eJournals Frühförderung interdisziplinär 41/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2022.art07d
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2022
412

Originalarbeit: Veränderungen im Alltag aus Sicht von Eltern von Kindern mit Cerebralparese

41
2022
Karoline Munsch
Annette Probst
Die Orientierung am Alltag von Kind und Familie gilt als grundlegendes Kriterium für die Ausrichtung von Förderangeboten für Familien mit einem Kind mit Cerebralparese. Für die therapeutische und pädagogische Begleitung der Familie besteht die Herausforderung, ein Verständnis von deren Alltagsgestaltung und Unterstützungsbedarfen zu gewinnen, sowie im Verlauf der sich daraus ergebenden Förderung Veränderungen im Alltag der Familien abbilden zu können. Durch Instrumente zur Erfassung der Alltagsbewältigung werden mit der Auswahl der erfragten Aktivitäten und Lebensbereiche sowie durch die Fokussierung auf Interventionsziele Vorannahmen über den Familienalltag aufgestellt und eingegrenzt. Ziel dieser Studie war es, Veränderungsprozesse im Alltag, die sich im Verlauf der ersten Lebensjahre bis zum Schuleintritt des betroffenen Kindes einstellen, aus der Perspektive der Eltern zu erfassen und dadurch ein tieferes Verständnis ihrer subjektiven Bedeutungszuschreibungen hinsichtlich dieser Prozesse zu generieren. Als zentrales Phänomen konnte das „Leben lernen zwischen den erwarteten und besonderen Anforderungen“ aus den Interviews herausgearbeitet werden. Vielfältige Aufgaben, die die Eltern in Veränderungsprozessen als Lernprozesse beschreiben, müssen von ihnen gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Familiensystems koordiniert, vereinbart und geleistet werden. Es konnten sowohl im Rahmen der „Entwicklungs- und Teilhabearbeit“ mit dem Kind als auch der „Positionierungsarbeit“ als Neuausrichtung der eigenen Lebensvorstellungen Aufgaben identifiziert werden, die von den Eltern übernommen werden, ohne dass diese sie bewusst thematisieren. Die starke Routinisierung von Alltagsabläufen in ihrer jeweils individuell kreierten Gestaltung sowie die als Selbstverständlichkeit wahrgenommene vollumfängliche Zuständigkeit der Eltern für die Bewältigung des Familienalltags verweisen auf den Bedarf, den Erzählungen der Eltern im Rahmen einer familien- und alltagsorientierten Förderung Raum zu geben.
1_041_2022_2_0002
55 Frühförderung interdisziplinär, 41.-Jg., S.-55 - 66 (2022) DOI 10.2378/ fi2022.art07d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Veränderungen im Alltag aus Sicht von Eltern von Kindern mit Cerebralparese Eine qualitative Studie Karoline Munsch, Annette Probst Zusammenfassung: Die Orientierung am Alltag von Kind und Familie gilt als grundlegendes Kriterium für die Ausrichtung von Förderangeboten für Familien mit einem Kind mit Cerebralparese. Für die therapeutische und pädagogische Begleitung der Familie besteht die Herausforderung, ein Verständnis von deren Alltagsgestaltung und Unterstützungsbedarfen zu gewinnen, sowie im Verlauf der sich daraus ergebenden Förderung Veränderungen im Alltag der Familien abbilden zu können. Durch Instrumente zur Erfassung der Alltagsbewältigung werden mit der Auswahl der erfragten Aktivitäten und Lebensbereiche sowie durch die Fokussierung auf Interventionsziele Vorannahmen über den Familienalltag aufgestellt und eingegrenzt. Ziel dieser Studie war es, Veränderungsprozesse im Alltag, die sich im Verlauf der ersten Lebensjahre bis zum Schuleintritt des betroffenen Kindes einstellen, aus der Perspektive der Eltern zu erfassen und dadurch ein tieferes Verständnis ihrer subjektiven Bedeutungszuschreibungen hinsichtlich dieser Prozesse zu generieren. Als zentrales Phänomen konnte das „Leben lernen zwischen den erwarteten und besonderen Anforderungen“ aus den Interviews herausgearbeitet werden. Vielfältige Aufgaben, die die Eltern in Veränderungsprozessen als Lernprozesse beschreiben, müssen von ihnen gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Familiensystems koordiniert, vereinbart und geleistet werden. Es konnten sowohl im Rahmen der „Entwicklungs- und Teilhabearbeit“ mit dem Kind als auch der „Positionierungsarbeit“ als Neuausrichtung der eigenen Lebensvorstellungen Aufgaben identifiziert werden, die von den Eltern übernommen werden, ohne dass diese sie bewusst thematisieren. Die starke Routinisierung von Alltagsabläufen in ihrer jeweils individuell kreierten Gestaltung sowie die als Selbstverständlichkeit wahrgenommene vollumfängliche Zuständigkeit der Eltern für die Bewältigung des Familienalltags verweisen auf den Bedarf, den Erzählungen der Eltern im Rahmen einer familien- und alltagsorientierten Förderung Raum zu geben. Schlüsselwörter: Familienorientierung, Alltag, Cerebralparese, Kind, Belastungserleben, Qualitative Studie Changes in everyday life from the perspective of parents with a child with cerebral palsy - a qualitative study Summary: Focussing on the everyday life of child and family is considered a fundamental criterion for the orientation of support services for families with a child with cerebral palsy. For the therapeutic and pedagogical support of the family, the challenge is to gain an understanding of their everyday life and support needs, as well as to map changes in the everyday life of the families in the course of the support. Through evaluation tools for ways of coping in everyday life, which select the areas of activity that are surveyed, and through a focus on intervention goals presuppositions about the family’s everyday life are narrowly established. The aim of this study was to record processes of change that occur in everyday life in the course of the child’s first years until start of school from the perspective of the parents and thereby to generate a deeper understanding of their subjective attributions of meaning with regard to these processes. 56 FI 2/ 2022 Karoline Munsch, Annette Probst Einleitung K inder mit Cerebralparese stellen die größte Gruppe der Kinder dar, deren Erkrankung mit einer Bewegungsstörung einhergeht. Die Prävalenz liegt bei 2 pro 1000 Lebendgeborenen (Himmelmann 2021). Es handelt sich bei einer Cerebralparese um kein einheitliches Krankheitsbild, sondern um eine Gruppe von Erscheinungsbildern mit unterschiedlicher Ätiologie, die durch eine Störung von Bewegung, Haltung und motorischen Funktionen geprägt sind (Krägeloh-Mann und Cans 2009). Trotz dieses auch als „umbrella term“ bezeichneten Begriffes erscheint dessen Verwendung aufgrund der Bedeutung für die sozialmedizinische Versorgung sinnvoll (Rosenbaum und Rosenbloom 2012). Eine Cerebralparese als eine „life-long condition“, deren motorische Ausprägung häufig mit begleitenden und sekundären Störungen assoziiert ist, hat wesentlichen Einfluss auf die kindliche Entwicklung, die Bewältigung des Alltags und das Familienleben. Entsprechend wird ein multidisziplinäres Setting benötigt, um mit den Kindern und ihren Familien ein umfassendes Therapie- und Förderkonzept zu erarbeiten (Rosenbaum und Rosenbloom 2012, Graham et al. 2016). Familien- und Alltagsorientierung sind Begriffe, die das Verständnis von Interventionen in diesem Feld repräsentieren (Rosenbaum und Gorter 2011). Familienorientierung hat sich seit den 1990er Jahren in der Frühförderung und pädiatrischen Rehabilitation verbreitet und stellt inzwischen sowohl als Förderphilosophie als auch als Förderansatz das „Best Practice Modell“ dar (King et al. 2004). Pretis (2015) weist jedoch darauf hin, dass über den generellen Konsens hinaus die Konzeption und Umsetzung von Familienorientierung sehr heterogen zu beobachten ist und die Gefahr besteht, dass konzeptuelle Grundbegriffe der Frühförderung „Leerformeln“ bleiben. King et al. (1999) legten in einer Studie zur Bedeutung von Familienorientierung eine Elternbefragung zugrunde, in der zu den Kennzeichen von Familienorientierung die Kontrolle über Entscheidungsprozesse, eine respektvolle und unterstützende Haltung der Professionellen sowie die Vermittlung von Informationen gezählt wurden. Sarimski et al. (2021) fassen die Prinzipien einer familienorientierten Frühförderung auf den Ebenen der Zielstellung, der Gestaltung der Kooperation und des Förderprozesses zusammen. Die Ergebnisse aus den Untersuchungen im Rahmen des Projektes „Familienbedürfnisse und familienorientierte Beratung in der Frühförderung behinderter Kleinkinder“ von Sarimski et al. (2021) zeigen, dass die Qualität der Zusammenarbeit und auch die Art der Hilfen, die die Familien erhalten haben, Auswirkungen auf die Lebensqualität der Familien, die elterliche Kompetenz und Zuversicht sowie die subjektiv erlebte Belastung und die soziale Einbindung haben. „Learning to live between expected and special requirements“ could be identified as a central phenomenon from the interviews. Multiple tasks, which the parents describe as learning processes in change processes, have to be coordinated, agreed upon and accomplished by them simultaneously within and outside the family system. It was possible to identify tasks that parents take on without consciously addressing them, both in the context of „development and participation work“ with the child and „positioning work“ as a reorientation of their own ideas about life. The strong routinization of everyday routines in their respective individually created design as well as the self-evident responsibility of parents for managing everyday family life point to the need to create space for the parents’ narratives within the framework of familyand everyday-oriented support. Keywords: Family orientation, everyday life, cerebral palsy, child, stress experience, qualitative study 57 FI 2/ 2022 Veränderungen im Alltag aus Sicht von Eltern von Kindern mit Cerebralparese Der Zusammenhang zwischen dem subjektiven Befinden der Eltern und der konkreten Ausgestaltung des Familienlebens wurde allerdings bisher nur in Ansätzen untersucht. Chronische Erkrankung oder Behinderung eines Kindes bedeutet langjährige Auseinandersetzung der Familie mit der Erkrankung und deren Behandlung sowie die gleichzeitige Herausforderung, ein Alltagsleben unter diesen Umständen zu gestalten. Damit befindet sich die Familie in einem Widerspruchsfeld, das Ziemen (2002) als eine komplexe Situation mit einer Vielzahl von Widersprüchen beschreibt. Dieses Widerspruchsfeld zwischen der Ebene der Beziehung zum Kind, der Beeinflussbarkeit der Situation und der Wertschätzung als Eltern mit eigenen Wertvorstellungen bedarf einer andauernden Bewältigung im Alltagsgeschehen (ebd.). So selbstverständlich vom Familienalltag gesprochen wird und davon ausgegangen werden kann, dass eine Vorstellung von Alltag existiert, so schwierig ist es, diesen bei genauerer Betrachtung zu fassen und zu definieren. In einem komplexen Gefüge, das sowohl das Beisammensein als auch vielfältige Aktivitäten umfasst, müssen ganz unterschiedliche, z. T. auch widersprüchliche Aufgaben, Zeiten und Strukturen aufeinander abgestimmt und koordiniert werden (Eckert 2002). So ist es die Leistung der in der Familie lebenden Personen, die konkreten Alltagsabläufe zu einem kohärenten Ganzen zusammenzufügen. Alltag von Familien kann als der „Ort, an dem alles zusammenkommt“ bezeichnet werden (Jurczyk und Rerrich 1993). Gelingender Alltag wird an einem gelingenden Miteinander gemessen und nicht an den Leistungen einzelner Familienmitglieder, wie z. B. der Bildungslaufbahn des Kindes. Alltag ist in hohem Maß geprägt von Routinen, d. h. über die Alltagsgestaltung besteht in der Regel eine Selbstverständlichkeit und Fraglosigkeit, die der bewussten Reflexion häufig erst bei Störungen zugänglich wird. In Familien sind sowohl Anpassungsleistungen als auch Stabilisierungsleistungen erforderlich, dementsprechend entsteht ein individueller Stil von Alltagsroutinen mit ganz eigenen Präferenzen und Relevanzen, der auch als „familialer Eigensinn“ bezeichnet werden kann (Engelbert 1999). Für die Erfassung des Alltags von Familien mit einem Kind mit Cerebralparese wurde eine noch nicht ausreichende Berücksichtigung der Perspektive der Familien konstatiert (Gross et al. 2018). Einzelne Arbeiten stellen fest, dass die Belastung im Alltag von Familien häufig nicht primär im Kind mit seinem besonderen Bedarf gesehen wird, sondern in den Bedingungen, unter denen Eltern die Sorge für das Kind leisten müssen (Green 2007). Als gesellschaftliche Bedingungen werden aus den Begriffen „verantwortete Elternschaft“ und „Elternschaft ohne Modell“ die spezifischen Belastungen beschrieben (Pieper 1993, Engelbert 1999). Hieraus lässt sich ableiten, dass eine weit über die Sorge für Ernährung, Wohnraum und körperlichen Schutz hinausgehende Verantwortung von Eltern vorausgesetzt wird. Darin eingeschlossen ist auch die Verantwortung der Eltern für die Entwicklungs- und Bildungschancen des Kindes und bedeutet somit eine umfassende Zuständigkeit für dessen Lebenschancen. Wiewohl dieses Ausmaß an Verantwortung für alle Eltern zu konstatieren ist, erweisen sich die damit verbundenen Aufgaben insbesondere für Eltern von Kindern mit besonderem Bedarf als herausfordernd und schwer zu leisten. In der Regel ist nicht vorhersehbar, welche Entwicklungsmöglichkeiten das Kind genau hat. Darüber hinaus besteht über die beste Förderung des Kindes in einem stark ausdifferenzierten Gesundheits- und Sozialsystem keine generelle Eindeutigkeit, was zur Folge hat, dass die vielen für den Förderprozess notwendigen Entscheidungen immer der Hinzuziehung von Expert*innen bedürfen. In der Konsequenz ist der Alltag der Eltern geprägt von großer Unsicherheit bei häufig hohem Entscheidungsdruck (Engelbert 1999). 58 FI 2/ 2022 Karoline Munsch, Annette Probst Entwicklung der Fragestellung Familien- und Alltagsorientierung sind in der Förderung von Kind und Familie durch die Stringenz einer flexiblen und individuell abgestimmten Durchführung gekennzeichnet (Sarimski et al. 2021). Durch die damit notwendige Individualisierung von Förderprozessen entstehen erhebliche Probleme im Management und bei der Evaluation von Maßnahmen, da eine Standardisierung nur begrenzt möglich ist. Um Veränderungen im Alltag von Kindern mit Cerebralparese als Folge oder „Wirkung“ von Interventionen abbilden zu können, wird nach geeigneten Darstellungsweisen gesucht. So erfassen Selbstständigkeitsindizes, wie z. B. der Pediatric Evaluation of Disability Inventury (PEDI) oder der Functional Independance Measure für Kinder (WeeFIM), Aspekte des Alltags, und Fragebögen wie der Beach Centre Family Quality of Life Scale (FQOL) oder Kidscreen machen Aussagen zur empfundenen Lebensqualität möglich. Für die Evaluation von Interventionen werden vielfach zielbezogene Messinstrumente wie der Canadian Occupational Performance Measure (COPM) oder das Goal Attainment Scaling (GAS) eingesetzt, in denen die Veränderung der Zielerreichung individuell erhoben wird (Munsch et al. 2010). In einer Pilotstudie zur kombinierten Anwendung der beiden genannten zielorientierten Verfahren COPM und GAS konnten in Intensiv-Therapie- Projekten im Rahmen von Bremer Bobath-Kursen Veränderungen deutlich abgebildet werden, die sich auf die Ziele der Kinder und ihrer Familien bezogen (Munsch et al. 2010). In einer ergänzenden, unstrukturierten offenen Befragung konnten darüber hinaus Veränderungen durch die Intensiv-Therapie identifiziert werden, die in keinem der Assessments in der vorgefundenen Breite erfasst worden sind. Genannt wurden: bequemere Nachtruhe, leichterer Familienalltag, stärkere Wahrnehmung der Fähigkeiten des Kindes, schnelleres Eingewöhnen in eine neue Gruppe und in wiederholter Nennung das stärkere kindliche Einfordern von Selbstständigkeit. Die Ergebnisse aus diesen offenen Befragungen lieferten erste Hinweise auf mögliche Optionen und neue Problemstellungen an die Alltagsanforderungen im Sinne von Anpassungs- und Stabilisierungsleistungen, die durch die Eltern im Anschluss an die Veränderungen nach der Intensiv-Therapie zu leisten sind. Es kann demnach davon ausgegangen werden, dass die Anforderungen an den Alltag von Familien mit einem Kind mit Cerebralparese und das Erleben und Bewältigen von Veränderungen bisher nicht hinreichend beschrieben wurden. Diesem Zusammenhang geht die im Folgenden vorgestellte Studie, die im Rahmen einer Abschlussarbeit im Masterstudiengang Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim (HAWK) erstellt wurde, nach. Methodik Es wurde eine qualitative Forschungsperspektive gewählt, um die subjektiven Sichtweisen und Deutungsmuster der Eltern hinsichtlich der Veränderungen im Alltag und die ihnen beigemessene Bedeutung zu rekonstruieren. Dem Forschungsvorhaben wurde von der Ethikkommission der Ludwig-Maximilians-Universität München die ethisch-rechtliche Unbedenklichkeit zuerkannt. Prägenden Einfluss auf das methodische Vorgehen und die methodologische Ausrichtung hatte die Orientierung an dem Arbeitslinienkonzept von Corbin und Strauss (2004). Die Bezeichnung von Lebensthemen als Arbeit und ihre Entfaltung in Arbeitstypen und Aufgabenkonstellationen erwies sich während der Kodiertätigkeit in Anlehung an die klassische Grounded Theory nach Corbin & Strauss (2015) als angemessen für die Analyse der Daten. Die Datenerhebung erfolgte mit dem „Problemzentrierten Interview“ (PZI) nach Witzel, das durch Anregung von Narration und Erzählsequenzen den Interviewten ermöglicht, ihre 59 FI 2/ 2022 Veränderungen im Alltag aus Sicht von Eltern von Kindern mit Cerebralparese Perspektive darzustellen (Witzel 2000). Die Interviews wurden alle mit einer vorformulierten Einleitungsfrage eröffnet: „Ich interessiere mich dafür, ein deutlicheres Bild davon zu bekommen, wie Familien mit Kindern mit Cerebralparese ihren Alltag gestalten und die täglichen Anforderungen bewältigen. Erzählen Sie doch einmal aus Ihrem Alltag, wie Sie das erleben.“ Zentrale strategische Elemente bei der Interviewführung nach Witzel sind der offene Gesprächseinstieg, allgemeine Sondierungen bzw. Sondierungsfragen zu einzelnen Sachverhalten und Zusammenhängen, spezifische Sondierungen i. S. von Verständnisfragen und sog. „Ad-hoc-Fragen“, wenn im Verlauf des Interviews bisher keine erschöpfenden Aussagen zum Forschungsgegenstand erreicht wurden (ebd.). Die Fallauswahl bzw. das Sampling für die Studie folgte dem sog. Convenience Sampling innerhalb einer Teilnehmendengruppe von Familien an einem Intensiv-Therapie-Projekt im Süden Deutschlands (Strübing 2019). Bei den sechs Interviewten handelte es sich um fünf Mütter und einen Vater von Kindern mit einer Bewegungsstörung zwischen drei und sechs Jahren. Fünf Kinder hatten die Diagnose Cerebralparese, ein Kind hatte eine Bewegungsstörung aufgrund einer genetischen Erkrankung. Bei zwei Interviews mit Müttern waren zeitweise die Väter anwesend. Für das mit dieser Arbeit verfolgte Erkenntnisinteresse und der damit verbundenen Fragestellung dieser Arbeit wurden die Interviews nach einer einwöchigen therapeutischen Intervention geführt, die von und mit den Familien aufgestellte alltagsrelevante Ziele verfolgt hatte. Durch deren konsequente Erarbeitung in der therapeutischen Intervention konnte davon ausgegangen werden, dass die Selbstverständlichkeit bis dahin unhinterfragter Alltagsabläufe in der Familie unterbrochen wurde. Als Zeitpunkt wurden sechs Wochen Abstand zu der Intervention gewählt, sodass eine eventuelle Reorganisation von Routinen möglich, die Störung aber noch präsent sein konnte. Den Interviewten war die Interviewerin (Erstautorin) vorher nicht bekannt und es bestand keine Abhängigkeit zwischen der Möglichkeit der Teilnahme an dem Projekt und der Bereitschaft zur Teilnahme an der Studie. Die Dauer der Interviews variierte von fünfzig Minuten bis zu einer Stunde und zwanzig Minuten. Die Transkription der Interviews erfolgte vollständig in Standardorthografie, Namen und Orte wurden vollständig anonymisiert. Entsprechend dem Ziel der Grounded Theory, auf der Grundlage von empirisch gewonnenen Daten systematisch theoretische Erkenntnisse zu generieren, ist das Vorgehen bei der Datenauswertung ein schrittweises Überführen der Daten in „theoretische Konzeptualisierungen“ (Breuer et al. 2019, 5). Parallel zur Datenerhebung wurden die Auswertungsschritte „offenes, axiales und selektives Kodieren“ vollzogen, mit deren Hilfe die Daten aufgebrochen, konzeptualisiert und auf neue Art zusammengesetzt wurden. Eine entscheidende Funktion im Forschungsprozess hatte das begleitende Schreiben von Memos, in denen aus den Daten abgeleitete Konzepte, Kategorien und Gedankengänge der Forschenden protokolliert wurden (Mey und Reimer-Gordinskaya 2021). Mittels Vergleichens und der Ausarbeitung minimaler und maximaler Kontrastierungen konnte eine „Ordnungs-, Beziehungs-, Zusammenhangssystematik“ (Breuer et al. 2019, 132) entwickelt werden. Wesentliche Gütekriterien einer Forschungsarbeit im Sinne der Grounded-Theory-Methodologie sind die Nachvollziehbarkeit und die dokumentierte Reflexivität im Forschungsprozess u. a. durch die kommunikative Konzeptualisierung der Daten und Ausarbeitung der Ergebnisse (Breuer et al. 2019). Die forschungsbegleitende gemeinsame Arbeit in einer hochschulinternen Arbeitsgruppe qualitativ Forschender, die Teilnahme am Masterkolloquium des Studiengangs und die wiederholte Diskussion der Interpretation der Texte mit hochschulexternen Personen hat die Breite an möglichen Lesarten der Daten eröffnet. 60 FI 2/ 2022 Karoline Munsch, Annette Probst Abb. 1: Ergebnisdarstellung „Veränderungsprozesse im Alltag von Familien mit einem Kind mit Cerebralparese“ Strategien Ausformung der Zentralen Kategorie Zentrale Kategorie / Phänomen Bedingungen Veränderungsprozesse im Alltag von Familien mit einem Kind mit Cerebralparese Situative Bedingungen Grenzen Möglichkeiten Lebensvorstellungen Zielsetzungen Befürchtungen Leben lernen Zwischen den wahrscheinlichen und den besonderen Anforderungen Entwicklungs- und Teilhabearbeit Positionierungsarbeit n Mit-Handeln n Adaptionen kreieren n Üben n Umgang mit Hilfsmitteln n Koordination der Hilfen n Vermittlungsarbeit n Wertewandel ▪ Zeitdimension ▪ Was ist schon normal? ▪ Erleben von Stigmatisierung ▪ Leben in Unsicherheit n Rollenklärung ▪ Verantwortlichkeit ▪ Zuständigkeit Umgehensweisen der Eltern mit den Aufgabenkonstellationen 61 FI 2/ 2022 Veränderungen im Alltag aus Sicht von Eltern von Kindern mit Cerebralparese Ergebnisse Das Schaubild stellt die Ergebnisse in einer Übersicht grafisch dar. Leben lernen zwischen den erwarteten und den besonderen Anforderungen Die zentrale Kategorie „Leben lernen zwischen den erwarteten und den besonderen Anforderungen“ erfasst einen Lernprozess, der die Anpassung an eine neue und herausfordernde Situation zum Thema hat. Ganz konkrete Anforderungen des Alltags, mit denen die Eltern unerwartet konfrontiert sind, lösen einen umfassenden Reflexions- und Lernprozess aus, der sowohl ihr alltägliches Handeln betrifft als auch die Bedeutung, die sie diesem geben. Die Reflexion schließt eine Auseinandersetzung der eigenen Sinngebung mit den Vorstellungen und Erwartungen der Gesellschaft ein. Die Herausforderung des Lernprozesses besteht in der Balancierung eines Lebens, das einerseits besonders geworden ist durch die Fürsorge für ein Kind mit besonderem Bedarf, wie einem Kind mit Cerebralparese, und andererseits ein Leben darstellt mit alltäglichen Abläufen, Verpflichtungen und Routinen, wie es die Paare mit der Entscheidung, Eltern werden zu wollen, auch erwartet hatten. Der Lernprozess wird von Eltern mit Worten beschrieben wie z. B. „Und, da bin ich halt langsam jetzt reingewachsen“ (I. 3, S. 2, Z: 52 - 55) „Du musst wahnsinnig viel lernen“ (I. 2, S. 53, Z: 1612 - 1624) „und hab sehr viel gelernt“ (I. 1, S. 27, Z: 806 - 818). Eltern schildern, wie sie sicherer werden im alltagsbezogenen Umgang mit ihrem Kind, der Einschätzung dessen, was das Kind kann und was wahrscheinlich nicht, oder dabei zu erkennen, was das Kind ausdrücken möchte. Es wird die zunehmende Fähigkeit deutlich, Zeitabläufe zu gestalten, Umweltgegebenheiten abzuwandeln und Gegenstände zu adaptieren, wie z. B. eine Dusche oder einen Einkaufswagen. Die Veränderung von Wertvorstellungen wird thematisiert, im Besonderen die Herausforderung, sich als Eltern in ihrer Verantwortlichkeit für das Kind zu behaupten bzw. diese Position nach anfänglicher Orientierungssuche wiederzugewinnen. In Anlehnung an das Arbeitslinienkonzept von Strauss & Corbin (Corbin und Strauss 2004) konnten zwei Stränge von Anforderungen im alltäglichen Leben herausgearbeitet werden (siehe Abb. 1). Zum einen diejenigen Aufgaben, die die vielfältigen Alltagstätigkeiten mit dem Kind umfassen und als „Entwicklungs- und Teilhabearbeit“ zusammengefasst wurden, zum anderen die inneren Prozesse der Eltern, die sich im Sinne einer „Positionierungsarbeit“ als neue Klärung ihrer Einstellungen und Werte sowie ihrer Rolle als Eltern darstellten. Entwicklungs- und Teilhabearbeit Das „Mit-Handeln“, die Begleitung des Kindes im Alltagsgeschehen zieht sich für die Familien durch den gesamten Tagesablauf. Es wurden ganz konkrete Zeitangaben genannt (Viertelstunde, halbe Stunde), wie lange das Kind sich alleine beschäftigen kann bzw. unter welchen ganz besonders gestalteten Bedingungen das Kind alleine ohne Begleitung an etwas teilnehmen kann. „Sie braucht halt einfach immer jemanden von uns, dadurch, dass sie nicht laufen kann, nicht sprechen kann, um an diese Sachen ranzukommen. … Sie braucht halt immer ein bisschen Unterstützung. … Beim Spiel müssen wir zum Teil nur daneben sitzen, zum Teil die ganze Zeit mitspielen“ (I. 7, S. 2f., Z: 48 - 57). In keinem der Interviews wird infrage gestellt, dass das Kind am Alltag teilhaben soll. „Und, wir waren letzte Woche zusammen mit den anderen auf 62 FI 2/ 2022 Karoline Munsch, Annette Probst dem Spielplatz, gleich um die Ecke … Und nach diesem Nachmittag war ich platt. Ich bin die Spielgeräte rauf, Spielgeräte runter. …Das heißt, … den ganzen Nachmittag hab ich dieselben Strecken zurückgelegt wie die Vier- und Fünfjährigen“ (I. 5, S. 7, Z: 163 - 175). Eine andere Aufgabe, die aus den Interviews herausgearbeitet werden konnte, ist die „Vermittlungsarbeit“. Eltern treten mit ihrem Kind in Kontakt mit anderen Personen, die das Kind nicht so gut kennen wie sie selbst. Die Eltern schildern wiederkehrend die Herausforderung, komplizierte Interaktionssituationen zu bewältigen. Eine Mutter beschreibt, dass sie es wichtig fand, das dörfliche Umfeld über die Behinderung ihres Kindes aufzuklären. „Weil, sie empfind das nicht so. Für die Mareike ist das immer unverständlich, die steht da, hebt die Füße hoch, schau mal, wie toll ich gehen kann, und da sagt jemand, das arme Kind“ (I. 2, S. 16, Z: 49 - 485). Auch sehen Eltern es als ihre Aufgabe an, im Umgang mit den vielen Expertinnen und Experten zu vermitteln, um diesen ein Verständnis dafür zu erleichtern, was das Kind ausdrücken möchte oder wie es am besten tätig sein kann. Es entstehen z. T. schwer handzuhabende Situationen, die zu längerfristigen Konflikten führen können. Dabei werden unterschiedliche Strategien der Eltern deutlich, um den Kontakt von anderen Personen zum Kind nicht zu erschweren. Eine Mutter schildert eine Situation, in der eine neue Bezugsperson mit ihrer Tochter spielt. „Sie [das Kind] ist in dem Stuhl gesessen, da war unten das Fußteil mindestens zehn Zentimeter zu tief, da haben die Füße freigehangen, (-) und sie spannt ja eh durch die Spastik (-) dann hat sie so gesessen, und oben hat sie versucht das auszugleichen, so. … da hat sie recht einen Spaß an dem Spiel gehabt, aber… sie hat nicht spielen können, weil sie hat’s nicht nehmen können, weil sie immer wieder versucht hat, sich aufzurichten“ (I. 3, S. 13, Z: 387 - 397). Die Mutter beschreibt die Anforderung, die Situation auszubalancieren, um die Interessen ihres Kindes zu vertreten und gleichzeitig dessen Beziehung zu einer Person des sozialen Umfeldes nicht zu belasten. Sie entscheidet sich, nachdem sie dreimal auf die ungünstige Sitzposition hingewiesen hat, die Situation so zu belassen, spürt aber bei sich im Nachhinein Resignation und Groll. Die Ergebnisse der Arbeit weisen darauf hin, dass sich die Eltern zwar über Entwicklungsschritte der Kinder in Richtung Selbstständigkeit und der Zunahme von Fertigkeiten freuen, diese aber auch als Teil von kindlicher Entwicklung als selbstverständlich hinnehmen. Ganz im Gegenteil können die Zunahme von Selbstständigkeit und Fertigkeiten die Eltern vor ganz neue Anpassungs- und Stabilisierungsleistungen in der Alltagsgestaltung stellen, die auch als zusätzliche Belastung denn als Erleichterung erlebt werden können. Eine Mutter beschreibt diese neue Herausforderung ausführlich: Nachdem ihr Kind gelernt hatte, sich selbstständig umzudrehen und damit am Boden fortzubewegen, mussten für das jetzt vom Kind geforderte Hochkommen Gegenstände zum Hochziehen besorgt und der assistierte Bewegungsübergang eingeübt werden. Breiten Raum in den Erzählungen der Eltern nimmt das „Adaptionen kreieren“ ein. Für das „Unterwegssein“ als wesentliche Voraussetzung einer sozialen Teilhabe werden vielfältige Planungsschritte notwendig, häufig besondere Adaptionen des Umfeldes oder die Anschaffung von Hilfsmitteln. So fraglos, wie die Übernahme all dieser Aufgaben beschrieben wird, so wenig scheint das Hilfesystem bei deren Bewältigung bewusst angefragt zu werden. Es wird deutlich, dass gerade Alltagsabläufe, die stark von Routinen geprägt sind, selten als Ziele für therapeutische Unterstützung genannt werden, da die Eltern sie als selbstverständlich von ihnen zu leisten annehmen. Die Eltern beschreiben Situationen wie z. B. Einkaufen, Schwimmbadbesuch, Fahrradausflug oder Toben, für die 63 FI 2/ 2022 Veränderungen im Alltag aus Sicht von Eltern von Kindern mit Cerebralparese sie Lösungen mit ihrem Kind entwickelt, jedoch keine Unterstützung des Hilfesystems erwartet und erfragt hatten. Positionierungsarbeit Durch die Behinderung des Kindes sowie die Reaktion des sozialen Umfeldes und der Gesellschaft stehen für die Eltern bisher als selbstverständlich angenommene Vorstellungen infrage wie beispielsweise spazieren zu gehen, ohne angestarrt zu werden. Insbesondere das Erleben von Stigmatisierung trifft die Familien häufig unerwartet. In vier der sechs Interviews wird dieses als sehr belastend erfahrene Erleben am Beispiel des Aussteigens aus dem Auto auf einem Behindertenparkplatz geschildert. In den Interviews werden Lernprozesse beschrieben, die eine Neupositionierung von Lebensanschauungen notwendig machen und die Aspekte Zeit, Normalität, Ausgrenzung, Sicherheit und Zukunft beinhalten. Das Leben lernen stellt eine Balancearbeit dar, sich widersprechende Intentionen miteinander zu vereinbaren oder gleichzeitig zu verfolgen. So sehen sich die Familien als ganz normale Familien, nicht im normativen Sinn, sondern als Gegenpol zu besonderen Familien. Gleichzeitig sehen sie Besonderheiten, auch den Bedarf besonderer Unterstützung. Und dennoch besteht der Wunsch, nicht besonders zu sein. Der Kontakt zu dem notwendigen Hilfesystem lenkt wiederum die Aufmerksamkeit auf die Besonderheit der Familie: Ein Familienmitglied, das einen besonderen Bedarf hat. Die Normalisierung des Besonderen, z. B. im Kontakt mit anderen betroffenen Eltern, wird als große Unterstützung erlebt. Deutlich wird die Anstrengung der Eltern, einerseits das Kind bestmöglich zu fördern und seine Möglichkeiten zu verbessern, andererseits dem Wunsch gerecht zu werden, das Kind so zu akzeptieren, wie es ist, und es nicht ständig verändern zu wollen. Im Umgang mit Zeit wird die Herausforderung beschrieben, in schnellem Wechsel extrem zeiteffizient zu werden, vieles ganz schnell nebenbei erledigen zu müssen, und dann wieder im Umgang mit dem Kind so zu verlangsamen, dass Abläufe für das Kind nachvollziehbar werden und es selbst tätig werden kann. Die eigene Neupositionierung und neue Sinnkonstruktion der Eltern im Umgang mit den Veränderungen „des familialen Eigensinns“ benötigen Sicherheit und Stabilisierung, denn sie sind parallel mit ständigen Veränderungserwartungen des sozialen Umfelds, des Hilfesystems und von sich selbst als Eltern konfrontiert. Als positive Veränderung und als gelungenen Lernprozess beschreiben Eltern die Routinisierung von Alltagsabläufen. Die Kompetenz, die Anforderungen zu bewältigen, führt zu Zufriedenheit, es entsteht das alltägliche „kleine Glück“. Besonders bedeutsam ist für Eltern, dass sie die Fäden in der Hand behalten oder wiederbekommen können, und dass dieses ihnen auch zugestanden wird. Negative Erlebnisse im Umgang mit dem Hilfesystem werden nur in geringer Zahl geschildert. Dennoch zeigen direktive Gesprächsführung durch Gesprächspartner und -partnerinnen, fehlende Akzeptanz elterlicher Entscheidungen und im Besonderen unterschwellige oder offene Vorwürfe, dass die Eltern mit ihrem Vorgehen das Kind nicht optimal fördern würden, noch Jahre später starke Wirkung, sich für eigene Entscheidungen rechtfertigen zu müssen. Limitationen Die Interviewten unterschieden sich in Familienstatus, Wohnverhältnissen und Kinderanzahl, die Kinder in Alter und Ausmaß der Beeinträchtigung. In den Ergebnissen werden demgegenüber wesentliche Gemeinsamkeiten sichtbar. 64 FI 2/ 2022 Karoline Munsch, Annette Probst Alle Interviewten haben die Herausforderung der Fürsorge für ein Kind mit besonderem Bedarf als ihre Aufgabe angenommen und sind davon überzeugt, diese bewältigen zu können. Sie reflektieren die Alltagsgestaltung ihrer Familie und begeben sich in den Prozess des Lernens. Hier stellt sich die Frage, inwieweit die vorherige Teilnahme an der Bobath-Intensiv-Therapie eine besondere Auswahl des Samples bedeutete, da die o. g. Intervention alltagsrelevante Ziele der Familien fokussiert und die aktive Inanspruchnahme der Intervention erfordert hatte. Zudem wäre im Sinne des theoretischen Samplings in der Grounded Theory Methodologie in einer Weiterführung der Untersuchung wesentlich, nach einer aus den bisherigen Ergebnissen begründeten Kontrastierung zu suchen (Breuer et al. 2019). Weitere Interviewpartnerinnen bzw. -partner könnten sein: Eltern, deren Kinder nicht an einer Intensiv-Therapie teilgenommen haben, Eltern, die die Aufgabe der Fürsorge nicht übernehmen, also ihr Kind in die Obhut anderer Personen geben, Eltern, die nicht die Überzeugung haben, die Aufgabe bewältigen zu können, Eltern, die nicht die Lebensvorstellung haben, eine Familie mit Teilhabeanspruch zu sein, Eltern, die sich und die Familie als defizitär erleben oder Eltern, die nicht die Möglichkeiten oder das Interesse haben, ihre Alltagsgestaltung zu reflektieren. Diese Einschränkung verweist auf die Vorläufigkeit der Ergebnisse. Die vergleichsweise geringe Anzahl der geführten Interviews dieser Qualifizierungsarbeit steht im Zusammenhang mit den Rahmenbedingungen einer Abschlussarbeit am Ende des Studiums und den dafür zur Verfügung stehenden Ressourcen. Diese Einschränkungen sind bei der Aussagekraft der Ergebnisse zu berücksichtigen. Dennoch verweist deren empirische Verankerung auf erste vertiefende Hinweise zu Handlungsempfehlungen für die Begleitung von Familien mit einem Kind mit Cerebralparese. Bedeutung für die Praxis Es werden in den Anforderungslinien der „Entwicklungs- und Teilhabearbeit“ sowie der „Positionierungsarbeit“ vielfältige Aufgaben beschrieben, die im Alltag von Eltern zwar Bewältigungsanforderungen darstellen, die sie aber nicht bewusst benennen und gegenüber Dritten formulieren, dafür also keine Unterstützung erwarten bzw. suchen. Daraus kann für die Förderpraxis die Handlungsempfehlung abgeleitet werden, möglicherweise nicht thematisierte Alltagsaufgaben zu erfragen und anzusprechen, um dafür Hilfestellungen i. S. von Problemlösungsmöglichkeiten oder Handlungsalternativen entwickeln zu können. Besonders das „Mit-Handeln“, das „Unterwegssein“ und die „Koordination der Hilfen“ scheinen wichtige Themenfelder zu sein, bei denen Familien Unterstützung erfahren können. Die Selbstverständlichkeit, mit der Alltag als bekanntes Konstrukt angenommen wird, kann dazu führen, dass ganze Bereiche des Familienalltags übersehen werden. Hier kann das Wissen darüber als der „Ort, wo alles zusammenkommt“ für das Hilfesystem zu einer Wahrnehmungssensibilisierung in der Begleitung der Familien führen. Routinisierung und eine vermeintlich nichthinterfragbare Selbstverständlichkeit von Alltagsabläufen verhindern deren Thematisierung und damit als Folge auch die Unterstützungsmöglichkeiten. Instrumente zur Erfassung der Alltagsbewältigung, sog. Activity of Daily Living (ADL)-Assessments prägen durch die Lebensbereiche, die sie erfragen, eine Vorstellung vom Alltag vor, die nie vollständig in der „echten“ Alltagswelt der Familien aufgeht. Es werden einzelne Aktivitäten erfragt, aber nicht die komplexe Anforderung der Alltagsbewältigung. Auch die ICF-CY Checkliste als Dokumentationsraster für die Frühförderung (Kraus de Camargo 2007) kann diesen Effekt erzeugen. Sarimski et al. (2021) wenden mit ihrer Checkliste „Alltagsaktivitäten erfragen“ den Blick auf die Selbst- 65 FI 2/ 2022 Veränderungen im Alltag aus Sicht von Eltern von Kindern mit Cerebralparese reflexion der Förderfachkraft und ermöglichen dieser, durch Fragen wie z. B. „Habe ich mich von dem leiten lassen, was den Eltern wichtig war? “, ein umfassendes Bild des Familienalltages zu erlangen. In der Kooperation mit Eltern kann es hilfreich sein, die „Vermittlungsarbeit“ bewusst zur Sprache und Geltung kommen zu lassen und damit in Anlehnung an Sarimski et al. (2021, 39) gewährleisten zu können, „dass die Kompetenzen und Ressourcen, die die Hilfesuchenden selbst mit einbringen, angemessen Berücksichtigung finden“. Familienorientierung beinhaltet, dass die Stabilisierungsleistungen von Familien ebenso wie die Anpassungsbzw. Veränderungsleistungen gesehen und gewürdigt werden. Wenn Eltern Veränderungen im Alltag als Lernprozess beschreiben, dann kann es sie unterstützen, die diesem Prozess innewohnende Bewältigung von Unsicherheit und schöpferische Kreativität der Anpassungen anzuerkennen. Die Unterstützung im Frühförderprozess kann so den Kern dessen, was Familienorientierung im Allgemeinen und Empowerment im Besonderen ausmacht, verfolgen: Ermutigung, die eigenen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, und Förderung von Selbstgestaltungskräften nachhaltig zu unterstützen (Hintermair 2014). Die Anerkennung der Eltern als Lernende lenkt den Blick auf ihre eigenen Bedeutungszuschreibungen im Familienalltag und ihre individuellen Bewältigungsstrategien. Die Ergebnisse der Untersuchung verweisen stark darauf, dass es für das Verständnis eines individuellen Familienalltages und damit eben für die anzustrebende Familienorientierung essenziell ist, Erzählungen der Eltern Raum zu geben und zu generieren. Die Ausgestaltung der komplexen Alltagsabläufe und die Bedeutung, die Familienmitglieder diesen zuschreiben, werden so sichtbar und bildhaft auch für Dritte nachvollziehbar. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Arbeit ist auch die Forderung Rosenbaums (2020) in seinem Editorialbeitrag in der Zeitschrift Developmental Medicine and Child Neurology mit dem Titel „You have textbooks; we have story books“ mit Nachdruck zu unterstützen, indem er das Erfragen und Hören von Lebenserfahrung der Eltern und Kinder als notwendigen Teil der professionellen Begleitung von Familien mit einem Mitglied mit Behinderung einfordert. Wenn Alltag nicht nur als eine Aneinanderreihung von einzelnen Aktivitäten, sondern als ein komplexes Gefüge verstanden wird, an dem alle Familienmitglieder mit ihren eigenen Präferenzen und Relevanzen beteiligt sind, kann auch mancher für Außenstehende unverständliche „familiale Eigensinn“ vielleicht doch verstanden und wertgeschätzt werden sowie ggf. Unterstützungsmöglichkeiten entwickelt werden. Karoline Munsch M. Sc. Prof. Dr. Annette Probst HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/ Holzminden/ Göttingen Studiengang Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie Goschentor 1 31134 Hildesheim E-Mail: karoline.munsch@hawk.de probst@hawk.de Literatur Breuer, F., Muckel, P., Dieris, B. (2019): Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis. 4. Aufl. Springer VS, Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-22219-2 Corbin, J., Strauss A. (2004): Weiterleben lernen. Verlauf und Bewältigung chronischer Krankheit. 2. vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl. Hans Huber, Bern Corbin, J., Strauss, A. (2015): Basics of qualitative Research - Techniques and procedures of developing Grounded Theory. Sage, Thousand Oaks 66 FI 2/ 2022 Karoline Munsch, Annette Probst Eckert, A. (2002): Eltern behinderter Kinder und Fachleute. Erfahrungen, Bedürfnisse und Chancen. 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