Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Rezension: Axel von der Wense, Carola Bindt: Risikofaktor Frühgeburt - Entwicklungsrisiken erkennen und behandeln
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2023
Lena Radtke
„Die Komplexität der unterschiedlichen Aspekte der Frühgeburtlichkeit erfordert eine einzelheitliche Vertiefung, die Zusammenschau in einem Band ergibt die ganzheitliche Perspektive, der wir uns verpflichtet fühlen.“ Im Rahmen der Reihe „Entwicklungsrisiken erkennen und behandeln“ erscheint die 2. Auflage dieses Buches, das einen sehr aktuellen, umfassenden und fundierten Einblick in das Thema Frühgeburt gibt. Besonders ist dabei der Zusammenschluss der unterschiedlichen Professionen der Autoren, Dr. Carola Bindt, Kinder- und Jugendpsychiaterin, und Dr. Axel von der Wense, Kinder- und Jugendarzt und Neonatologe, der von ihnen schon umgesetzt wurde, „lange bevor psychosoziale Aspekte in Strukturvorgaben in Perinatalzentren verankert wurden …“ (aus dem Vorwort der Autoren).
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41 FI 1/ 2023 REZENSION Axel von der Wense, Carola Bindt Risikofaktor Frühgeburt - Entwicklungsrisiken erkennen und behandeln Verlagsgruppe Beltz Weinheim Basel, 2. überarbeitete Auflage (E-Book inside) (2021), 252 S., € 39,95 „Die Komplexität der unterschiedlichen Aspekte der Frühgeburtlichkeit erfordert eine einzelheitliche Vertiefung, die Zusammenschau in einem Band ergibt die ganzheitliche Perspektive, der wir uns verpflichtet fühlen.“ Im Rahmen der Reihe „Entwicklungsrisiken erkennen und behandeln“ erscheint die 2. Auflage dieses Buches, das einen sehr aktuellen, umfassenden und fundierten Einblick in das Thema Frühgeburt gibt. Besonders ist dabei der Zusammenschluss der unterschiedlichen Professionen der Autoren, Dr. Carola Bindt, Kinder- und Jugendpsychiaterin, und Dr. Axel von der Wense, Kinder- und Jugendarzt und Neonatologe, der von ihnen schon umgesetzt wurde, „lange bevor psychosoziale Aspekte in Strukturvorgaben in Perinatalzentren verankert wurden…“ (aus dem Vorwort der Autoren). In der Einführung des Buches, das den Fokus auf die Perinatalzeit und die in dieser Zeit drohenden Risiken für die Entwicklung legt, geben die Autoren einen kurzen Überblick über die aktuellen Geburtenraten, eine allgemeine Definition von Gesundheit und gehen sehr aktuell auf die Corona- Pandemie ein, was allerdings nur eingeschränkt möglich ist durch die Datenlage Anfang 2021. Viele Entwicklungen der Pandemie waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar. Die Autoren weisen jedoch bereits in diesem frühen Stadium besonders auf die Belastungen für Eltern von Frühgeborenen hin, die durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt wurden und werden. Im 2. Kapitel „Perinatale Risikofaktoren“ fokussieren sie sich auf die Darstellung häufiger und exemplarischer Risikokonstellationen während der Schwangerschaft. Auch ethische Fragen, die bei der Entscheidungsfindung im Grenzbereich der Lebensfähigkeit auftreten, werden angeführt und anhand eines Fallbeispiels veranschaulicht. Im Weiteren werden Ursachen für Frühgeburtlichkeit erläutert, wobei neben medizinischen Gründen auch der Faktor Stress angeführt wird. Hier zeigt sich die große Stärke des Buches - die Autoren erklären auf auch für Nicht-Mediziner verständliche Art die physiologischen Vorgänge im Körper und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Schwangerschaft. Die Akutbehandlung und mögliche Komplikationen (z. B. Lungenunreife, Unreife des Herz-Kreislauf-Systems, des Gehirns etc.) werden, aufgrund der Komplexität, im Rahmen des Buches nur in ihren Grundzügen dargestellt, dies aber gut verständlich und mit einem ausreichenden Maß an Vertiefung. Anhand eines weiteren Fallbeispiels werden auch die Thematik der Einschränkung und Beendigung von Intensivtherapie angeführt sowie die Gesprächsstruktur von medizinisch-ethischen Fallkonferenzen anschaulich dargestellt. Auch die Gruppe der späten Frühgeborenen, die in den letzten Jahren aufgrund ihrer höheren Häufigkeit aus epidemiologischer Sicht an Bedeutung gewonnen haben, wird definiert und im Hinblick auf mögliche Komplikationen genauer betrachtet. Sehr umfassend und vielseitig werden in Kapitel 3 „Psychosomatische Aspekte der frühen Eltern- Kind-Beziehung und der Kindesentwicklung nach Frühgeburt“ erklärt. Dabei setzen die Autoren bereits bei der fetalen Entwicklung an und zeigen, wie sich pränataler Stress und psychische Belastungen auf den Fetus auswirken. Anhand von Fallbeispielen wird die Frühgeburt als Krise im Erleben der Eltern dargestellt und werden mögliche klinische Manifestationen elterlicher psychischer Belastungen (bspw. postpartale Depres- 42 FI 1/ 2023 Rezension sion) erläutert. Untersuchungen in diesem Gebiet legen offen, dass ein erhöhtes medizinisches Risiko nicht mit der elterlichen Stimmungslage korreliert und dass zwischen der Fremdeinschätzung der Behandelnden und der Selbsteinschätzung der Eltern eine hohe Diskrepanz liegen. Dies wird auch relevant in Bezug auf eine „Frühgeburt als elterliches Trauma“; so mögen nicht alle Eltern die Merkmale einer PTBS aufweisen, psychosoziale Beeinträchtigungen liegen jedoch auch bei subsyndromaler Belastung vor. Auch auf die Rolle der Väter, die sich in ihrem Erleben und dessen Verarbeitung von den Müttern unterscheiden, sowie die möglichen Auswirkungen auf die Paarbeziehung gehen die Autoren ein. Fachlich fundiert und nachvollziehbar wird beschrieben, welche Herausforderungen auf die Familien zukommen, wenn belastete Eltern auf unreife Kinder treffen, und welche Besonderheiten in der Interaktion und damit der Beziehungsentwicklung zu beachten sind, auch im besonderen Kontext von Mehrlingsgeburten. Das 4. Kapitel behandelt die somatischen Behandlungsergebnisse und den Langzeitverlauf. Messmethoden zur kindlichen Entwicklung (wie z. B. Bayley Scales of Infant Development) werden übersichtlich dargestellt und hinsichtlich ihrer Einsetzbarkeit in der Praxis diskutiert. Umfassend, aber dennoch übersichtlich beschreiben die Autoren die häufigsten somatischen Langzeitfolgen nach Frühgeburt, wie Lungenerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Infantile Cerebralparese sowie das Wachstum und die körperliche Entwicklung ehemals frühgeborener Kinder. Das Fallbeispiel eines ehemals frühgeborenen Jugendlichen leitet Kapitel 5 ein; die beschriebenen Probleme können so in der Form natürlich auch bei anderen Jugendlichen auftreten, erscheinen im Kontext der Frühgeburtlichkeit und der damit verbundenen Folgen jedoch als typisch. Sprachentwicklung, kognitive Entwicklung und eine erhöhte Vulnerabilität, emotionale Entwicklung und Verhalten werden in diesem Zusammenhang betrachtet. Die Autoren beziehen neueste Erkenntnisse zu Aufmerksamkeits- und Autismusspektrumstörungen mit ein, weisen aber auch auf den noch großen Forschungsbedarf in diesem Bereich hin. Forschungsergebnisse zum Frühgeborenen-Verhaltensphänotyp und zur Lebensqualität runden das Kapitel ab mit dem Fazit, dass „gerade die frühe Frühgeburt einen Vulnerabilitätsfaktor für die Lebensführung und -zufriedenheit darstellt, dessen Langzeitfolgen für das Individuum bis ins Erwachsenenalter hinein spürbar bleiben können“ (S. 164). Aspekte der Prävention sind Inhalt des 6. Kapitels. Im Sinne einer primären Prävention wird darauf hingewiesen, dass ein multidisziplinärer Ansatz verfolgt werden muss, um größere Erfolge hinsichtlich der Verhinderung von Frühgeburten zu erzielen. Ein besonderer Aspekt ist dabei die Stressreduktion in der Schwangerschaft, die bereits in Kapitel 2 als bedeutsamer Faktor diskutiert wurde. Im Rahmen der Sekundärprävention werden somatische Behandlungen lediglich kurz dargestellt, der Fokus liegt mehr auf entwicklungsfördernden Therapien von Frühgeborenen und psychosomatischen Ansätzen. Auch hier spannen die Autoren den Bogen von der erhöhten Vulnerabilität der Frühgeborenen über die gesamte Entwicklungsspanne bis zu den Auswirkungen im Entwicklungsverlauf. Damit verbunden steht auch der große Aufklärungsbedarf bei allen, die mit ehemals Frühgeborenen arbeiten; angefangen bei Krippen und Kitas bis hin zum Lehrpersonal in der Schule. Im 7. Kapitel werden Intervention und Therapie in Bezug auf die Langzeitfolgen der Frühgeburt besprochen. Die Autoren weisen besonders darauf hin, dass sowohl eine Überversorgung als auch ein Mangel an Therapieangeboten als Risikofaktoren zu beachten sind. Es wird deutlich, wie viele Institutionen und Professionen in die Betreuung der Frühgeborenen und ihrer Familien involviert sind bzw. sein können - angefangen beim Perinatalzentrum, Kinderarzt, Sozialpädiatrischen Zentrum, Nachsorgeangeboten, Physio- und Ergotherapie bis hin zur Frühförderung, um nur einige zu nennen. 43 FI 1/ 2023 Rezension Im 8. und letzten Kapitel geben die Autoren einen Ausblick auf den noch großen Handlungsbedarf hinsichtlich der Zusammenarbeit verschiedener, mit der Betreuung Frühgeborener betrauten Professionen. Es besteht die Notwendigkeit, eine Ganzheitlichkeit herzustellen, die auf ein bestmögliches Outcome für die Betroffenen abzielt. Fazit: Den Autoren ist es gelungen, ein überaus lesenswertes Buch zu verfassen, welches ein breites Publikum anspricht. Die langjährige Kooperation der unterschiedlichen Professionen zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch; dort, wo es nötig ist, werden medizinische Zusammenhänge tiefergehend, aber verständlich und übersichtlich erklärt und immer im Gesamtkontext der Entwicklung gesehen. Relevant ist dieses Buch auch im Hinblick auf die zeitliche Spanne, die es abdeckt - beginnend in der Pränatalzeit bis in die Adoleszenz. Es regt dazu an, Auffälligkeiten, die im Entwicklungsverlauf eines jeden Kindes auftreten können, unter Berücksichtigung der Frühgeburtlichkeit in einem anderen Kontext zu bewerten und daraus passgenauere Interventionsmaßnahmen ableiten zu können. Daraus resultierend, hat das Buch eine Relevanz für viele Berufsgruppen, die in die Betreuung Frühgeborener und ihrer Familien eingebunden sind, auch auf lange Sicht. Den Autoren ist es sehr gut gelungen, die von ihnen seit Jahren vorgelebte interdisziplinäre Zusammenarbeit anschaulich darzustellen. Die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Behandlungsansatzes in der Nachsorge von Frühgeborenen wird dadurch noch besser nachvollziehbar. Lena Radtke DOI 10.2378/ fi2023.art06d
