Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2022.art24d
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2022
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Fachkonzepte aus Therapie und Förderung: Online-Frühförderung
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2022
Marianne Irmler
Madeleine Morhardt
Ulrike Götzlaff
Frühförderung hat bedingt durch die Corona-Pandemie in den letzten Jahren auch online stattgefunden (Rittel 2021). Obwohl das Ausweichen auf digitale Medien zu kreativen Lösungen führte (Götzlaff et al. 2021, Rittel 2022), scheint die Frage einer Weiterführung und Prüfung online-basierter Frühförderung in Deutschland kaum Raum einzunehmen. Während z.B. Mazedonien in Kooperation mit UNICEF (2020) eine nationale Online-Plattform für Familien aus der Frühförderung etabliert hat, bleiben derartige Initiativen in Deutschland auf Ebene einzelner Frühförderstellen oder regionaler Verbände (z.B. AFFBY 2021, Reiland und Rittel 2020).
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212 Frühförderung interdisziplinär, 41.-Jg., S.-212 - 218 (2022) DOI 10.2378/ fi2022.art24d © Ernst Reinhardt Verlag FACHKONZEPTE AUS THERAPIE UND FÖRDERUNG Online-Frühförderung Konzeptionelle Überlegungen zwischen Bedarf und Tradition Marianne Irmler, Madeleine Morhardt und Ulrike Götzlaff Einleitung Frühförderung hat bedingt durch die Corona- Pandemie in den letzten Jahren auch online stattgefunden (Rittel 2021). Obwohl das Ausweichen auf digitale Medien zu kreativen Lösungen führte (Götzlaff et al. 2021, Rittel 2022), scheint die Frage einer Weiterführung und Prüfung online-basierter Frühförderung in Deutschland kaum Raum einzunehmen. Während z. B. Mazedonien in Kooperation mit UNICEF (2020) eine nationale Online-Plattform für Familien aus der Frühförderung etabliert hat, bleiben derartige Initiativen in Deutschland auf Ebene einzelner Frühförderstellen oder regionaler Verbände (z. B. AFFBY 2021, Reiland und Rittel 2020). Stoll et al. (2020) konstatieren für den psychotherapeutischen Bereich, dass es unethisch sei, Online-Therapie nicht anzubieten, wenn sie persönlich nicht stattfinden kann. Dies gilt in einer Pandemie, aber auch in Zeiten mit weniger weitreichenden Einschränkungen. Durch die Verwendung von digitalen Medien könnten Kinder, die durch Vorerkrankungen dauerhaft erhöht infektanfällig sind, während Krankheitswellen über Online-Frühförderung vor Infektionen geschützt, häufige Ausfälle von Förderstunden vermieden und gleichzeitig die Beziehung zu den Fachkräften aufrechterhalten werden. In diesem Beitrag wird ein konzeptioneller Entwurf dargelegt, wie Online-Frühförderung auch weiterhin einen unterstützenden Beitrag für die Praxis leisten kann. Unter Online-Frühförderung werden folgend alle Maßnahmen im Rahmen einer Frühförderleistung verstanden, die über digitale Medien erfolgen. Dies schließt ein: (1) live Videositzungen über Online-Plattformen mit den Kindern und ihren Bezugspersonen, (2) das Zur-Verfügung-Stellen von aufgezeichneten Videosequenzen als Anleitung für die Bezugspersonen, (3) Runde Tische im Rahmen von Videositzungen zur Abstimmung der Fachkräfte und Bezugspersonen. Digitale Medien in der Frühförderung Der zögernde Einsatz von digitalen Medien im Kontext der Frühförderung mag u. a. daran liegen, dass die Datenlage zur Wirksamkeit dieses Zugangs kaum vorhanden ist und gleichzeitig empirisch belegt ist, dass ein erhöhter Medienkonsum bei Kleinkindern negative Auswirkungen auf die Entwicklung haben kann (Sticca et al. 2020, Benita et al. 2020). Daher wird nachfolgend dargestellt, welche Erkenntnisse zur Online-Frühförderung vorhanden sind und welche Forschungslücken bestehen. Im deutschsprachigen Raum ist die Quellensituation übersichtlich. Reiland und Rittel (2020) verfassten hierzu einen ersten Erfahrungsbericht, der in zwei Beiträgen von Rittel (2021, 2022) aufgegriffen wurde. Es handelt sich um Praxisberichte, die somit keine verallgemeinernden Aussagen über die Wirksamkeit des Ansatzes machen können. 213 FI 4/ 2022 Fachkonzepte aus Therapie und Förderung Um den aktuellen Forschungsstand zu komplementieren, ist es notwendig, internationale Quellen sowie Nachbarwissenschaften einzubeziehen, wie z. B. die Psychotherapie (Stoll et al. 2020, Eichenberg 2021). Diese können anteilig Hinweise zum Einsatz digitaler Medien im Bereich der Beratung liefern und verweisen auf gleiche bis hin zu besseren Effekten im Vergleich zu Präsenztherapien. International gibt es vereinzelt Publikationen, die Erkenntnisse zu Risiken und Chancen einer Online-Frühförderung bieten (Fleming et al. 2021, Mader 2021, McDevitt 2021, Mogil et al. 2021, Stormshak et al. 2021). Einige dieser Publikationen stellen Modelle von Online-Interventionen vor (z. B. Stormshak et al. 2021, McDevitt 2021, Mader 2021) ohne Aussagen über deren Wirksamkeit zu machen. Andere beziehen sich auf eine spezifische Klientel (z. B. kriegstraumatisierte Familien, Mogil et al. 2021) und sind kaum auf den Kontext der Frühförderung in Deutschland übertragbar. Die australische Studie von Fleming et al. (2021) ist am ehesten für die hier diskutierten Überlegungen von Relevanz. Fleming et al. (2021) untersuchten die Wirksamkeit eines Online-Trainings- Programms zur Eltern-Kind-Interaktion für Eltern von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten. Die Kinder waren in einem Alter von eineinhalb bis vier Jahren. Es zeigten sich signifikante Verbesserungen der kindlichen Verhaltensauffälligkeiten sowie der Eltern-Kind-Interaktion. Eltern berichteten eine hohe Zufriedenheit mit der Intervention (Fleming et al. 2021). Neben diesen Erkenntnissen wurden in die vorliegenden Überlegungen eine nicht repräsentative Befragung von Frühförderfachkräften (Götzlaff et al. 2021) sowie Ergebnisse einer Bachelorarbeit, in der Leitfadeninterviews mit Frühförderfachkräften analysiert wurden, einbezogen (Götzlaff 2021). Die Befragung der Fachkräfte fand mittels eines selbst erstellten Fragebogens zu den Themen Rahmenbedingungen und Ablauf einer Online-Frühfördereinheit, Arbeitszufriedenheit in diesem Kontext und der persönlichen Meinung über die Methode statt. Zur besseren Einordnung der Ergebnisse wurden weitere Daten (Alter, Geschlechtszugehörigkeit und Berufserfahrung) erhoben. In der untersuchten Frühförderstelle sind ca. 30 Fachkräfte beschäftigt. Für die Auswertung konnten neun Bögen herangezogen werden. Der Fragebogen enthielt insgesamt 36 Fragen, von denen 12 die Möglichkeit zu einer offenen Antwort boten. Zusätzlich waren von den Befragten zwei Blöcke mit einmal vier und einmal fünf Aussagen auf einer vierstufigen Likert-Skala zu bewerten. Die Befragung wurde im Dezember 2020 durchgeführt. Die hinzugezogene Bachelorarbeit setzte sich mit der Frage auseinander, inwiefern Online-Frühförderung mit den Arbeitsprinzipien der Frühförderung (Sarimski 2017) vereinbar ist. Die Fragestellung wurde anhand von drei leitfadengestützten Interviews mit Frühförderfachkräften bearbeitet. Die Bachelorarbeit wurde im August 2021 eingereicht. Im Folgenden wird ein erster konzeptioneller Entwurf basierend auf den bisherigen empirischen Erkenntnissen vorgenommen. Eine ausführliche Beschreibung der konzeptionellen Überlegungen findet sich in der „Handreichung zur Online- Frühförderung. Ein erster Impuls“ (Götzlaff et al. 2021). Die folgenden Erläuterungen stellen eine Zusammenfassung von ausgewählten Bestandteilen dar und wurden durch Ergebnisse von Götzlaff (2021) ergänzt. Konzeptionelle Überlegungen Bei der Durchführung und Planung von Online- Frühförderung sind mehrere Aspekte zu beachten. So wird im Folgenden ein spezifischer Blick auf die Zielgruppe, die Struktur, die Methoden, sowie auf das spezifische Setting (Beratung, Förderung, Therapie etc.) vorgenommen. Zunächst sind bei der Durchführung von Online- Frühförderung die Rahmenbedingungen zu beachten. Hierzu zählt die Entscheidung über das zu nutzende Endgerät (Laptop, PC, Tablet, Smart- 214 FI 4/ 2022 Fachkonzepte aus Therapie und Förderung phone). Es sind Aspekte wie Handling des Geräts und die Bildschirmgröße zu bedenken. Der Kameraausschnitt ist ein wichtiger Faktor zum Erfolg der Förderung. Helligkeit und warme Farbtöne vermitteln eine klare und freundliche Atmosphäre. Ein reizarmer Hintergrund lenkt die Aufmerksamkeit des Kindes auf die Fachkraft und verhindert, dass private Einblicke gewährt werden. Störgeräusche sollten minimiert werden. Dazu kann ein Headset beitragen, mit dem mögliche Rückkopplungen verhindert werden. Insgesamt kann ein störungsfreier Ablauf der Förderung durch ausreichende Vorbereitung gelingen. Zu beachten ist, dass alle benötigten Materialien griffbereit liegen und Bewegungsfreiheit für Fachkraft und Kind gegeben ist. In Bezug auf die Klientel lässt sich feststellen, dass das Alter der Kinder, die Kooperation mit den Bezugspersonen und die Aufmerksamkeitsspanne eine besondere Bedeutung innehaben. Eine Fachkraft äußerte sich in Bezug auf die Kooperation mit den Eltern folgendermaßen: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es mit dem Engagement der Eltern steht und fällt“ (Götzlaff 2021, 81). Eine andere Fachkraft gab zu bedenken: „Je älter, desto mehr können die Kinder dialogisch kommunizieren, je kleiner, desto mehr sind sie „Konsumenten““ (Götzlaff et al. 2021, 9). Hierbei wird die direkte Interaktion zwischen Fachkraft und Kind über ein Online-Medium angesprochen, während die Interaktion zwischen Bezugspersonen und Fachkraft vom Alter der Kinder weniger tangiert ist. Ebenso berichteten die Fachkräfte von einer, über die Tagesform hinausgehenden, Veränderung der Aufmerksamkeitsspanne. Die eingeschränkte Interaktion sowie die auf visuelle und auditive Reize reduzierte Wahrnehmung scheinen die Aufmerksamkeit der Kinder zu verringern (Götzlaff et al. 2021). Die Ergebnisse der beiden Erhebungen zeigen, dass wie in einer Präsenz-Frühförderung Rituale und klare Strukturen den Aufbau rahmen sollten. Eine Fachkraft erläuterte hierzu: „Eigentlich habe ich, […] die Frühförderstunde genauso adaptiert, wie sie auch direkt in der Stunde stattgefunden hätte. Mit den gleichen Ritualen, um eben auf etwas Vertrautes zurückzugreifen“ (Götzlaff 2021, 82). Dieser Rückgriff auf das Vertraute kann die Beziehung zwischen den Beteiligten stärken. Klare Absprachen im Vorfeld helfen, um die neue Situation gut zu strukturieren. Einzelne Fachkräfte berichteten, dass Eltern verunsichert waren, wenn das Kind nicht über die Dauer der Fördereinheit vor dem Bildschirm bleiben mochte. Solche Bedenken sollten thematisiert werden. Die zur Verfügung stehende Zeit sollte im Sinne der Familienorientierung auch für den Austausch mit den Bezugspersonen genutzt werden (Götzlaff et al. 2021). Auch die Methoden müssen an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst werden. Die befragten Fachkräfte erkannten bei allen Kindern zumindest teilweise veränderte Wahrnehmungspräferenzen. Nicht alle Methoden der Frühförderung sind auf ein gemeinsames Handeln über digitale Medien übertragbar. Die Ergebnisse der beiden Erhebungen deuten darauf hin, dass sich spezifische Methoden (z. B. Singen und Musizieren, Fingerspiele, Kneten, Ratespiele, Puppen- und Rollenspiele) bewährt haben, während sich bei anderen die Umsetzung als deutlich schwieriger erwies (z. B. Gesellschaftsspiele, Puzzle, sensorische Förderung) (Götzlaff et al. 2021). Eine größere Skepsis der Fachkräfte zeigte sich bei der Anpassung therapeutischer Methoden aus den Bereichen Physio- und Ergotherapie: „Das ist der Haupt-Knackpunkt bei der Online-Förderung. Wie leite ich was an, wenn ich nicht eingreifen kann. Und ich glaube, man wird niemals eine manuelle Therapie anleiten können. […], aber viele Elemente kann man durchaus daraus nutzen“ (Götzlaff 2021, 101). Demgegenüber wird der Einbezug der Eltern als sehr positiv beurteilt: „Die [Eltern] sind eher lieber in der beobachtenden Position als in der aktiven Position. Und im Grunde genommen haben sie […] mehr davon, wenn sie angeleitet werden, aus der Peripherie heraus. Und dann bleibt es eher 215 FI 4/ 2022 Fachkonzepte aus Therapie und Förderung auch haften. […] Das wäre schön, wenn man das eigentlich öfter machen könnte. „So und heute spielen Sie mal mit Ihrem Kind und ich schau mal zu“ (Götzlaff 2021, 96). Gleichzeitig sollte bedacht werden, dass keine Rückkehr in das „Ko-Therapeuten-Modell“ stattfindet. Speck (1983) beschrieb die Gefahr des Ko-Therapeuten-Modells darin, dass die Eltern sich als schuldig fühlen können, wenn Entwicklung beim Kind ausbleibt. Die Anleitung sollte besprochen werden und leicht umsetzbar sein. Auf diese Weise kann eine passende Anleitung den Bezugspersonen den Alltag abseits der Frühförderstunden erleichtern und eine Übertragung in den Familienalltag geschehen. Die Fachkräfte berichteten, dass ein Großteil der Eltern positiv auf das Angebot reagierte (Götzlaff 2021). Datenschutzbedenken bestanden seitens der Eltern selten. Die Auseinandersetzung mit der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) bei einer Leistungserbringung über Online-Frühförderung ist für Fachkräfte aber wesentlich. Aus den Ergebnissen der Fragebogenerhebung ließ sich erkennen, dass die Umsetzung der DSGVO aufgrund individueller Lösungen für die Familien schwierig war, obwohl eine Datenschutzbelehrung angeboten wurde. Eine Datenschutzschulung sowie praxisnahe Umsetzungshinweise für alle Beteiligten kann zur Aufklärung beitragen. Frühförderung gelingt nicht ohne eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit. Ein Vorteil digital durchgeführter Teamsitzungen liegt u. a. darin, dass problemlos Kleinteams gebildet werden können. Gerade für große Frühförderstellen mit 20 und mehr Fachkräften erscheint dieses Format attraktiv. In Fallbesprechungen kann ein Video geteilt werden, ohne zusätzliches Equipment (z. B. Beamer) zu organisieren. Durch das Teilen von z. B. aufgenommenen Finger- oder Puppenspielen können heilpädagogische oder therapeutische Methoden immer wieder abgerufen und von anderen Kolleg*innen eingeübt werden. So kann Wissen nachhaltig weitergetragen werden. Technische Schwierigkeiten können die Teamarbeit negativ beeinflussen und einzelne Fachkräfte aus den Teamsitzungen ausschließen. Aus diesem Grund muss die Endgerätauswahl bedacht und auf eine stetig stabile Internetverbindung geachtet werden. Ebenso wie bei anderen neuen Entwicklungen sind die Einstellungen und Haltungen der Fachkräfte gegenüber den digitalen Medien von Bedeutung (Plumb und Kautz 2015). „Viele Frühförder*innen haben ihren Beruf ergriffen, weil sie gerade den persönlichen Kontakt zu den einzelnen Familien schätzen und meistens auch gerade in diesem Kontaktaufbau ihre persönlichen Stärken erfahren“ (Götzlaff et al. 2021, 6). Zudem zählt Medienkonsum in der frühen Kindheit eher zu den Risikofaktoren als zu den förderlichen Entwicklungsfaktoren (Benita et al. 2020). Der Einsatz digitaler Medien gehört demnach nicht zum typischen Repertoire einer Frühförderkraft und wird eher kritisch betrachtet. In den beiden Erhebungen wurde dies deutlich. So äußerte eine Fachkraft: …„wo ich wirklich erstaunt war und auch ein bisschen enttäuscht war, war die Reaktion meines Teams. Dass die so ganz dolle Vorbehalte hatten“ (Götzlaff 2021, 90). Eine andere Fachkraft stellte fest: „Das Gehirn kann sich nur entwickeln, in dem es über alle Sinneskanäle Sinnesreize bekommt. Dies ist während der Onlinedurchführung nicht gegeben“ (Götzlaff et al. 2021, 6). Andere Fachkräfte erlebten die gezwungene Auseinandersetzung mit digitalen Medien demgegenüber als Lernfeld und Kompetenzerweiterung. Eine Fachkraft beschrieb dies wie folgt: …„ich bin jemand, der neue Dinge liebt. Ja und das war natürlich ein super neues Ding und ich habe es total genossen, so kreativ sein zu können“ (Götzlaff 2021, 85). Wenn der Einsatz digitaler Medien ein regulärer Bestandteil der Frühförderung werden soll, muss für die Versorgung der Fachkräfte mit Hard- und Software und für die Verwendung einheitlicher Programme sowie umfassender Schulungen zur Nutzung dieser Programme gesorgt werden. Dadurch kann sichergestellt werden, dass die Kompetenz der Fachkräfte steigt und die Funktionen der Programme ausgeschöpft werden. Eine Fach- 216 FI 4/ 2022 Fachkonzepte aus Therapie und Förderung kraft beschrieb hierzu: „Bei meinem Team war das sehr, sehr zurückhaltend zu Beginn […]. Und ich habe dann aber gemerkt, die haben einfach irre Angst und wissen nicht, worauf sie sich einlassen, sind noch nicht so technikaffin“ (Götzlaff 2021, 112). Der sichere Umgang mit Hard- und Software ermöglicht es, den Fokus auf die Inhalte der Frühförderung zu legen. Die Ergebnisse der beiden Erhebungen machen deutlich, dass es einige spezifische Situationen in der Frühförderung gibt, die nicht im Rahmen eines Online-Kontaktes geschehen sollten, da insbesondere der Beziehungsaufbau zwischen Kind und Fachkraft erschwert wird. Hierzu zählen Erstkontakte, die über eine reine Informationsvermittlung hinausgehen, Diagnostik und das Begegnen in Krisensituationen (z. B. ein lebensverkürzt erkranktes Kind, das sich in der Sterbephase befindet oder Verdachtsfälle von Kindeswohlgefährdung). In der Psychotherapie bestehen bereits konkrete Empfehlungen hinsichtlich der Diagnostik. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPTK) empfiehlt, Diagnostik in der Psychotherapie immer in der persönlichen Begegnung durchzuführen (BPTK 2020). Ausblick Die bislang bestehenden Erkenntnisse zur Online- Frühförderung reichen nicht aus, um grundlegende Empfehlungen geben zu können. Es bleibt sorgfältig zu prüfen, an welcher Stelle und ob eine Leistungserbringung über digitale Medien sinnvoll erscheint. In jedem Fall bietet diese Begleitung von Familien einen Beitrag zum Infektionsschutz und somit auch zum Schutz der Klient*innen und Fachkräfte. Eine der wichtigsten Risiken stellt die nahezu unmögliche Etablierung eines tragfähigen Vertrauens- und Beziehungsverhältnisses zwischen Fachkraft und Kind bzw. Familie im Erstkontakt dar. In diesem Zusammenhang ist auch die Gefahr eines Zurückfallens in das „Ko-Therapeuten- Modell“ (Speck 1983) zu nennen. Bei längerem oder gar ausschließlichem Nutzen von Online- Medien für die Frühförderung besteht die Gefahr einer weniger ganzheitlichen Förderung des Kindes, da eher angeleitet werden kann und der direkte Kontakt z B. durch Korrektur der Körperhaltung, Führung der Hände fehlt. Das Risiko einer zu starken Nutzung digitaler Medien durch die Kinder und die damit in Zusammenhang stehenden bekannten Folgen (z. B. Beeinträchtigung der visuellen Wahrnehmung, Minderung der Konzentrationsfähigkeit, Hyperaktivität etc., Büsching und Riedel 2017) stellen eine besondere Herausforderung für die Online-Frühförderung dar. Ebenso darf Frühförderung kein elitäres Angebot werden, welches Familien ausschließt, die nicht im Besitz der benötigten Ausstattung (z. B. Laptop, PC etc.) sind und diese aufgrund geringer finanzieller Möglichkeiten nicht anschaffen können. Demgegenüber verweisen die Erkenntnisse aus den bisherigen Erfahrungen von Fachkräften darauf, dass eine weitere Untersuchung der Einsetzbarkeit von Online-Frühförderung nahezu eine ethische Verpflichtung der Profession darstellt: „Wir haben zum Beispiel beobachtet, dass Kinder die zwei Fördereinheiten in der Woche online hatten, dass sie als sie im Live-Kontext zurück waren deutlich besser mit verbalen Anleitungen umgehen konnten. […] Und das könnte zum Beispiel auch ein Weg sein zu sagen, ich möchte jetzt etwas an der verbalen Aufnahme, am Aufgabenverständnis, was ausschließlich verbal ist - zur Schulvorbereitung [machen]. Und wenn das online liefe, hätten wir, denke ich, bessere Effekte als live“ (Götzlaff 2021, 110f). Auch der gestiegene Kontakt, Austausch und Beziehungsaufbau zu Klient*innen und Eltern scheint nach bisherigen Erkenntnissen durch die Online-Frühförderung neue Chancen zu erfahren: „Dieser Einbezug der Familien und die Vermittlung von entwicklungsförderlichen Strategien war nie in meiner Arbeit bisher so intensiv wie online, weil ich nur anleiten konnte“ (Götzlaff 2021, 87). 217 FI 4/ 2022 Fachkonzepte aus Therapie und Förderung Es stellt sich demnach die Frage, ob es sich eine Profession leisten kann, bei derart möglichen positiven Effekten eine Methode nicht zu nutzen, weil sie bei zu hoher Nutzung negative Konsequenzen haben kann. Sollte es nicht vielmehr eine Frage nach der Quantität der Nutzung, nicht aber nach dem Einsatz überhaupt sein? Es kann zumindest kein Weg sein, Online-Frühförderung durch Abrechnungsschwierigkeiten zu verhindern. Vielmehr ist eine wissenschaftliche Untersuchung zur Wirksamkeit und Weiterentwicklung dieser Methode notwendig. Prof. Dr. Marianne Irmler Fachhochschule Kiel Sokratesplatz 2 24149 Kiel E-Mail: marianne.irmler@fh-kiel.de Madeleine Morhardt Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Johann-Justus-Weg 147 a 26127 Oldenburg E-Mail: madeleine.morhardt@uni-oldenburg.de Literatur AFFBY (Arbeitsstelle Frühförderung Bayern) (2021): Informations- und Ideenplattform für Frühförderstellen. In: https: / / www.fruehfoerderung-bayern.de/ coronavirus/ informations-und-ideenplattform-fuer-fruehfoerderstellen, 5. 1. 2022 Benita, N., Gordon-Hacker, A., Gueron-Sela, N. (2020): Sleep Through Toddlerhood: The Distinct Roles of Overall Media Use and Use of Media to Regulate Child Distress. 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Gerade in inklusiven Klassen ist wichtig, dass im Grundschulalter das sprachliche Können festgestellt wird. Mit diesem normierten Sprachentwicklungsscreening werden grammatische Leistungen der Kinder einer 2. Klasse innerhalb einer Schulstunde durch die Lehrkraft erhoben. Es wird festgestellt, ob Kinder beim Bestimmen von Artikeln und Pluralformen, beim Einsetzen der Akkusativ- und der Dativform sowie in der Subjekt-Verb- Kongruenz altersgerechte Fähigkeiten zeigen. Lehrkräfte gewinnen einen Überblick über die Grammatikfähigkeiten der Kinder in ihrer Klasse und können darauf aufbauend weitere Maßnahmen planen. Sprach-Check 2. Klasse
