungsbildes (siehe Abb. 2). Forschungsstand: Sprach- und Sprechentwicklung bei Kindern und Jugendlichen mit Glut1-Defekt Die sprach- und sprechmotorischen Fähigkeiten von PatientInnen mit Glut1-Defekt wurden bislang nahezu ausschließlich im Zusammenhang mit neuropsychologischen Tests zur Erhebung kognitiver Funktionen untersucht (z. B. Pascual et al. 2007, Ramm-Pettersen et al. 2014, Alter et al. 2015, De Giorgis et al. 2019, Kolic et al. 2021). Kognitive nonverbale und verbale Fähigkeiten zeigen sich im zeitlichen Verlauf bei Glut1-PatientInnen in der Regel konstant und proportional zueinander (Alter et al. 2015, De Giorgis et al. 2019). Eine differenzierte, psycholinguistisch begründete Ableitung sprachlicher Entwicklungsabweichungen sowie sprechmotorischer Einschränkungen ist jedoch allein auf der Grundlage einer umfassenden Intelligenzdiagnostik nicht möglich. Die Analyse verschiedener Indizes im Rahmen von Intelligenzmessungen lässt aufgrund der Leistungsdiskrepanzen zwischen verbal und nonverbal erhobenen Teilleistungen Rückschlüsse auf Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen kognitiven Komponenten zu. Für eine systematische Untersuchung der sprachlichen Kompetenzen und/ oder sprechmotorischen Fähigkeiten ist die Durchführung valider Sprachbzw. Artikulationstests unabdingbar. Nach derzeitigem Forschungsstand existiert bislang eine Studie, die darauf abzielt, störungsspezifische Sprach- und Sprechentwicklungsprofile bei acht Kindern mit Glut1-Defekt 100 80 60 40 20 0 Percent of Patients Experiencing Symptom Developmental Delay Seizure Frequency ≥1 / Woche ➞ Ataxia ➞ Dystonia ➞ Microcephaly ➞ ➞ Neonatal Infancy Early Late Adolescence Early Childhood Childhood Adulthood Abb. 2: Symptome im Entwicklungsverlauf (Alter et al. 2015, 165) 203 FI 4/ 2022 Der Glukosetransporter (Glut1)-Defekt zu identifizieren (Zanaboni et al. 2021). Weitere fragmentarische Angaben hinsichtlich sprachlicher und sprechmotorischer Auffälligkeiten sind einigen wenigen Einzelfallberichten zu entnehmen, die sich im Wesentlichen auf informelle Beobachtungen stützen: De Vivo et al. untersuchten und beschrieben 1991 erstmals zwei Patienten mit Glukosetransporter-Defekt, Pascual et al. (2007) veröffentlichten eine Falldarstellung, Alter et al. (2015) stellten zwei Probanden aus einer Stichprobe von N Ges = 13 genauer vor und Wood et al. (2020) präsentierten einen ausführlicheren Fallbericht. Mit Verweis auf die wenig aussagekräftige Datenlage lassen sich lediglich erste vorsichtige Hinweise auf die Komplexität der störungsspezifischen sprachlichen und sprechmotorischen Symptomatik ableiten. Generell ist die Ausprägung der sprach- und sprechmotorischen Funktionen, vergleichbar mit der Heterogenität der kognitiven Leistungsprofile (Klepper et al. 2020), extrem variabel (Pearson et al. 2013, Wang et al. 2018, Zanaboni et al. 2021). Laut Pearson et al. (2013) umfasst das Spektrum nahezu normgerechte Leistungen bis hin zu vollständig ausbleibenden produktiven verbalen Äußerungen. Rezeptive und expressive sprachsystematische Entwicklungsabweichungen unterschiedlichen Schwergrades sind bei nahezu allen PatientInnen mit Glut1-Defekt feststellbar, wobei Sprachproduktionsleistungen in der Regel stärker betroffen sind als das Sprachverständnis (Pearson et al. 2013, Wang et al. 2018, Wood et al. 2020). Übereinstimmend berichten Pearson et al. (2013), Alter et al. (2015), Hully et al. (2015) und De Giorgis et al. (2019) generell von sprachlichen Entwicklungsverzögerungen. Zanaboni et al. (2021) konkretisieren die zeitlichen Erwerbsabweichungen: Frühe Meilensteine, wie der Einstieg in die Lallphasen, erste expressive Wörter und Wortkombinationen erreichte die Mehrheit der untersuchten ProbandInnen verspätet. Die von Alter et al. (2015) vorgestellte Probandin (Patientin 2) zeigte mit 36 Monaten erste Wortproduktionen und erst ab dem 5. Lebensjahr vollständige Satzkonstruktionen. Sowohl die Einzelfallbeobachtungen De Vivos et al. (1991) und Alters et al. (2015) als auch die Ergebnisse der Untersuchung Zanabonis et al. (2021) bestätigen die enorme Spannbreite der sprachlichen Leistungen, ohne dass, bedingt durch die geringe Gesamtfallzahl, eine Zuordnung zu charakteristischen Symptommustern erkennbar ist. Bei einem Teil der PatientInnen fanden sich Defizite der Ausspracheentwicklung mit phonologischen Prozessen verschiedenster Ausprägung sowie unterschiedlichem Schweregrad. Dabei entwickelte sich das phonemische Inventar stets im Einklang mit dem allgemeinen sprachlichen Entwicklungsstand. Auf asynchrone Erwerbsverläufe deuten die Leistungsdiskrepanzen zwischen rezeptiver und produktiver Modalität sowohl im morphologisch-syntaktischen als auch semantisch-lexikalischen Bereich hin. Die Mehrzahl der ProbandInnen (6/ 8) erzielte insgesamt normgerechte Werte, vor allem die rezeptive Dimension erwies sich als leistungsstark mit lediglich leichten Beeinträchtigungen bei zwei PatientInnen (M = 89.63, SD = 13.42, Range = 75 - 113), im Gegensatz zur expressiven Wortschatzkompetenz mit einer breiteren Streuung (M = -.91, SD = 2.01, Range = -5,45 - 0,77) und insgesamt schwächeren Leistungen. Auch Wood et al. (2020) berichten über die stärkere Betroffenheit der expressiven Modalität. Das Sprachverständnis der untersuchten Patientin entwickelte sich normgerecht, bei gleichzeitigem Vorliegen von Wortfindungsstörungen. Wood et al. (2020) vermuten, dass sich sprechmotorische Einschränkungen negativ auf die expressiven sprachlichen Kompetenzen auswirken. Grammatische Kompetenzen waren bei der Mehrzahl der von Zanaboni et al. (2021) untersuchten Kinder und Jugendlichen beeinträchtigt. Sowohl in der rezeptiven als auch in der expressiven Modalität zeigte sich eine enorme Spannbreite der Leistungen (rezeptiv: Range = 1 - 8/ expressiv: Range = 1 - 12). Die rudimentären Angaben zu morphologisch-syntaktischen Fähigkeiten der Einzelfälle leisten keinen substanziellen Beitrag für differenziertere 204 FI 4/ 2022 Anne Jurkutat, Regina Götz, Martina Barthold, Theresa Schölderle, Elisabet Haas, Jörg Klepper Aussagen diesbezüglich: stark vereinfachte Satzkonstruktionen (Pascual et al. 2007, 511) finden im Zusammenhang mit einem Fall Erwähnung; De Vivo et al. (1991, 703) sprechen von gelegentlichen Zweiwortphrasen bei Patient 2. Konsens herrscht hinsichtlich des Vorliegens sprechmotorischer Einschränkungen in Form einer Dysarthrie unterschiedlichen Ausprägungs- und Schweregrades bei allen PatientInnen mit klassischem Glut1-Defekt (Gras et al. 2014, Klepper et al. 2020). Systematische Untersuchungen der dysarthrischen Symptomatik sind bislang nicht verfügbar. Weder lässt sich den Veröffentlichungen entnehmen, welche diagnostischen Verfahren der Diagnose „Dysarthrie“ zugrunde liegen, noch finden sich genauere Beschreibungen der Glut1-spezifischen Symptomatik oder nähere Angaben zu Dysarthrieformen. Vereinzelt werden dysarthrische Symptome anhand informeller Beobachtung während der klinischen und/ oder neuropsychologischen Untersuchungssituation aufgeführt (z. B. Gras et al. 2014, Wood et al. 2020). Gras et al. (2014, 94, „persönliche Beobachtung“) erwähnen die Form der gemischten Dysarthrie mit spastischen, ataktischen und hyperkinetischen Anteilen. Aufschlussreich zur Bewertung des Forschungsstandes im Hinblick auf die Dysarthrie bei Glut1-Defekt ist die Studie Zanabonis et al. (2021, 3f): Zum einen geht aus der Zusammenfassung retrospektiv erhobener klinischer Daten bezüglich der sprechmotorischen Fähigkeiten der teilnehmenden ProbandInnen hervor, dass Einschränkungen der Sprechmotorik ein dominierendes Symptom im Kindes- und Jugendalter darstellen. Zum anderen spiegelt die uneinheitliche Terminologie zur Beschreibung der artikulatorischen Auffälligkeiten (u. a. Dysarthrie, eingeschränkte Verständlichkeit, Sprechstörung) die bislang unzureichende Systematisierung dieses Bereiches wider. Die Ergebnisse der Untersuchung Zanabonis et al. (2021) bestätigen das Vorliegen spezifischer sprechmotorischer Defizite im Sinne einer Dysarthrie dahingehend, dass nahezu alle ProbandInnen Einschränkungen des phonetischen Inventars, Auffälligkeiten der Resonanz, eine Absenkung der mittleren Sprechstimmlage sowie prosodische Abweichungen in Form atypischer Betonungsmuster (z. B. Betonung unbetonter Silben) bei einer insgesamt verlangsamten Sprechgeschwindigkeit aufwiesen. Auf nonverbaler Ebene wurden Defizite bei der Überprüfung diadochokinetischer Fähigkeiten sowie orofazialer Bewegungsmuster festgestellt. In Übereinstimmung mit Zanaboni et al. (2021) führen Pascual et al. (2007) und Pearson et al. (2013) als Ursache der herabgesetzten Verständlichkeit ihrer StudienteilnehmerInnen folgende Beobachtungen an: Stockender Redefluss, abweichende Pausensetzung, phonetische Fehler, herabgesetzte Silbenkomplexität am Wortende (z. B. „tootbwu“ für „toothbrush“, Pascual et al. 2007, 511) sowie prosodische Auffälligkeiten (monotone Betonungsmuster). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in den Forschungsarbeiten neben Hinweisen auf Entwicklungsstörungen der Sprache übereinstimmend eine sprechmotorische Symptomatik mit variabler bzw. unklarer Störungsausprägung erfasst werden konnte. Die beschriebenen Leistungsdiskrepanzen zwischen rezeptiven und expressiven sprachlichen Fähigkeiten sind dabei möglicherweise auf die artikulatorischen Defizite zurückzuführen, was eine nähere Charakterisierung und Systematisierung der dysarthrischen Symptome unabdingbar macht. Exkurs: Kindliche Dysarthrien Dysarthrien sind neurologisch bedingte Störungen des Sprechens, bei der die Ausführung von Sprechbewegungen beeinträchtigt ist. Dabei können alle am Sprechvorgang beteiligten Gruppen der Atem-, Kehlkopf- und Artikulationsmuskulatur betroffen sein. Die Störung führt demnach zur Beeinträchtigung motorischer Funktionen der Sprechatmung, der Sprechstimme und der Artikulation sowie zu Auffälligkeiten der Resonanz (Ziegler und Vogel 2010). 205 FI 4/ 2022 Der Glukosetransporter (Glut1)-Defekt Durch das Zusammenwirken von Atmung, Stimme und Artikulation entstehen typische prosodische Muster des Sprechens, also sprachrhythmische und -melodische Eigenschaften. Für die Erzeugung der dynamischen Veränderungen von Lautstärke, Tonhöhe und Artikulationstempo, durch die auch die emotionale Färbung des Sprechens ermöglicht wird, ist ein koordiniertes Zusammenspiel aller beteiligten Muskeln erforderlich. Symptome beeinträchtigter Sprechmechanismen können beispielsweise eine veränderte Stimmqualität, eine unpräzise Aussprache oder eine monotone Sprechmelodie sein, wodurch die Verständlichkeit und Natürlichkeit des Sprechens deutlich vermindert wird (Ziegler und Vogel 2010). Dysarthrien bei Erwachsenen werden per definitionem erst nach Abschluss der sprechmotorischen Entwicklung erworben. Bei Dysarthrien im Kindesalter liegt der Zeitpunkt der verursachenden neurologischen Erkrankung hingegen vor Abschluss der Entwicklung sprechmotorischer Funktionen. Sie sind daher von Dysarthrien im Erwachsenenalter abzugrenzen. Die häufigste Grunderkrankung, die meist zu kindlichen Dysarthrien führt, ist die infantile Cerebralparese [ICP]. Daneben können auch verschiedene genetische Syndrome verursachend sein, seltener auch im Laufe der Kindheit erworbene Hirnschädigungen (Murdoch 2011). Die kindliche Dysarthrie ist ein bislang „wenig erforschtes Störungsbild“ (Schölderle et al. 2018, 16), das durch die Forschungsaktivität der Expertengruppe um Ziegler, Schölderle und Haas des Instituts für Phonetik und Sprachverarbeitung der LMU München erst in jüngster Zeit stärker in den Fokus des sprachtherapeutischen Blickfeldes rückt, obwohl in Deutschland Schätzungen zufolge mehr als 50.000 Kinder und Jugendliche von der Störung betroffen sind. Bei der Mehrheit der Kinder bleibt eine Dysarthrie ein Leben lang bestehen. Die beim Sprechen erforderlichen komplexen Bewegungsvorgänge werden, wie alle willkürlichen motorischen Funktionen, über die Lebensspanne hinweg entwickelt, präzisiert und koordiniert. Die vollständige Ausreifung der Bewegungsmuster des Sprechens ist in der physiologischen Entwicklung erst im Jugendalter abgeschlossen (Schölderle et al. 2020 a). Dementsprechend kann sich auch eine Sprechstörung im Verlauf erst vollständig ausbilden. Aufgrund der daraus resultierenden dauerhaften kommunikativen und psychosozialen Auswirkungen sind betroffene Kinder in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe massiv eingeschränkt (Dickinson et al. 2007, Fauconnier et al. 2009). Nur wenige Studien beschreiben das klinische Bild der Dysarthrie bei Kindern (Haas et al. 2021). In der Regel handelt es sich dabei um kindliche Dysarthrien im Rahmen einer ICP (z. B. Schölderle et al. 2021). Laut Schölderle et al. (2018) besteht die dringende Notwendigkeit die Grundlagenforschung im Hinblick auf das Erscheinungsbild der Dysarthrie im Kindesalter unter Einbezug weiterer Grunderkrankungen zu intensivieren. Voraussetzung für die Entwicklung spezifischer Therapiemethoden ist die Etablierung valider diagnostischer Verfahren zur systematischen Analyse von Störungsmerkmalen. Diskussion der Forschungsergebnisse im Hinblick auf die kindliche Dysarthrie im Rahmen eines Glut1-Defekts - diagnostische und therapeutische Implikationen Diagnostik Vor dem Hintergrund der bislang erhobenen Daten hinsichtlich sprachlicher und sprechmotorischer Fähigkeiten ist davon auszugehen, dass der dysarthrischen Komponente bereits im frühen Kindesalter, vor allem aber im weiteren Entwicklungsverlauf eine herausragende Bedeutung für die Kommunikationsfähigkeit der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Glut1-Defekt beigemessen werden muss. 206 FI 4/ 2022 Anne Jurkutat, Regina Götz, Martina Barthold, Theresa Schölderle, Elisabet Haas, Jörg Klepper Der kausale Zusammenhang zwischen Art der Bewegungsstörung (Spastizität, Ataxie, Dystonie u. a.) und charakteristischen Symptommustern des Sprechens (auch bezeichnet als Dysarthriesyndrome) im Rahmen einer Schädigung neurologischer Strukturen in Abhängigkeit vom Ort der zugrunde liegenden Läsion, ist hinreichend bekannt (Ziegler und Vogel 2010). Die Annahme, dass sowohl Störungen der Gliedmaßenmotorik als auch sprechmotorische Symptome den verursachenden Störungsmechanismus widerspiegeln, geht zurück auf Darley et al. (1969). Auch wenn „vermutlich […] ein großer Teil des Wissens über die Zusammenhänge zwischen Schädigungsort und dem Auftreten einer Dysarthrie bei erwachsenen Patienten auf Kinder übertragen werden [kann]“ (Schölderle et al. 2020 b, 26), stellt die Dysarthrie im Kindesalter dennoch ein eigenständiges Störungsbild dar, das verglichen mit der Dysarthrie bei Erwachsenen Unterschiede unter anderem hinsichtlich ätiologischer Aspekte, der Symptomatik, des noch nicht abgeschlossenen Sprach- und Sprecherwerbs oder der Begleiterscheinungen aufweist und demzufolge eine spezifische diagnostische und therapeutische Herangehensweise erforderlich macht (Schölderle et al. 2018). Insbesondere entwicklungsbedingte Faktoren werden als Ursache für die weniger eindeutige Herausbildung dysarthrischer Syndrome und die damit einhergehende unzulässige Eins-zu-eins-Übertragung des Klassifikationsschemas der Dysarthrie bei Erwachsenen auf kindliche Dysarthrieformen in Betracht gezogen (Schölderle et al. 2021). Unstrittig ist, dass aus einer Schädigung motorischer Areale im Gehirn sowohl Bewegungsstörungen der Gliedmaßen als auch Funktionsbeeinträchtigungen des Vokaltraktes resultieren, was der Annahme des Vorliegens dysarthrischer Störungen bei Glut1-PatientInnen Nachdruck verleiht. Aussagen hinsichtlich der Art der dysarthrischen Störung, der spezifischen Symptomatik sowie des Schweregrades sind allein auf der Grundlage der Erkenntnisse aus der Erforschung von Dysarthrien im Erwachsenenalter sowie aus anderen Grunderkrankungen resultierenden kindlichen Dysarthrien jedoch nicht zulässig. Die empirischen Daten untermauern die Hypothese, dass die dysarthriespezifische Symptomatik aus sprachtherapeutischer Sicht grundlegend ist für das Verständnis der kommunikativen Beeinträchtigungen bei Glut1-PatientInnen. Zum einen lassen die, wenngleich rudimentären und darüber hinaus heterogenen Daten bezüglich des Sprachstatus auf einen möglicherweise unterschätzten Einfluss der dysarthrischen Komponente auf die sprachlichen Leistungen der betroffenen Kinder schließen: Die Mehrzahl der Betroffenen weist vergleichsweise bessere rezeptive sprachliche Fähigkeiten auf, während die expressiven Kompetenzen überproportional schwächer ausfallen (Pearson et al. 2013, Wang et al. 2018, Wood et al. 2020). Zum anderen wurde in den oben aufgeführten Studien für die Mehrzahl der ProbandInnen entweder bereits vorab oder aber im Rahmen der Untersuchungen das Vorliegen einer Dysarthrie bestätigt. Nicht zuletzt geben die subjektiven Beobachtungen im Rahmen der durchgeführten Forschungsarbeiten Hinweise auf das Vorliegen dysarthrischer Störungen. Dennoch muss die hypothetische Dominanz der Dysarthrie als maßgebliche Einflussgröße auf die kommunikativen Fähigkeiten der Kinder kritisch hinterfragt werden. Es bleibt unklar, auf der Grundlage welcher diagnostischen Methoden die Diagnose „Dysarthrie“ erhoben wurde. Zur Bestätigung der Dysarthrie und zur Beschreibung der für Glut1- PatientInnen spezifischen Symptomatik und gegebenenfalls Symptommuster ist im Rahmen einer vertieften Auseinandersetzung mit den Sprechstörungen der Kinder der Einsatz eines validen und reliablen Testinstrumentes unabdingbar. Dieses Testverfahren sollte den besonderen diagnostischen Herausforderungen 207 FI 4/ 2022 Der Glukosetransporter (Glut1)-Defekt kindlicher Dysarthrien Rechnung tragen, u. a. die zuverlässige Abgrenzung zu noch in der Entwicklung befindlichen sprachlichen Phänomenen (z. B. phonologische Prozesse) sowie sprechmotorischen Merkmalen, die auch bei Kindern ohne Dysarthrie im physiologischen Erwerbsprozess auftreten (Schölderle et al. 2020 b). Mit den „Bogenhausener Dysarthrieskalen - Kindliche Dysarthrie“ (BoDyS-KiD, Haas et al. 2020) steht seit Kurzem für den deutschsprachigen Raum ein Untersuchungsinstrument zur Verfügung, das diese spezifischen diagnostischen Anforderungen berücksichtigt. Das Testmaterial stellt somit eine vielversprechende Grundlage für die auditive Analyse der sprechmotorischen Störungen bei Kindern mit Glut1-Defekt dar. Da es sich bei Glut1-PatientInnen um eine in der Dysarthrieforschung bislang komplett unberücksichtigte Population handelt, eröffnet die systematische Untersuchung der Dysarthrie im Rahmen eines Glut1-Defektes die Chance auf eine Erweiterung des theoretischen Verständnisses kindlicher Dysarthrien, das sich bislang nahezu ausschließlich auf die Grunderkrankung der ICP fokussiert. Längerfristig kann die Untersuchung der Glut1-spezifischen Dysarthriesymptomatik quantitativ, vor allem aber qualitativ zu einem Ausbau altersspezifischer Normdaten generell und speziell der BoDyS- KiD einen substanziellen Beitrag leisten. Therapie Als einzige etablierte Therapie des Glut1- Defekts steht derzeit eine extrem fettreiche, kohlenhydratarme, isokalorische Diät zur Verfügung, die das Fasten imitiert (Klepper et al. 2020). Durch die Verbrennung von Körperfett zu Energie entstehen Ketone, die im Gehirn den Energieträger Glukose ersetzen und so dessen Mangel nahezu vollständig ausgleichen können (Alter et al. 2015). Die Ketonkörper können mithilfe des Monocarboxylattransporters [MCT1] auf einem anderen Transportweg die Blut-Hirnschranke passieren (Brockmann 2014). Diese sogenannte ketogene Diät führt innerhalb weniger Wochen zu Anfallsfreiheit. Durch einen postnatal möglichst frühzeitigen, in der Gehirnentwicklung des Kindes einsetzenden Beginn der Diät werden dabei langfristig die besten Behandlungserfolge erzielt (Alter et al. 2015, Klepper et al. 2020). Der positive Effekt betrifft auch die Entwicklungsverzögerung und die Bewegungsstörung der Kinder. Aus bislang ungeklärten Gründen zeigt sich dieser jedoch weniger deutlich und individuell hochvariabel, entsprechend der Heterogenität des Phänotyps (Klepper 2004, Klepper et al. 2020). Unklarheit herrscht bezüglich der Frage, wie sich die spezielle Nahrungszusammensetzung auf Sprache und Sprechen auswirkt. Einige wenige Untersuchungen nehmen den Effekt der ketogenen Diät auf kognitive Kompetenzen in den Blick und geben in diesem Zusammenhang auch Hinweise auf sprachliche oder sprechmotorische Veränderungen, meist informeller Art, in Form von Beobachtungen (z. B. Ito et al. 2011, Gras et al. 2014). Lediglich Ramm-Peterson et al. (2014) und Alter et al. (2015) untersuchten zusätzlich zur standardisierten Intelligenztestung einzelne linguistische Teilbereiche. Wood et al. (2020) treffen im Rahmen ihrer Einzelfalldarstellung auch sprach- und sprechspezifische Aussagen, ohne jedoch die den Schlussfolgerungen zugrunde liegenden Testverfahren anzugeben. Vorbehaltlich der geringen Fallzahlen verdichten sich die Hinweise auf einen positiven Einfluss der ketogenen Diät auf die kognitiven Fähigkeiten: Übereinstimmend berichten Ito et al. (2011), Ramm-Pettersen et al. (2014), De Georgis et al. (2018) und Kolic et al. (2021) von einem Anstieg kognitiv-sprachlicher Fähigkeiten proportional zu Verbesserungen des Gesamt-Intelligenzquotienten. Alter et al. (2015) konnten diesen Zusammenhang nicht eindeutig belegen. Sie verzeichneten nach Beginn der diätischen Behandlung erst im zeitlichen Verlauf Ent- 208 FI 4/ 2022 Anne Jurkutat, Regina Götz, Martina Barthold, Theresa Schölderle, Elisabet Haas, Jörg Klepper wicklungsfortschritte kognitiver und adaptiver Fähigkeiten von Glut1-Patienten, die dem Entwicklungsverlauf von gesunden Gleichaltrigen entsprechen und auch die sprachlich-kognitive Dimension umfassten. Die diätische Behandlung werten sie als Beitrag zu diesen Leistungsverbesserungen. Als maßgeblich werden sowohl Zeitpunkt des Einleitens als auch Dauer der diätischen Maßnahmen diskutiert. Aufgrund der rudimentären und darüber hinaus heterogenen Datenlage können zum jetzigen Zeitpunkt für den linguistischen Bereich keine aussagekräftigen Schlüsse gezogen werden. Alter et al. (2015) konnten mittels Peabody Picture Vocabulary Test-III (PPVT-III) keine signifikante positive Korrelation zwischen ketogener Ernährung und Wortverständnisleistungen feststellen. Konträr dazu stehen die Untersuchungsergebnisse Ramm-Pettersens et al. (2014), die für alle Probanden (N = 6) sowohl rezeptive als auch expressiv sprachliche Verbesserungen ermittelten und dabei auch explizit eine Verringerung der dysarthrischen Symptome herausstellen. Letztere Beobachtung findet mit Verweis auf die Einzelfallbeschreibung Woods et al. (2020) wiederum keine Bestätigung: Die untersuchte Patientin zeigte 10 Monate nach Initialisierung diätischer Maßnahmen zwar verbale und non-verbale kognitive Verbesserungen, jedoch persistierende expressive Wortschatzdefizite sowie artikulatorische Einschränkungen. Ito et al. (2011) verweisen auf die subjektiven positiven Rückmeldungen aus dem Umfeld der ProbandInnen (Lehrer, Familienmitglieder u. a.) im Hinblick auf die artikulatorischen Kompetenzen, fügen aber einschränkend hinzu, dass die Verbesserungen der Bewegungsstörungen einschließlich der Dysarthrie weniger deutlich messbar sind, verglichen mit den Leistungssteigerungen im kognitiven Bereich. Die Zusammenschau der bisherigen Ergebnisse lässt folgende Schlussfolgerungen zu: Der positive Einfluss der ketogenen Diät auf die Epilepsie, und mit Einschränkungen (geringe Stichprobenumfänge u. a.) auch hinsichtlich kognitiver Fähigkeiten, bestätigt sich nicht im gleichen Ausmaß für die Bewegungsstörungen. Ausgehend von der Hypothese, dass Art und Ausprägung der Einschränkungen der Gliedmaßenmotorik auf die dysarthrische Symptomatik übertragbar sind (Darley et al. 1969), muss auch im Hinblick auf die Dysarthrie von einem geringeren Wirkmechanismus der diätischen Ernährung ausgegangen werden. Demzufolge müssen, nach derzeitigem Stand der Forschung, zusätzliche therapeutische Fördermaßnahmen, beispielsweise in Form konservativer Sprechtherapie, in Betracht gezogen werden. Die Hypothese, dass die vergleichsweise stärker betroffenen expressiven sprachlichen Fähigkeiten möglicherweise nicht ausschließlich sprachsystematischer Natur sind, sondern vor allem durch die dysarthrische Störung (mit-)bedingt sind (Pearson et al. 2013, Wood et al. 2020), unterstreicht die Notwendigkeit einer Intensivierung dysarthriefokussierter diagnostischer und therapeutischer Bemühungen bei Glut1- Defekt. Unabhängig davon sind parallel weitere Studien zur Wirksamkeit der ketogenen Diät anhand umfangreicherer Stichproben mit längeren Follow-up Perioden sowie bereichsspezifischen Testinstrumenten zur Steigerung der statistischen Aussagekraft unabdingbar. Fazit Der Glut1-Defekt ist im Kontext der frühen Förderung und Sprachtherapie bislang unzureichend bekannt. Kinder mit dem klassischen Glut1-Phänotyp weisen im Rahmen ihrer globalen Entwicklungsstörung sprechmotorische Defizite auf, die sich auf den ersten Blick dem Störungsbild der Dysarthrie zuordnen lassen. Die vertiefte Auseinandersetzung mit der seltenen Erkrankung und den damit einhergehenden dysarthrischen Funktionsbeeinträchtigungen bietet die Möglichkeit für eine substanzielle Erweiterung des theoretischen Kenntnisstandes bzgl. der kindlichen Dys- 209 FI 4/ 2022 Der Glukosetransporter (Glut1)-Defekt arthrie (Ursachenannahmen, Erscheinungsbild, Klassifikation, Symptomatik u. a.). Die Initialisierung der Forschungsbemühungen sollte sich in Bezug auf die sprechmotorische Störung zunächst auf die Erhebung klinischer Befunde konzentrieren mit dem Ziel der Definition und Systematisierung der Glut1-spezifischen dysarthrischen Symptomatik auf der Grundlage des Testmaterials der BoDyS-KiD (Haas et al. 2020). Bedeutung für die Praxis Eine stärkere Fokussierung auf sprachlich-kommunikative Aspekte bei Kindern mit globalen Entwicklungsproblemen und komplexer Bewegungsstörung ist für das Einleiten geeigneter Förder- und Behandlungsmaßnahmen zur Unterstützung der frühen kommunikativen Entwicklung unabdingbar. Die Erforschung der zugrunde liegenden Pathologie der sprechmotorischen Störungen bei Glut1-Defekt wird perspektivisch erste Impulse für die Ableitung geeigneter Therapiekonzepte ermöglichen und bildet so die Grundlage für eine sprach- und sprechspezifische Förderung betroffener Kinder mit dem Ziel der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Glossar (Unwillkürliche) Störungen der Bewegungsabläufe (Lücke et al. 2017, Mattle und Fischer 2021, Ziegler und Vogel 2010) Apraxie/ Dyspraxie: Störungen bei der zielgerichteten Ausführung von komplexen Bewegungen/ Handlungen Ataxie: Störung der Koordination von Bewegungsabläufen, der Haltungs- und Bewegungskontrolle Chorea: plötzlich einschießende, nicht rhythmische, regellose und wechselnd lokalisierte Muskelkontraktionen Dystonie: Bewegungsstörung mit anhaltenden unwillkürlichen Muskelkontraktionen/ Verkrampfungen, die zu abnormen Haltungen von Körperteilen führen. Früher auch als Athetose bezeichnet. Myoklonien: rasche, nicht rhythmische, ausgiebige Muskelzuckungen Spastik: pathologische Muskeltonuserhöhung und Kontraktionen der Skelettmuskulatur Tremor: unwillkürliche rhythmische Oszillationen mit geringem Bewegungseffekt (Muskelzittern) Dr. Anne Jurkutat AOR, Sprachheilpädagogin M. A., Logopädin Regina Götz Dipl.-Psych. Martina Barthold Sprachheilpädagogin M. A. Universität Würzburg Fakultät für Humanwissenschaften Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik Wittelsbacherplatz 1 97074 Würzburg E-Mail: anne.jurkutat@uni-wuerzburg.de regina.goetz@uni-wuerzburg.de martina.barthold@uni-wuerzburg.de Dr. Theresa Schölderle Sprachtherapeutin M. A. Elisabet Haas Sprachtherapeutin M. A. Entwicklungsgruppe Klinische Neuropsychologie (EKN) Institut für Phonetik und Sprachverarbeitung, LMU München Schellingstr. 3 80799 München E-Mail: Theresa.Schoelderle@ekn-muenchen.de Elisabet.Haas@ekn-muenchen.de Prof. Dr. Jörg Klepper Chefarzt Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Neuropädiatrie Am Hasenkopf 1 63739 Aschaffenburg E-Mail: joerg.klepper@klinikum-ab-alz.de Literatur Alter, A., Engelstad, K., Hinton, V. J., Montes, J., Pearson, T. S., Akman, C. I., de Vivo, D. C. (2015): Long-term clinical course of GlutI Deficiency Syndrome. Journal of Child Neurology 30 (2), 160 - 169, https: / / doi.org/ 10.1177/ 0883073814531822 Brockmann, K. 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