Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Aus der Praxis: Familienbildung mit medizinischer Unterstützung und die damit einhergehenden Herausforderungen
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2023
Petra Thorn
Immer mehr Menschen greifen auf medizinische Unterstützung zurück, um ein Kind zu bekommen. Dies hat sowohl mit dem noch immer ansteigenden Alter der Erstgebärenden zu tun als auch mit der zunehmenden Akzeptanz unkonventioneller Familienstrukturen. Behandlungen mit Samen- und Eizellen der Wunscheltern werden als unproblematisch für die so entstandene Familie erachtet, da dies zu einer Familienzusammensetzung führt, bei der die Kinder genetisch von ihren Eltern abstammen. Möglichkeiten der Familienbildungen mithilfe Dritter (Samenspende, Eizellspende, Embryonenspende) werden noch immer kontrovers diskutiert, weil diese nicht nur von heterosexuellen Paaren, sondern auch von homosexuellen und alleinstehenden Personen in Anspruch genommen werden. Zudem werden vor allem die Eizellspende und die Leihmutterschaft mit der Gefahr der Ausbeutung und Kommerzialisierung verbunden. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die momentanen Diskussionen.
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29 Frühförderung interdisziplinär, 42.-Jg., S.-29 - 36 (2023) DOI 10.2378/ fi2023.art04d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS Einleitung Seit Ende der 1970er Jahre können Paare mit Fruchtbarkeitsstörungen mithilfe der sog. „künstlichen Befruchtung“ (auch IVF - In-vitro-Fertilisation) ihren Kinderwunsch erfüllen. Die IVF mit den Gameten (Samen- und Eizellen) der Wunscheltern ist mittlerweile zu einem Routineverfahren geworden. In Europa wurden im Jahr 2019 über 900.000, in Deutschland über 65.000 Behandlungszyklen durchgeführt; letztere führten bei uns zur Geburt von ca. 21.000 Kindern (Deutsches IVF Register 2020, ESHRE 2020). Die Behandlung mit Spendersamen (DI - donogene Insemination) war lange Zeit eine tabuisierte Form der Familienbildung mit medizinischer Hilfe. Seit den 1990er Jahren greifen jedoch nicht nur heterosexuelle, sondern auch lesbische Paare und seit ca. 5 Jahren immer mehr alleinstehende Frauen darauf zurück, um ihren Kinderwunsch umzusetzen. Es wird vermutet, dass vor allem die Anzahl der lesbischen und alleinstehenden Frauen in den letzten Jahren stark gestiegen ist. Es fehlen jedoch belastbare Zahlen, um dies zu belegen. Dieser Anstieg ist nicht nur auf die größere gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber unkonventionellen Familienformen zurückzuführen, sondern auch auf die größere rechtliche Sicherheit, zu der das 2018 in Kraft getretene Samenspenderregistergesetz geführt hat. Seit 2013 wird zudem die Embryonenspende durchgeführt, die unter bestimmten Bedingungen in Deutschland erlaubt ist. Darüber hinaus gibt es Wunscheltern, die eine Behandlung mit Embryonenspende, Eizellspende oder Doppelspende im Ausland durchführen. Eizell- und Doppelspenden stehen in Deutschland unter Verbot und werden kontrovers diskutiert, sind jedoch in vielen europäischen und außereuropäischen Ländern erlaubt, und Kliniken im Ausland haben sich auf deutsche Wunscheltern eingestellt (Webseite in deutscher Sprache, deutschsprachiges Personal). Familienbildung mit medizinischer Unterstützung und die damit einhergehenden Herausforderungen Petra Thorn Zusammenfassung: Immer mehr Menschen greifen auf medizinische Unterstützung zurück, um ein Kind zu bekommen. Dies hat sowohl mit dem noch immer ansteigenden Alter der Erstgebärenden zu tun als auch mit der zunehmenden Akzeptanz unkonventioneller Familienstrukturen. Behandlungen mit Samen- und Eizellen der Wunscheltern werden als unproblematisch für die so entstandene Familie erachtet, da dies zu einer Familienzusammensetzung führt, bei der die Kinder genetisch von ihren Eltern abstammen. Möglichkeiten der Familienbildungen mithilfe Dritter (Samenspende, Eizellspende, Embryonenspende) werden noch immer kontrovers diskutiert, weil diese nicht nur von heterosexuellen Paaren, sondern auch von homosexuellen und alleinstehenden Personen in Anspruch genommen werden. Zudem werden vor allem die Eizellspende und die Leihmutterschaft mit der Gefahr der Ausbeutung und Kommerzialisierung verbunden. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die momentanen Diskussionen. 30 FI 1/ 2023 Aus der Praxis Künstliche Befruchtung mit Gameten der Wunscheltern Die IVF und ICSI (intrazytoplasmatische Spermieninjektion - Behandlungsmethode bei stark eingeschränktem männlichem Spermiogramm) sind Verfahren, die bei entsprechenden Diagnosen angewandt und durch das Krankenkassensystem mitfinanziert werden. Die mit der hormonellen Stimulation und der Eizellentnahme einhergehenden Risiken sind minimal (lt. Deutschem IVF Register (Deutsches IVF Register 2020) erleiden 0,3 % aller Frauen eine Überstimulation, 0,8 % andere Komplikationen, überwiegend vaginale Blutungen), und die körperlichen Belastungen sind für viele Frauen gut erträglich. Nicht zu unterschätzen sind jedoch die emotionalen Belastungen während der Behandlung, das sog. „Auf und Ab der Gefühle“, die von Frauen und Männern als deutlich schwieriger zu bewältigen empfunden werden als die körperlichen Auswirkungen (Wischmann 2012). Eine Herausforderung ist zudem die hohe Zahl von Mehrlingen, die sich aufgrund des Transfers von mehr als einem Embryo ergeben. Noch immer werden in vielen Fällen zwei Embryonen übertragen, und dies führt zu einer Mehrlingsrate von ca. 20 %. In anderen europäischen Ländern, in denen die Selektion aller Embryonen möglich ist und in denen routinemäßig nur ein Embryo übertragen wird, ist die Zwillingsrate deutlich niedriger: in Großbritannien liegt sie bei ca. 14 %, in Belgien bei ca. 10 % und in Schweden bei ca. 4 %; die Geburtenrate ist in diesen Ländern nicht niedriger als in Deutschland (Beier et al. 2017, 53). Wie hoch nach wie vor das gesellschaftliche Tabu um Kinderwunsch und medizinische Behandlung ist, zeigt die geringe Zahl der Eltern, die ihre Kinder über deren Zeugungsgeschichte aufklären. Eine qualitative Studie konnte bereits vor vielen Jahren belegen, dass die Aufklärung für die Kinder zwar nicht mit Schwierigkeiten einhergeht (Siegel et al. 2008), aber die Aufklärungsrate scheint nach wie vor gering zu sein. Ludwig und KollegInnen zeigen auf, dass nur ca. 2,3 % aller Eltern ihre Kinder aufgeklärt haben. Zwar beabsichtigen dies über 65 % der Eltern, aber sie nannten zahlreiche Gründe, die in ihren Augen gegen eine Aufklärung sprachen. Viele gingen davon aus, dass dies für ihre Kinder nicht von Relevanz ist und dass sie ihre Kinder „schützen“ müssen (Ludwig et al. 2008). Auch die aktuellen Erfahrungen der Autorin in der psychosozialen Beratung zeigen auf, dass viele Eltern über die Geburt ihres Kindes selbstverständlich glücklich und erleichtert sind. Die Aufklärung über die medizinische Hilfe hingegen ist für die meisten schwierig, da sie Ablehnung und Kritik am medizinischen Weg der Erfüllung ihres Kinderwunsches befürchten. Samenspende Die Samenspende ist bei heterosexuellen Paaren mittlerweile eine anerkannte Behandlung, und im Rahmen des 2018 in Kraft getretenen Samenspenderregistergesetzes (SaRegG) wurden wichtige Aspekte für diese Behandlungen geregelt. Hierzu gehören das Auskunftsrecht der Kinder, die zentrale Dokumentation der Spenderdaten und die gesetzliche Freistellung des Samenspenders (er kann nicht zu Unterhalt u. Ä. verpflichtet werden). Zu beachten ist allerdings, dass die gesetzlichen Regelungen nur greifen, wenn die Behandlung nach Inkrafttreten des SaRegG im medizinischen System durchgeführt wurde. Private Inseminationen und Behandlungen, die vor 2018 zur Zeugung eines Kindes geführt haben, unterliegen nicht den Bestimmungen des SaRegG. Auch Spender, deren Samen vor 2018 verwendet wurden, genießen nicht die o. a. Freistellung. Bei Behandlungen im Ausland ist grundsätzlich das Gesetz des Behandlungslandes maßgeblich. Dieser Situation ist es geschuldet, dass je nach Zeitpunkt und Land der Behandlung die so gezeugten Menschen und die Spender unterschiedlichem Recht unterliegen und dies zu vielen Fragen und Verunsicherungen führen kann - bei den so gezeugten Menschen, ihren Eltern, den Samenspendern und bei den beteiligten Fachkräften (Thorn et al. 2021). 31 FI 1/ 2023 Aus der Praxis In den letzten Jahren hat sich die Patientengruppe deutlich verändert. Es wird vermutet, dass jährlich ca. 1.000 bis 1.500 Frauen eine Samenspende durchführen. Auch wenn keine belastbaren Zahlen über die medizinische Behandlung mit Samenspende vorliegen, zeigen Zahlen aus der psychosozialen Kinderwunschberatung aus dem Jahr 2019 auf, dass bei diesen Ratsuchenden der Anteil alleinstehender Frauen (ca. 16 %) und lesbischer Paare (ca. 13 %) relativ hoch ist und mit großer Wahrscheinlichkeit in den letzten Jahren weiter angestiegen ist (Thorn 2020). Problematisch kann bei lesbischen Paaren die immer noch erforderliche sog. „Stiefkindadoption“ sein. Obgleich sich der bereits 2017 vom Justizministerium beauftragte „Arbeitskreis Abstammungsrecht“ in seinen Empfehlungen dafür aussprach, lesbischen Paaren - analog zu dem Verfahren bei heterosexuellen Paaren - eine Zweitmutterschaft zu ermöglichen, die nach Einwilligung in die Samenspende durch beide Mütter nach der Geburt in Kraft tritt, wurde dies bis heute nicht umgesetzt (Arbeitskreis Abstammungsrecht 2017). Praxiserfahrungen zeigen, dass der gerichtliche Vorgang der noch erforderlichen „Stiefkindadoption“ zwischen wenigen Monaten und einigen Jahren dauern kann. In dieser Zeit bleibt das Kind ohne sichere rechtliche Zuordnung zum zweiten Elternteil und ist somit schlechter gestellt als ein Kind mit heterosexuellen Eltern. Die Samenspende bei alleinstehenden Frauen wird kontrovers diskutiert. Kritisiert wird vor allem, dass Kinder in dieser Familienzusammensetzung nur durch einen Elternteil juristisch, finanziell und emotional abgesichert sind. Im angelsächsischen Ausland ist diese Gruppe jedoch in den letzten Jahren stark angestiegen, 1 und es kann davon ausgegangen werden, dass es diesen Trend zeitverzögert auch hier geben wird. Deutliche Zeichen dafür sind u. a. die entsprechenden Ratgeber (u. a. Steiner 2015, Mundlos 2017, Bolder 2020, Schiller 2022), die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden, sowie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Familienzusammensetzung (für eine Zusammenfassung von Studien zur Kindesentwicklung und Familiendynamik nach Gametenspende siehe z. B. Golombok 2015, Golombok 2020). Hinzu kommen drei weitere Formen der Samenspende. Für einige Wunscheltern ist ein zunächst anonymer Spender keine Option, denn sie wollen dem Kind von Beginn an die Möglichkeit eröffnen, Kontakt mit dem Erzeuger zu pflegen. Zudem ist es für manche von Bedeutung, dass sie mit dem Spender verwandt sind und sich die Gene der eigenen Herkunftsfamilie im Kind wiederfinden. In diesen Fällen kann ein Bruder oder Cousin des sozialen Elternteils spenden. Darüber hinaus gibt es nach wie vor Paare, die eine Samenspende im Ausland vorziehen. Gründe hierfür liegen in der teils größeren Transparenz der Spender (sog. umfassende Profile, Babyfotos, handschriftlicher Brief des Spenders o. Ä.), teils auch darin, dass Wunscheltern zu bestimmten Ländern einen besonderen Bezug haben (sozialer Elternteil oder beide kommen aus dem Ausland, ein Spender mit gleichem ethnischen Hintergrund ist wichtig). Letztendlich hat sich in den letzten Jahren eine weitere Variante der Familienbildung verbreitet, die auch mit einer Samenspende einhergehen kann, die der Co-Elternschaft. Dies sind Männer und Frauen, die gemeinsam ihren Kinderwunsch umsetzen möchten, ohne eine Paarbeziehung zu leben. Die Schwangerschaft wird in dieser Konstellation durch Geschlechtsverkehr oder durch eine private oder ärztliche Insemination herbeigeführt. Zu bedenken ist auch hier, dass das SaRegG nur dann greift, wenn die Behandlung im medizinischen System durchgeführt wurde. Embryonenspende und Doppelspende Die Embryonenspende wird in Deutschland durchgeführt, wenn sog. „überzählige“ Embryonen anfallen. Dies kann bei Paaren der Fall sein, die ihre 32 FI 1/ 2023 Aus der Praxis Kinderwunschbehandlung und Familienbildung abgeschlossen haben und über Embryonen verfügen, die sie selbst nicht mehr nutzen möchten. Sie müssen dann entscheiden, ob diese Embryonen weiterhin kryokonservierte bleiben, vernichtet oder einem anderen Paar gespendet werden. Dabei darf es sich nicht um befruchtete Vorkerne oder um Embryonen handeln, die explizit für eine Spende hergestellt wurden. Seit 2013 gibt es in Deutschland das „Netzwerk Embryonenspende“ (www.netzwerk-embryonenspende.de), das sich der Vermittlung von Embryonen angenommen hat. Bislang führten diese Vermittlungen zur Geburt von ca. 35 Kindern. Wie in vielen Ländern ist die Zahl der Embryonen, die zur Spende freigegeben werden, gering, denn viele Paare erachten diese als eigene Kinder, die in einer ihnen unbekannten Familie aufwachsen würden (de Lacey 2005). Daher ist die Warteliste von Wunscheltern, die einen Embryo annehmen möchten, lang, und nicht wenige überlegen eine Behandlung im Ausland. Im Ausland wird diese Spende in zwei Formen angeboten: Es werden, wie in Deutschland, Embryonen eines Paares nach dessen Behandlungsabschluss gespendet, und Reproduktionsmediziner kreieren Embryonen aus einer Samen- und einer Eizellspende („Doppelspende“). Der für die Kinder möglicherweise bedeutende Unterschied ist, dass Ersteres dazu führt, dass es Vollgeschwister in einer weiteren Familie gibt, Letzteres zu einer vermutlich größeren Anzahl von Halbgeschwistern im Ausland, denn sowohl von der Spenderin als auch vom Spender wird es weitere Kinder nach Spende sowie eigene Kinder geben. Ob die im Ausland gezeugten Kinder ein Auskunftsrecht haben und die Identität der Spenderin/ des Spenders erfahren können, ist von der gesetzlichen Regelung im Behandlungsland abhängig. Behandlungszahlen im Ausland sind nicht bekannt, in der Beratung zeigt sich jedoch, dass nicht nur heterosexuelle Eltern, sondern auch lesbische und alleinstehende Frauen sowohl auf die Embryonenals auch auf die Doppelspende zurückgreifen, um ihre Familie zu gründen. Eizellspende Die Eizellspende ist in Deutschland verboten, das Verbot hält Wunscheltern jedoch nicht davon ab, diese Behandlung im Ausland durchzuführen. Wie bei der Samenspende fehlen auch hier belastbare Zahlen, es wird jedoch vermutet, dass jährlich mindestens 2.000 Paare eine Behandlung durchführen. Daten aus dem Jahr 2019 im Bereich der psychosozialen Kinderwunschberatung zeigen, dass rund 5 % aller Beratungen in Anspruch genommen wurden, um eine Behandlung mit Eizellspende im Ausland zu thematisieren (Thorn 2020). Mit einiger Wahrscheinlichkeit stagniert diese Zahl nicht, sondern steigt weiter an. Das Verbot der Eizellspende wird von vielen Ratsuchenden infrage gestellt, und die Hemmschwelle, dafür ins Ausland zu reisen, ist mittlerweile sehr niedrig. Wie bei der Samenspende sind auch bei einer Zeugung mittels Eizellspende die frühzeitige Aufklärung des Kindes und die Möglichkeit, die Spenderin als genetische Erzeugerin kennenzulernen, wichtig. Ersteres wird immer weniger hinterfragt, die Frage des Auskunftsrechts ist allerdings - wie bei der Embryonen- oder Doppelspende - von der Gesetzgebung des Behandlungslandes abhängig. In der Beratung wird jedoch nicht selten deutlich, dass Wunscheltern wenig bis kein Wissen über die gesetzlichen Möglichkeiten ihres zukünftigen Kindes haben. In einigen Ländern wird die Eizellspende auch als „Egg-sharing“ praktiziert. Bei dieser Vorgehensweise spendet eine Frau, die sich einer IVF unterzieht, einen Teil ihrer Eizellen. Grund hierfür ist u. a., dass die Behandlungskosten dann geringer sind, und dies ist in Ländern mit einem hohen Eigenanteil an Behandlungskosten von Bedeutung. Darüber hinaus wird damit vermieden, dass sich Frauen nur der Spende wegen einem medizinischen Eingriff unterziehen. Allerdings kann das „Egg-sharing“ dazu führen, dass diese Frauen stärker stimuliert werden, damit mehr Eizellen heranreifen, und sie damit ein höheres Risiko auf 33 FI 1/ 2023 Aus der Praxis sich nehmen. Auch können die Eizellen mit besseren Einnistungschancen für die eigene Behandlung verwendet werden und somit die Spendereizellen geringere Qualität aufweisen. Darüber hinaus passiert es, dass die Behandlung mit der gespendeten Eizelle zu einer Lebendgeburt führt, die eigene Behandlung jedoch nicht; dies kann, wenn nicht im Vorfeld ausführlich in der Beratung thematisiert, zu einer emotionalen Belastung führen. Zahlreiche Studien belegen, dass die Entwicklung der Kinder nach allen Formen von Gametenspende unauffällig ist (Golombok 2015, Golombok 2020). Frauen, die Eizellen gespendet haben, bedauern dies nicht und weisen in Nachuntersuchungen nur sehr selten (in ca. 0,5 %) Behandlungskomplikationen auf (z. B. Cordier et al. 2020). Eine Nachuntersuchung von 141 Frauen mit Schwangerschaften nach Eizellspende an Berliner Kliniken zeichnet jedoch ein dramatisches Bild: Rund 45 % dieser Schwangerschaften waren Mehrlingsschwangerschaften, rund 11 % der Mütter waren älter als 50 Jahre, bei ca. 34 % der Einlingsschwangerschaften, 63 % der Zwillingsschwangerschaften und 89 % der höhergradigen Mehrlingsschwangerschaften kam es zu einer Frühgeburt. Hinzu kam, dass in vielen Fällen die Behandlung in Ländern durchgeführt wurde, in denen die Spenderin anonym bleibt; die Kinder können daher nicht in Erfahrung bringen, von wem sie abstammen (Altmann et al. 2021). Diese Behandlungsfolgen werden von den Familien und dem deutschen Gesundheitssystem getragen. Auf die wichtige Bedeutung der ärztlichen und psychosozialen Beratung vor einer Eizellspende deuten die Autoren indirekt hin: Sie schreiben u. a., dass die Frauen wenig Wissen um die Risiken haben und daher die Eizellspende in der medizinischen Betreuung nicht erwähnen. Aber auch das medizinische Personal frage in vielen Fällen nicht proaktiv, obwohl möglicherweise das Alter der werdenden Mutter einen deutlichen Hinweis geben könnte. Diese Studie zeigt auf, wie unerlässlich die medizinische und psychosoziale Beratung ist. Psychosoziale Beratung Da ungewollte Kinderlosigkeit und reproduktionsmedizinische Eingriffe mit emotionalen Belastungen einhergehen können und für manche Menschen eine existenzielle Krise bedeuten, ist ein Beratungsangebot wichtig. Ziele der Beratung sind eine Normalisierung des Erlebten, das An- und Durchsprechen von Lebensalternativen, wozu auch die Möglichkeiten sozialer Elternschaft (Adoption, Pflegschaft, Gametenspende) gehören, und das Aussöhnen mit dem Schicksal. Der unerfüllte Kinderwunsch geht mit Trauerreaktionen einher, die nicht erst am Ende, wenn Ratsuchende mit einem Leben ohne Kind konfrontiert sind, relevant werden. Bereits früh in der Auseinandersetzung müssen sich Paare damit abfinden, ein Kind nicht spontan zeugen zu können, auf „high-tech“ Reproduktionsmedizin angewiesen zu sein und/ oder über eine Samen- oder Eizellspende oder über Embryonenspende, Adoption oder die Aufnahme eines Pflegekinds entscheiden zu müssen. Dies erfordert nicht nur eine innere Flexibilität, sondern eine Auseinandersetzung mit eigenen moralischen Grenzen, immer wieder Abschied von gewohnten Familienvorstellungen und eine Auseinandersetzung mit neuen und in vielen Fällen außergewöhnlichen Familienzusammensetzungen. Vor allem vor einer Gametenspende ist daher eine psychosoziale Beratung unerlässlich. Ziel dieser Beratung ist vor allem eine Auseinandersetzung mit sozialer und asymmetrischer Elternschaft 2 sowie mit der Frage der Aufklärung des sozialen Umfelds und des Kindes (Thorn und Wischmann 2021). Da in Deutschland mit Samenspende gezeugte Kinder ein Auskunftsrecht haben, wird es in den nächsten Jahren vermutlich immer häufiger dazu kommen, dass Teenager und Erwachsene den Spender (und in manchen Fällen auch nach Behandlung mit Eizellspende im Ausland die Spenderin; bei der Embryonenspende die genetischen Eltern) sowie Halb- oder Vollgeschwister kennenlernen möchten. Hierfür gibt es mittlerweile spezielle Fortbildungsangebote, damit diese Kontakte angemessen vorbereitet und begleitet werden 34 FI 1/ 2023 Aus der Praxis können (Thorn et al. 2021). Vor einer Behandlung im Ausland ist es zudem wichtig, über die gesetzlichen Ansprüche des Kindes aufzuklären und auf die Risiken einer späten Elternschaft und einer Mehrlingsschwangerschaft hinzuweisen. Die „Leitlinie für die psychosoziale Beratung bei Gametenspende“ der Deutschen Gesellschaft für Kinderwunschberatung - BKiD (Thorn und Wischmann 2021) sieht auch die Beratung des Samenspenders vor. Neben Informationen zu den medizinischen, juristischen und berufsrechtlichen Regelungen sollte ihm die Möglichkeit eingeräumt werden, seine Motivation zu reflektieren und eine Haltung zu den so gezeugten Kindern zu entwickeln. Auch sollte er darüber entscheiden können, wie viele Kinder maximal mit seinem Samen gezeugt werden können, damit später nicht die Gefahr besteht, dass er von einer großen Anzahl Kindern mit Kontaktwünschen emotional überwältigt wird. Die vom Arbeitskreis donogene Insemination festgelegte Maximalzahl von 15 Kindern sollte selbstverständlich nicht überschritten werden (Hammel et al. 2006). Zudem kann es hilfreich sein, den Spender bei der Entscheidung, für welche Gruppe er seinen Samen zur Verfügung stellt (verheiratetes oder in Partnerschaft lebendes heterosexuelles oder lesbisches Paar, alleinstehende Frau), mitwirken zu lassen, damit ein späterer Kontakt zwischen seiner eigenen Familie (inkl. seiner Kinder - diese sind Halbgeschwister der mit seinem Spendersamen gezeugten Kinder) zu dieser Familie vorstellbar wird. In der Beratung sollte auch besprochen werden, wie Spender mit ihren Partnerinnen und (späteren) Kindern offen über die Samenspende sprechen, damit auch in ihrer eigenen Familie kein Geheimnis oder Vertrauensbruch entsteht. Ausblick Da das Alter der Erstgebärenden weiterhin steigt, kann davon ausgegangen werden, dass reproduktionsmedizinische Behandlungen mit eigenen Gameten und mit gespendeten Gameten häufiger werden. In Deutschland problematisch sind die hohe Mehrlingsrate im Rahmen der künstlichen Befruchtung und die zahlreichen Wunscheltern, die eine Behandlung im Ausland unter womöglich für sie selbst und für die Kinder schlechteren Bedingungen durchführen, als dies in Deutschland der Fall sein könnte. Der aktuelle Koalitionsvertrag (SPD; Bündnis 90/ Die Grünen; FDP 2021) sieht Verbesserungen für Menschen mit Kinderwunsch vor. So ist festgehalten, dass die Kostenübernahme unabhängig von einer medizinischen Indikation, Familienstand und sexueller Ausrichtung verbessert werden soll, dass auch sog. „Vorkerne“ zur Spende freigegeben werden können und der „elective single embryo transfer“ eingeführt werden soll, um die Mehrlingsrate zu minimieren. Auch sollen die Zulassung der Eizellspende und Leihmutterschaft überprüft werden. Viele dieser Absichtserklärungen wurden von der Leopoldina im Jahr 2017 angeregt, mittlerweile haben sich auch andere Fachorganisationen z. B. für die Zulassung der Eizellspende ausgesprochen, darunter die Deutsche Gesellschaft für Kinderwunschberatung (Deutsche Gesellschaft für Kinderwunschberatung (BKiD) 2022) und der Deutsche Ärztinnenbund (e. V. 2021). Zudem gibt es eine Petition Betroffener (https: / / fe-netz.de/ petitionzur-legalisierung-der-eizellspende/ ), die sich in enger Anlehnung an die Empfehlungen der Leopoldina für gesetzliche Änderungen ausspricht. Auch der „Arbeitskreis Abstammungsrecht“ hat wiederholt darauf hingewiesen, dass das Abstammungsrecht novelliert werden muss (https: / / ab stammungsrecht.en/ das-abstammungsrecht-imkoalitionsvertrag-der-ampel/ ). Es bleibt abzuwarten, ob bzw. wann der Gesetzgeber diesbezüglich aktiv wird. Petra Thorn Langener Str. 37 64546 Mörfelden E-Mail: mail@pthorn.de 35 FI 1/ 2023 Aus der Praxis Anmerkungen 1 Für Großbritannien siehe z. B. die Daten der dortigen Behörde: https: / / www.hfea.gov.uk/ about-us/ publi cations/ research-and-data/ fertility-treatment-2019trends-and-figures/ , für Australien siehe z. B. die Jahresberichte der Behörde in Victoria: https: / / www.varta. org.au/ resources/ annual-reports 2 Die Samenals auch die Eizellspende führt zu einem sozialen und einem genetischen Elternteil in der Familie, und diese unterscheidet sich damit nochmals strukturell von der Adoptiv- oder Pflegefamilie, bei der beide Elternteile soziale Eltern sind. Bei einer Embryonen- oder Doppelspende sind beide Eltern soziale Eltern, das spendende Paar bzw. die Eizellspenderin und der Samenspender sind die genetischen Erzeuger des Kindes. Literatur Altmann, J., Kummer, J., Herse, F., Hellmeyer, L., Schlembach, D., Henrich, W., Weichert, A. (2021): Lifting the veil of secrecy: maternal and neonatal outcome of oocyte donation pregnancies in Germany. Arch Gynecol Obstet. Online ahead of print. In: https: / / www.mdc-berlin.de/ research/ publications/ lifting-veil-secrecy-maternal-and-neonatal-outcomeoocyte-donation, 2. 4. 2022, https: / / doi.org/ 10.1007/ s00404-021-06264-8 Arbeitskreis Abstammungsrecht (2017): Empfehlungen für eine Reform des Abstammungsrechts. Berlin, Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. In: https: / / www.bmj.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ News/ Artikel/ 07042017_AK_Abstim mung_Abschlussbericht.htmln, 2. 4. 2022 Beier, H., Bujard, M., Diedrich, K., Dreier, H., Frister, H., Kentenich, H., Kreß, H., Krüssel, J., Ludwig, A., Schumann, E., Strowitzki, T., Taupitz, J., Thaler, C., Thorn, P., Claudia, W., Zenner, H.-P. (2017): Ein Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland. Diskussion Nr. 13. In: https: / / www.leopoldina.org/ uploads/ tx_leopublication/ 2017_Diskussion_ Fortpflanzungsmedizin.PDF, 2. 4. 2022, https: / / doi.org/ 10.1007/ s00129-018-4258-9 Bolder, J. (2020): Ein Kind ohne Mann: Über den Weg, als Single Mutter zu werden. Amazon/ Kindle Cordier, C., Ducrocq, B., Fry, J., Catteau-Jonard, S. (2020): Views of French oocyte donors at least 3 years after donation. Reprod Biomed Online 40 (6), 819 - 826, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.rbmo.2020.02.003 de Lacey, S. (2005): Parent identity and ‘virtual’ children: why patients discard rather than donate unused embryos. Hum Reprod 20 (6), 1661 - 1669, https: / / doi.org/ 10.1093/ humrep/ deh831 Deutsche Gesellschaft für Kinderwunschberatung (BKiD) (2022): BKiD Positionspaper zu Eizellgabe in Deutschland. In: nhttps: / / www.bkid.de/ wp-content/ uploads/ 2022/ 03/ Eizellgabe-2022-online.pdfn, 23. 3. 2022 Deutsches IVF Register (2020): Jahrbuch 2020. In: https: / / www.deutsches-ivf-register.de/ perch/ resources/ dirjb2020de.pdf, 16. 3. 2022 Deutscher Ärztinnenbund e.V. (2021): Unerfüllter Kinderwunsch: Gesetzliche Neuregelung ist zeitnah erforderlich. In: https: / / www.aerztinnenbund.de/ Unerfuellter_Kinderwunsch.3516.0.2.html, 2. 4. 2022 ESHRE (2020): ART in Europe, 2016: results generated from European registries by ESHRE. Hum Reprod Open 2020 (3), In: https: / / academic.oup.com/ hropen/ article/ 2020/ 3/ hoaa032/ 5879305, 2. 4. 2022 Golombok, S. (2015): Modern Families. Parents and children in new family forms. Cambridge University Press, Cambridge Golombok, S. (2020): The psychological wellbeing of ART children: what have we learned from 40 years of research? RBMO 41, 743 - 746, https: / / doi.org/ 10. 1016/ j.rbmo.2020.08.012 Hammel, A., Katzorke, T., Schreiber, G., Thorn, P. 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(2021): BKiD Leitlinie für die psychosoziale Beratung bei Gametenspende. Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie 18 (4), 394 - 402 Wischmann, T. (2012): Einführung in die Reproduktionsmedizin. Ernst Reinhardt Verlag, München, Basel a www.reinhardt-verlag.de 2020. 222 Seiten. 5 Abb. 25 Tab. (978-3-497-02984-6) kt Obwohl den Autismus-Spektrum-Störungen aktuell viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, wird die Diagnose oft spät gestellt und die Förderung beginnt meist erst im Laufe des Vorschulalters. Dieses Buch richtet den Fokus auf eine möglichst frühe Förderung, beginnend mit dem Säuglingsalter bis zum Schulalter. Durch die entwicklungspsychologische Perspektive kann ein passgenauer Förderrahmen für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen gestaltet werden. Ausgangspunkt der Frühförderung und Frühtherapie ist dabei ein individueller Zugang zu den Entwicklungsaufgaben und Kompetenzen von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen. 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