Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Aus der Praxis: "Ich hatte mir alles ganz anders vorgestellt"
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2023
Margret Ziegler
Mit 8 Monaten wurde Michel von seinen Eltern erstmals wegen einer Schlafstörung mit z.T. halbstündlichem Erwachen in der Nacht vorgestellt. Michel müsse nicht nur in der Nacht, auch am Tag ständig beruhigt und reguliert werden. Die ersten Monate zu Hause habe er bis zu 6 Stunden am Tag geschrien. Er sei ein „high need baby“. Damit hätten sich die Eltern nun mittlerweile abgefunden, aber die Nächte halten sie nun nicht mehr lange durch.
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25 Frühförderung interdisziplinär, 42.-Jg., S.-25 - 28 (2023) DOI 10.2378/ fi2023.art03d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS „Ich hatte mir alles ganz anders vorgestellt“ Beziehungsaufbau zum Baby bei psychischen Belastungen oder Erkrankungen Margret Ziegler Michel Mit 8 Monaten wurde Michel von seinen Eltern erstmals wegen einer Schlafstörung mit z. T. halbstündlichem Erwachen in der Nacht vorgestellt. Michel müsse nicht nur in der Nacht, auch am Tag ständig beruhigt und reguliert werden. Die ersten Monate zu Hause habe er bis zu 6 Stunden am Tag geschrien. Er sei ein „high need baby“. Damit hätten sich die Eltern nun mittlerweile abgefunden, aber die Nächte halten sie nun nicht mehr lange durch. Michel war sehr erwünscht. Die Mutter hatte sich immer einen kleinen Jungen - wie eben den Michel aus Lönneberga - gewünscht: frech, lustig, lebensfroh. Das Buch von Astrid Lindgren war eins ihrer Lieblingsbücher ihrer Kindheit gewesen. Die Schwangerschaft war erst nach langem Kinderwunsch und mit IVF (In-vitro-Fertilisation) eingetreten und belastet mit vielen Ängsten, das Kind zu verlieren, und Stress am Arbeitsplatz. Die Eltern, beide Akademiker, waren 2 Jahre zuvor aus Mitteldeutschland nach München gezogen und die Mutter hatte sich in ihrer neuen Arbeitswelt, Projektleitung in einem mittelgroßen Unternehmen, noch nicht gut eingefunden. Noch nach 8 Monaten fällt es der Mutter schwer, über die Entbindung zu sprechen, die für beide Eltern traumatisch verlaufen war. Bei einer Routineuntersuchung in der 31. Schwangerschaftswoche wurde ein pathologisches CTG (Cardiotokografie, dabei werden gleichzeitig die Herztätigkeit des Kindes und die Wehenaktivität gemessen) festgestellt, es wurden bereits Wehen aufgezeichnet, und aus der Praxis heraus wurde Frau H. mit Notarzt in die Geburtsklinik verlegt. Trotz der Gabe von wehenhemmenden Medikamenten war 4 Stunden später Michel spontan geboren und musste mit Atemunterstützung auf die Neugeborenen-Intensivstation verlegt werden. Wegen der Corona- Einschränkungen durfte der Vater erst kurz vor der Entbindung in den Kreißsaal. Beide Eltern hatten sich unter der Entbindung und danach allein und überfordert gefühlt, waren voller Ängste um ihr Kind. Michel war in den ersten Lebenswochen mit einer Sepsis und hohem Beatmungsbedarf schwer krank. Nach 3 Wochen konnte er auf die Neugeborenenstation verlegt werden und erholte sich dann aber rasch, nahm gut zu und konnte sogar bald gestillt werden. In den Wochen, als Michel in der Kinderklinik lag, habe die Mutter nur funktioniert, aufkommende Gefühle weggeschoben. Sie war ständig in der Klinik, fühlte sich immer schwer erschöpft. Bei Michel begannen fast unmittelbar nach der Entlassung die exzessiven Schreiphasen, er schlief am Tag kaum, anfangs in der Nacht noch relativ gut. Trotz Elternzeit des Vaters für 1 Monat fand die Familie nicht in einen Rhythmus, weitere Unterstützung fehlt. Frau H. erzählt von ihrer Traurigkeit, neben der massiven Erschöpfung. Sie weine oft, frage sich, warum alles so anders ist als erwartet, immer noch, obwohl Michel nun gesund ist und sich gut entwickelt. Schon in der Klinik war ihr Michel immer wieder fremd oder sie habe sich auch „fehl am Platz“ gefühlt. Sie habe sich an ihr Baby „gewöhnt“, aber das Glücksgefühl, von dem andere Frauen berichten, kenne sie nicht. Sie fühle sich oft einsam und leer und sehr schuldig gegenüber ihrem 26 FI 1/ 2023 Aus der Praxis kleinen Michel und ihrem Mann. Ab und zu gebe es jetzt aber auch schöne Momente, in denen Michel auch sie anschaue und „erzähle“. Sie ist sehr froh, dass das Stillen geklappt hat und sie ihm darüber am Tag und in der Nacht Nähe geben kann. In der ärztlichen und psychologischen Behandlung und Beratung in der „Münchener Sprechstunde für Schreibabys“ konnten die schöne Entwicklung von Michel und das gute Gedeihen bestätigt werden. Michel hatte aber immer noch große Probleme, sich selbst zu beruhigen und zu regulieren, schien rasch müde, quengelte immer wieder. Schließlich versuchte die Mutter ihn mit Stillen zu beruhigen, was für kurze Zeit gelang. Auf dem Schoß der Mutter war Michel an allem sehr interessiert, forderte immer wieder Neues ein, lächelte auch mit dem Vater und der Untersucherin; den Blick zur Mutter schien er fast zu vermeiden, auch als sie ihn liebevoll ansprach. Die Peripartalzeit (die Zeitspanne zwischen Schwangerschaft, Entbindung und 12 Monate nach Entbindung) ist eine besonders vulnerable Phase für psychische Erkrankungen beider Eltern. Manifeste Wochenbettdepressionen treten bei ca. 10 % der Mütter peripartal auf. Auch andere psychische Erkrankungen sind in dieser Phase häufig, wie Angst- und Zwangsstörungen (ca. 10 %), postpartale Psychose (0,1 - 0,2 %) und Posttraumatische Belastungsstörung (1 - 2 %) (Besier und Ziegenhain 2016). Auch Väter zeigen gehäuft postpartale psychische Erkrankungen (ca. 10 %); der Forschungsstand ist noch gering (Besier und Ziegenhain 2016). Die Symptomatik entspricht einer depressiven Episode und wird auch als solche eingeordnet. Die Mütter sprechen von massiver Erschöpfung, innerer Leere, Antriebslosigkeit und Freudlosigkeit, Scham- und Schuldgefühlen. Es können auch existenzielle Ängste und Zwangsgedanken oder somatische Beschwerden im Vordergrund stehen, z. B. Schlafstörungen, Herzrasen, Gewichtsabnahme, Schwindelattacken. Suizidäußerungen müssen sehr ernst genommen werden. In den Vorgeschichten waren häufig schon depressive Episoden in belastenden Situationen aufgetreten, z. B. vor Prüfungen, bei Trennungen oder Verlusten. Wochenbettdepressionen werden immer wieder verkannt; die Frauen fühlen sich missverstanden, verstehen auch sich selbst nicht (Besier und Ziegenhain 2016). Die Herkunftsfamilien und Partner reagieren oftmals hilflos und überfordert; wohlmeinende Äußerungen wie: „Stell dich nicht so an“, „Du musst nur öfters rausgehen“ können zusätzlich sehr kränkend sein. Nicht selten wird in sogenannten Schreibaby- Beratungsstellen erstmals der Verdacht auf eine Wochenbettdepression geäußert. Immer wieder erleben wir eine Erleichterung bei den betroffenen Frauen und eine große Bereitschaft, eine spezifische Behandlung in Anspruch zu nehmen. Die Ursachen für eine Wochenbettdepression sind einerseits eine individuelle Disposition für eine psychische Erkrankung, psychosozialer Stress, der zu einer Überforderung führt (z. B. Trennung vom Partner, soziale Isolation, existenzielle Sorgen und Ängste), andererseits finden sich häufig Belastungsfaktoren im Zusammenhang mit der Mutterschaft: Zeugung (langer Kinderwunsch, IVF), Schwangerschaft (z. B. Ängste vor einer Erkrankung des Babys), Entbindung (z. B. traumatisch erlebte Entbindung, Frühgeburt), Ernährung des Babys (z. B. Fütter- und Stillprobleme) und Beziehungsaufbau zum Kind. Viele Mütter möchten mit hohem Selbstanspruch alles perfekt für sich und das Kind haben und setzen sich selbst massiv unter Druck. Unterstützungsangebote von außen fehlen oder sind kränkend; die Beziehung zur eigenen Mutter kann problematisch sein, oder die eigene Mutter lebt weit entfernt und kann die Mutter nicht entlasten, wie dies bei Flüchtlingsfamilien häufig der Fall ist. Im Kontakt mit dem Baby kann eine fehlende Abstimmung und geringere Sensitivität auffallen (Besier und Ziegenhain 2016). Es fällt den Müttern häufig schwerer, die Signale des Kindes zu lesen - ist es hungrig, müde oder braucht es Körperkontakt, wenn es schreit? Mütter mit Wochenbettdepressionen fühlen sich gegenüber ihrem 27 FI 1/ 2023 Aus der Praxis Baby/ Kleinkind oft extrem unsicher, häufig fühlen sie sich vom Kind auch abgelehnt, fühlen sich angeschrien. Babys reagieren rasch auf die Stimmung und den Affekt der Mutter; schon im Alter von wenigen Monaten zeigen sie Blickabwendung, schauen nicht ins Gesicht der depressiven Mutter, drehen sich z. B. aktiv von ihr weg. Dieses Verhalten ist sehr kränkend für die Mütter; sie erleben, dass ihr Baby mit anderen Personen lächelt und in Kontakt geht, nur mit ihnen selbst kaum. Die Affektabstimmung mit dem Baby gelingt seltener; sie haben weniger Spaß und Freude miteinander. Schwangerschaft, Entbindung und Peripartalzeit fordern eine hohe physiologische und intrapsychische Anpassungsleistung von Seiten der Mutter. Daniel Stern beschreibt in seinem Aufsatz „Die Mutterschaftskonstellation“ die Hauptthemen der intrapsychischen Veränderungen in dieser Phase. Zentrale Themen sind Leben und Wachstum, Beziehungsaufbau zum Baby, das unterstützende Umfeld und die Identität als Frau (Stern 1998). Diverse Belastungen, wie auch Frühgeburtlichkeit und Regulationsstörungen des Babys, Krisen, Erkrankungen peripartal, aber auch geringe Ressourcen, psychische Belastungen und Erkrankungen in der Vorgeschichte der Mutter und mangelnde Unterstützung oder Konflikte mit den Herkunftsfamilien erschweren die Anpassung und den Übergang zu einer gelingenden Elternschaft. Wie in dem Fallbeispiel aus der Schreibabyambulanz dargestellt, suchen die Eltern zunächst Unterstützung und Beratung bei Regulationsstörungen des Babys, wie exzessivem Schreien, Schlaf- und Fütterstörungen. Sie fragen sich, ob kindliche Belastungen, wie Geburtsumstände, die Frühgeburtlichkeit oder Erkrankungen, für die kindliche Störung ursächlich sind und welche Möglichkeiten es gibt, dem Baby zu helfen und damit auch sie, die Eltern zu entlasten (Ziegler 2016). Sie trauen sich selbst nicht mehr, etwas zu verändern, aus Angst zu scheitern oder eine Verschlimmerung herbeizuführen. In einer vertrauensvollen Atmosphäre können die Eltern dann auch über ihre eigenen psychischen Belastungen sprechen. Interventionen Fallbeispiel Michel Beim ersten Termin wurde beiden Eltern rückgemeldet, wie belastend für sie und für Michel wohl die Geburtsumstände, Frühgeburtlichkeit, Erkrankung von Michel zunächst waren; wie geduldig und liebevoll sie mit ihrem Baby umgehen, wie aber die Belastungen noch nachwirken. Frühgeburtlichkeit ist ein Risiko für Regulationsschwierigkeiten und vermehrte Irritabilität des Babys. Die Aufklärung und Entwicklungsberatung entlasteten die Eltern sehr bzgl. ihrer Insuffizienz- und Schuldgefühle. Zur Behandlung der Schlafstörung des Babys wurden die Eltern zunächst gebeten, ein Verhaltens-Schlafprotokoll (24-Stunden-Protokolle) über 2 Wochen zu erstellen; darin war deutlich, dass Michel am Tag noch keinen Rhythmus gefunden hatte, das Einschlafen am Abend mit immer wieder Stillen dauerte meist 1 - 2 Stunden, die Nächte waren mehrfach mit kurzem Weinen und Stillen unterbrochen. Mit stabilerem Rhythmus, regelmäßigen Schlafenszeiten am Tag (in diesem Alter 3 Tagesschläfchen) und Trennung von Einschlafen und Stillen zeigten sich nach 3 bis 4 Wochen deutliche Fortschritte; auch war Michel am Tag zufriedener, kann sich selbst besser regulieren und beruhigen. Bei Reizüberflutung kamen aber immer noch Schreiphasen und auch Schlafprobleme vor. Mit beiden Eltern konnten die psychischen Belastungen rund um die Schwangerschaft und Entbindung thematisiert werden. Frau H. war bereit, eine Psychiaterin aufzusuchen, die eine mittelschwere depressive Episode diagnostizierte. Eine medikamentöse Behandlung der Depression, die auch während des Stillens durchaus möglich ist, wollte die Mutter nicht. Mit Unterstützung durch die Eltern-Säuglings-Kleinkind-Psychotherapie in unserer Ambulanz, einer externen Psychotherapie und Entlastung im Alltag durch eine Haushaltshilfe konnte sich die Mutter langsam erholen und besserte sich die depressive Symptomatik. 28 FI 1/ 2023 Aus der Praxis Auch für den Vater waren die Beratungstermine sehr wichtig, er versuchte zu verstehen, was in seinem kleinen Sohn wohl vorging. Die Eltern-Säuglings-Kleinkind-Psychotherapie fokussiert den Beziehungsaufbau zwischen Eltern und Baby. Die Themen der Mutterschaftskonstellation haben Raum, auch traurige oder negative Gefühle. Gelingende Beziehungsmomente zwischen Elternteil und Baby werden unterstützt, z. B. wenn das Baby die Mutter anschaut und Kontakt mit Lautieren aufnimmt. Die videogestützte Kommunikationstherapie ist hierzu eine Möglichkeit - mit dem gemeinsamen Betrachten einer schönen Sequenz und Eingehen auf die dabei aufkommenden Gefühle (Wollwerth und Papousek 2004). Peripartale psychische Erkrankungen und Belastungen können in der Regel gut behandelt werden, haben eine gute Prognose für die erkrankten Mütter bzw. Väter. Das Augenmerk sollte auch auf eine gelingende Eltern-Kind-Beziehung gelegt werden, damit sich das Kind psychoemotional gut entwickeln kann Dr. Margret Ziegler Kbo-Kinderzentrum München Heiglhofstraße 65 81377 München E-Mail: Margret.Ziegler@kbo.de Literatur Besier, T., Ziegenhain, U. (2016): Postpartale psychische Erkrankungen. In: Mall, V., Friedmann, A. (Hrsg): Frühe Hilfen in der Pädiatrie. Berlin Heidelberg, Springer Verlag, 65 - 74 Stern, D. (1998): Die Mutterschaftskonstellation: Eine vergleichende Darstellung verschiedener Formen der Mutter-Kind-Psychotherapie. Stuttgart, Klett-Cotta Verlag Wollwerth, R., Papousek, M. (2004): Das Münchner Konzept einer kommunikationszentrierten Eltern- Säuglings-/ Kleinkind-Beratung und -Psychotherapie. In: Papousek, M., Schieche, M., Wurmser, H. (Hrsg.): Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Bern, Huber Verlag, 281 - 310 Ziegler, M. (2016): Schreibabyambulanz und stationäre Sozialpädiatrie. In: Mall, V., Friedmann, A. (Hrsg.): Frühe Hilfen in der Pädiatrie. Berlin Heidelberg, Springer Verlag, 161 - 178
