Frühförderung interdisziplinär
1
0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2023
423
Originalarbeit: Bewegung als Medium in der Frühförderung - Ergebnisse einer Fragebogenerhebung in Baden-Württemberg
71
2023
Mone Welsche
Franziska Theil
In diesem Beitrag werden Ergebnisse einer Fragebogenerhebung vorgestellt, welche mit in der Frühförderung tätigen HeilpädagogInnen in Baden-Württemberg zur Frage der Bedeutung von Bewegung a) als Medium in der Förderung und b) als diagnostische Dimension durchgeführt wurde. Nach Darlegung der Relevanz der Dimension Bewegung aus heilpädagogischer Perspektive werden in diesem Text die Ergebnisse des Fragebogenteils a) zum Einsatz des Mediums Bewegung in der heilpädagogischen Frühförderung präsentiert und diskutiert. Ein Ausblick auf Implikationen für Praxis und Forschung schließt den Beitrag.
1_042_2023_003_0122
Frühförderung interdisziplinär, 42.-Jg., S.-122 - 134 (2023) DOI 10.2378/ fi2023.art15d © Ernst Reinhardt Verlag 122 Bewegung als Medium in der Frühförderung - Ergebnisse einer Fragebogenerhebung in Baden-Württemberg Mone Welsche, Franziska Theil Zusammenfassung: In diesem Beitrag werden Ergebnisse einer Fragebogenerhebung vorgestellt, welche mit in der Frühförderung tätigen HeilpädagogInnen in Baden-Württemberg zur Frage der Bedeutung von Bewegung a) als Medium in der Förderung und b) als diagnostische Dimension durchgeführt wurde. Nach Darlegung der Relevanz der Dimension Bewegung aus heilpädagogischer Perspektive werden in diesem Text die Ergebnisse des Fragebogenteils a) zum Einsatz des Mediums Bewegung in der heilpädagogischen Frühförderung präsentiert und diskutiert. Ein Ausblick auf Implikationen für Praxis und Forschung schließt den Beitrag. Schlüsselwörter: Frühförderung, Bewegung, Heilpädagogik Movement as Medium in Early Childhood Intervention - Results of a Survey conducted in Baden-Württemberg Summary: This article presents the results of a questionnaire survey conducted with special needs educators working in early childhood intervention in Baden-Württemberg on the question of movement a) as medium in intervention and b) as diagnostic dimension. After giving an overview on the relevance of movement from a special need perspective, this text presents and discusses the results of the questionnaire section a). The article concludes with stating implications for practice and research. Keywords: Early Childhood Intervention, Movement, Special Needs Education ORIGINALARBEIT 1 Einleitung I n der Heilpädagogik wurde Bewegung 1 schon früh als Medium eingesetzt, um Kinder in ihrer Entwicklung zu unterstützen und zu fördern (siehe u. a. Frostig 1975, Brunner-Danuser 1984). Ein Verständnis von Bewegung in der heilpädagogischen Arbeit mit dieser Zielgruppe ist ein phänomenologisches. Bewegung wird als Grundphänomen menschlicher Existenz verstanden (u. a. Fischer/ Renner 2015, Gröschke 1997). Erst in Bewegung nimmt sich der Mensch wahr, tritt in Kontakt zu seiner Umwelt, kann Welt erfahren und gestalten (Merleau-Ponty 1966). Gerade Kinder erobern ihre Umwelt in Bewegung, sie drücken ihre Befindlichkeit und ihre Wünsche in Bewegung aus, sie erkunden, spielen und gestalten Beziehung in Bewegung (vgl. u. a. Fischer 2019). Heute gehören bewegungsorientierte Konzepte in der Heilpädagogik zum Methodenrepertoire (vgl. u. a. Reichenbach 2023, Wüllenweber/ Theunissen 2020), um Kinder ressourcenorientiert und altersangemessen in ihrer Entwicklung zu fördern. Auch in der heilpädagogischen Diagnostik ist Bewegung eine relevante Dimension (vgl. Reichenbach/ Thiemann 2013). Ein Tätigkeitsfeld heilpädagogischer Fachkräfte mit Schwerpunkt in der Förderung von Kindern, die in ihrer Entwicklung gefährdet oder bereits beeinträchtigt sind, ist die Frühförderung. 123 FI 3/ 2023 Bewegung als Medium in der Frühförderung Diese kann ambulant in heilpädagogischen Praxen oder Interdisziplinären Frühförderstellen als auch im häuslichen Umfeld oder in Kindertageseinrichtungen durchgeführt werden (vgl. Thurmair/ Naggl 2010). Mit der Planung und Durchführung der Förderung ist die Diagnostik ein zentraler Aufgabenbereich der (interdisziplinären) Frühförderung (vgl. Sarimski 2022, Thurmair/ Naggl 2010). Kindbezogen werden in der heilpädagogischen Diagnostik in der Frühförderung verschiedene Methoden eingesetzt, um den Entwicklungsstand des jeweiligen Kindes mit Stärken- und Schwächenprofil zu ermitteln und darauf aufbauend eine geeignete Fördermaßnahme zu planen (vgl. Sarimski 2022, Wörster 2016, Dahms/ Seidel 2012). Fischer und Renner (2015) weisen zudem darauf hin, dass auch der Versuch des Verstehens auffälliger Verhaltensweisen ein Ziel der heilpädagogischen Diagnostik darstellt. Grundsätzlich sollte heilpädagogische Diagnostik sowohl vor der Unterstützungsmaßnahme als auch begleitend, z. B. in Form von Beobachtung, stattfinden (Reichenbach/ Thiemann 2013). Die Dimension der Bewegung wird vor allem in standardisierten Instrumenten, wie Entwicklungsscreenings, Inventaren oder Tests, zur Überprüfung der motorischen Entwicklung aufgegriffen (vgl. Reichenbach/ Thiemann 2013, Reichenbach 2006). Um einen Einblick zu bekommen, welche Bedeutung Bewegung in der heilpädagogischen Frühförderung aus Sicht heilpädagogischer Fachkräfte zugeschrieben wird, wurde eine Fragebogenerhebung in Baden-Württemberg durchgeführt. Der Fragebogen beinhaltete zwei Fragenblöcke, a) zu Bewegung als Medium in der heilpädagogischen Arbeit im Rahmen der Frühförderung und b) zu Bewegung als diagnostische Dimension in diesem Kontext. Im vorliegenden Beitrag werden die Ergebnisse zum Teil a) vorgestellt. Die Publikation der Ergebnisse zum Teil b) befindet sich noch in Vorbereitung und wird zeitnah in einem separaten Beitrag erfolgen. In den folgenden Abschnitten wird zunächst eine Begriffsbestimmung vorgenommen, um zu klären, welches Verständnis dem in diesem Beitrag verwendeten Bewegungsbegriff in Abgrenzung zu Motorik zugrunde liegt. Es folgt eine Darstellung von Zielsetzungen und Potenzialen, die mit dem Einsatz von Bewegung als Medium in der heilpädagogischen Arbeit mit Kindern in der Frühförderung verknüpft werden. Anschließend werden die Ergebnisse der Befragung dargestellt und diskutiert. Der Text schließt mit der Formulierung weiterführender Fragen sowie Ableitungen von Implikationen für die Praxis. 2 Bewegung als Medium in der heilpädagogischen Frühförderung Begriffsbestimmung In der Literatur der Heilpädagogik und der heilpädagogischen Frühförderung wird neben dem Begriff ,Bewegung‘ vielfach auch die Bezeichnung ,Motorik‘ verwendet. Sowohl Kuhlenkamp (2017) als auch Reichenbach (2006) weisen darauf hin, dass beide Begriffe in pädagogischen Kontexten häufig synonym genutzt werden. Allerdings lassen sich Unterschiede darstellen, welche nicht nur von Interesse für die theoretische Auseinandersetzung mit der vorliegenden Thematik sind. Sie sind gerade auch für die Praxis der Heilpädagogik und der heilpädagogischen Frühförderung relevant, da aus dem jeweiligen Verständnis andere Ziele abgeleitet und Behandlungs- und Förderansätze ausgewählt werden können. Zur Klärung dieser Begriffe sowie deren Verhältnis zueinander existieren unterschiedliche Definitionen und Modelle (s. Bös/ Mechling 2003), die z. T. verschiedenen Wissenschaftsbereichen entstammen. In diesem Beitrag folgen wir der Unterscheidung zwischen ,Bewegung‘ und ,Motorik‘ anhand der naturwissenschaftlich-physiologischen und der anthropologisch- 124 FI 3/ 2023 Mone Welsche, Franziska Theil phänomenologischen Betrachtungsebene (vgl. Fischer 2019, Kuhlenkamp 2017, Bös/ Mechling 2003). Im naturwissenschaftlich-physiologischen Verständnis beschreibt der Begriff ,Motorik‘ grob gefasst innere Prozesse der neuromuskulären Steuerung und Kontrolle, welche die Grundlage und Voraussetzung für die äußerlich sichtbare Veränderung des Körpers bzw. einzelner Körperteile in Raum und Zeit darstellen. Im phänomenologischen Verständnis ist Bewegung als anthropologische Grundkategorie, als Modus des Zur-Welt-Seins bzw. des In-der-Welt-Seins zu verstehen (vgl. Merleau- Ponty 1966). Mittels Bewegung tritt der Mensch in Beziehung zur Welt, kann sich diese erschließen, sie gestalten und Zwischenleiblichkeit in sozialer Interaktion erfahren. Bewegung ist damit die Grundlage der Beziehungsgestaltung zu sich selbst, zur personalen und materialen Umwelt sowie für Prozesse von Weltaneignung und Weltverstehen. Gröschke (1997) wie auch Fischer und Renner (2015) legen in ihren Ausführungen, die sich eingehend mit dem Medium Bewegung in der Heilpädagogik befassen, ein anthropologisch-phänomenologisches Verständnis zugrunde. Mit diesem wird Bewegung zu dem der Motorik übergeordneten Begriff, da unter Bewegung mehr verstanden wird als die motorische „Seite des Geschehens“ (Fischer/ Renner 2015, 227). Eine Differenzierung zwischen den Begriffen und dem jeweiligen Gegenstandsbereich ist für die Heilpädagogik und auch für die heilpädagogische Frühförderung bedeutsam. Sie kann allerdings nicht im Sinne eines Entweder- oder gesehen, sondern muss als Sowohl-als auch eingeordnet werden. Abhängig von den individuellen Einschränkungen und Unterstützungsbedarfen der Kinder, die in der Heilpädagogik und im Kontext der Frühförderung begleitet werden, kann mit einem bewegungsorientierten Setting ein breites Spektrum an Zielen verfolgt werden. Diese können sowohl in der Förderung der motorischen Entwicklung und der motorischen Kompetenzen als eine zentrale Grundlage für verschiedenste Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Lernprozesse im Bereich Wahrnehmung, Sprache, Kognition und der emotional-sozialen Entwicklungen als auch in der Förderung der Selbstwahrnehmung und des In-Beziehung-tretens als Modi des Zur-Welt, und In-der-Welt-Seins. Potenziale, Zielsetzungen und Konzepte Für die heilpädagogische Arbeit mit Kindern, tätigkeitsfeld- und konzeptunabhängig, begründen Fischer und Renner (2015) den Wert des Einsatzes von Bewegung als Medium vor allem darin, dass Erfahrungen der Selbstwahrnehmung, der Selbstwirksamkeit, der Leistungsfähigkeit und der Kooperation und Kommunikation in besonderer Weise gefördert werden können. Durch die Möglichkeit der Selbsterfahrung und der Gestaltung von Begegnungen wird für Fischer und Renner (2015) Bewegung auch zum Medium zur Bewältigung von Lebenserschwernissen. Das Potenzial von Bewegung, sowohl für den Bereich der Frühförderung als auch für andere heilpädagogische Tätigkeitsfelder, wird darüber hinaus vor allem mit Bezug zu spezifischen Konzepten, die im heilpädagogischen Methodenkanon verankert sind, wie z. B. Konzepte der Psychomotorik 2 , die heilpädagogische Rhythmik (Weiss 2020) oder auch die Beziehungsorientierte Bewegungspädagogik nach Sherborne (Welsche 2018) deutlich (vgl. Reichenbach 2023). Abhängig von der theoretischen Fundierung und Ausrichtung, den AdressatInnen im Spektrum der heilpädagogischen Klientel sowie den spezifischen Inhalten der jeweiligen Konzepte bildet sich eine Vielzahl von Zielsetzungen ab, die mit dem Zugang über Bewegung und bewegungsorientierten Aktivitäten verfolgt werden können. Diese adressieren, bei z. T. unterschiedlicher Gewichtung, alle sowohl funktional-motorische Parameter als auch Ziele wie z. B. die Förderung 125 FI 3/ 2023 Bewegung als Medium in der Frühförderung von Selbstwirksamkeit, Selbstwahrnehmung, Selbstvertrauen, Kommunikationsfähigkeit und emotional-soziale Kompetenzen. In der Literatur zum Handlungsfeld der Frühförderung dominiert die Verwendung des Motorikbegriffs, verknüpft mit der Förderung von Fein- und Grobmotorik bzw. motorischen Kompetenzen (vgl. Sarimski 2022, Pretis 2020, Thurmair/ Naggl 2010) als Entwicklungsbereiche im Kleinkindalter. Psychomotorik gilt als etablierte Methode (vgl. u. a. Sarimski 2022, Pretis 2020, Gebhard/ Kuhlenkamp 2012, Fischer 2011), die im Spektrum Bewegung/ Motorik allerdings unterschiedlich eingeordnet wird. Sarimski (2022) nennt im Handbuch interdisziplinäre Frühförderung Psychomotorik lediglich als relevantes Konzept zur Behandlung motorischer Entwicklungsstörungen und ordnet sie der Ergo- oder Physiotherapie zu. Auch Pretis (2020) setzt psychomotorische Konzepte unter die Überschrift ,motorische Ansätze‘, wenngleich er auf das psychomotorischen Konzepten zugrunde liegende ganzheitliche Verständnis von Entwicklung und die Verbindung zwischen „kindlichem Spiel, Freude, Interaktion, Bewegung und aktiver Transaktionsgestaltung“ hinweist. Damit deutet er an, dass sich mit passenden bewegungsorientierten Interventionen weit mehr fördern lässt als ,nur‘ Fein- und Grobmotorik. Thurmair und Naggl (2010) schreiben der Psychomotorik gleichfalls eine Schwerpunktsetzung im Bereich der Motorik zu. Allerdings nutzen sie den Bewegungsbegriff und sehen „Handeln in Bewegung und Entfaltung von Bewegungskompetenzen im erlebnisorientierten Tun“ (Thurmair/ Naggl 2010,187) als Kernthema der psychomotorischen Förderung. Dabei merken sie an, dass im gemeinsamen Bewegen auch Spaß, Motivation und soziale Kompetenzen gefördert werden können. Von Gebhard und Kuhlenkamp (2012), Fachfrauen mit ausgewiesener Expertise im Bereich Psychomotorik, wird, unter Verweis auf Fischer (2011), die „ressourcen- und kompetenzorientierte Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung“ als zentrales Ziel psychomotorischer Ansätze in der Frühförderung angeführt, die als methodische Bausteine in Heilpädagogik, Ergotherapie, Physiotherapie und Logopädie verankert sind. Damit verdeutlichen sie, dass mit diesen Konzepten verknüpfte Förderziele weit über die motorisch-funktionale Ebene hinausreichen. Auch wenn nicht ausdrücklich benannt, scheint die Bedeutung des Mediums Bewegung in der Literatur zur Frühförderung, über den Aspekt der motorischen Förderung und Psychomotorik als etabliertes Konzept mit Fokus Bewegung/ Motorik hinaus, zwischen den Zeilen durch. So kommt Bewegung als relevantes Medium indirekt über das Grundprinzip der Ganzheitlichkeit in die Förderung, durch welches die Gesamtentwicklung des Kindes, die Entfaltung seiner Kompetenzen, seines Selbsterlebens und Selbstwerts sowie die Integration in seine Lebenswelt unterstützt werden soll (vgl. Thurmair/ Naggl 2010). Auch über die Prinzipien der Beziehungs- und Ressourcenorientierung (u. a. Sarimski 2022, Thurmair/ Naggl 2010) und das Ziel der Teilhabeermöglichung durch die Förderung emotional-sozialer Kompetenzen wird deutlich, dass die Bewegungsebene eine relevante Dimension in der Förderung sein muss, denn: ohne Bewegung lässt sich keine Beziehungsorientierung erreichen. Bewegung ist das Medium zur Beziehungsgestaltung (vgl. u. a. Welsche 2018). Gerade für Kinder, die im Kontakt eher zurückhaltend oder vermeidend sind, kann im gemeinsamen Tun die Beziehung zum Gegenüber erleichtert werden und eine erste Sicherheit im Beziehungshandeln entstehen. Für den Einsatz von Bewegung als Medium spricht zudem, dass Kinder, die im Setting der Frühförderung begleitet werden, aufgrund ihrer Beeinträchtigungen als besonders vulnerabel für weitere problematische Erfahrungen eingeschätzt werden müssen. Von einem Zugang, der in der aktiv-bewegten Auseinandersetzung mit der Welt auf Selbstbemächtigung, Vergewisserung der eigenen Kompetenzen und auf Selbstwirksamkeitsüberzeugung zielt, können sie in besonderer Weise profitieren. 126 FI 3/ 2023 Mone Welsche, Franziska Theil 3 Fragebogenerhebung Zur Befragung von in der Frühförderung tätigen HeilpädagogInnen wurde ein Online-Fragebogen durchgeführt, um möglichst viele Fachkräfte zu erreichen und aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Der Fragebogen wurde im Mixedmethod-Design entwickelt (Döring/ Bortz 2016), d. h. er kombiniert qualitative und quantitative Forschung durch sowohl offene als auch geschlossene Fragen. Ein solches Vorgehen ermöglicht es, umfassende Erkenntnisse zur Forschungsfrage generieren zu können. Der Fragebogen beinhaltete, nach der Erhebung der demografischen Daten, inklusive Ausbildungen und Tätigkeitsjahre der Befragten in der Frühförderung, zwei Frageblöcke. Der in diesem Beitrag vorgestellte Frageblock a) fokussierte den Einbezug von ,Bewegung als Medium in der heilpädagogischen Frühförderung‘ und umfasste die Frage, ob die Fachkräfte bewegungsorientiert arbeiten, welche Ziele sie mit dem Einsatz von Bewegung als Medium verfolgen, ob sie sich in den bewegungsorientierten Interventionen an bestimmten Konzepten orientieren und die Frage, welche Konzepte sie im Rahmen ihres Studiums kennengelernt haben. Abschließend wurden weitere Anmerkungen zum Thema ,Bewegung in der Frühförderung‘ erfragt. Um die in der heilpädagogischen Frühförderung tätigen Fachkräfte zu erreichen, wurden im Internet zugängliche Kontaktlisten der Frühförderstellen in Baden-Württemberg (Regierungspräsidium Stuttgart 2020/ Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung - Bundesvereinigung e.V. 2023) genutzt, sowie durch Internetrecherche heilpädagogische Praxen, welche in der Frühförderung tätig sind, angeschrieben. Insgesamt wurden 257 Fragebogenlinks an Praxen und Frühförderstellen versendet. 86 gültige Antworten gingen in die Auswertung ein. Da es durch das Anschreiben von Praxen und Interdisziplinären Frühförderstellen, in welchen häufig mehrere Fachkräfte tätig sind, keine definierte Anzahl der FragebogenteilnehmerInnen gab, muss die errechnete Rücklaufquote von 27,1 % unter Vorbehalt gesehen werden. Die Antworten wurden deskriptiv und inhaltsanalytisch ausgewertet. Alle heilpädagogischen Fachkräfte, die an der Befragung teilnahmen (n = 86), waren weiblich und zwischen 22 und 62 Jahre alt, im Mittelwert lag das Alter bei 42,2 Jahren. Über die Hälfte (55,8 %) war zum Zeitpunkt der Befragung mehr als sechs Jahre in der Frühförderung tätig. In einer Frage mit vorgegebenen Antwortoptionen wurde die heilpädagogische Qualifikation erhoben. Über ein abgeschlossenes Studium der Heilpädagogik verfügten 58,1 % (17,4% Diplom, 29,1% B. A., 11,6% M. A. Abschluss), 32,6 % absolvierten eine Fachschulausbildung zur Heilpädagogin, 9,3 % machten keine Angabe zu dieser Frage (s. Abbildung 1). Nach der heilpädagogischen Qualifikation wurde in einer offenen Frage nach zusätzlichen Berufsausbildungen oder Studienabschlüssen gefragt. Diese Frage wurde von 68,6% beantwortet. Die Ausbildung zur ErzieherIn wurde am häufigsten genannt (s. Tabelle 1). In der ersten ordinalskalierten Frage zum Fragenblock ,Bewegung als Medium in der heilpädagogischen Frühförderung‘ gaben 2/ 3 der Heilpädagoginnen an, in der Förderung bewegungsorientiert zu arbeiten (ja - eher ja), 30 % beantworteten die Frage mit eher nein, niemand verneinte diese Frage vollständig (s. Abbildung 2). Die offene Frage zu Zielen, welche die Heilpädagoginnen mit dem Einsatz des Mediums Bewegung verfolgen, wurde von n = 57 beantwortet. Heilpädagoginnen, die die vorausgegangene Frage mit ,eher nein‘ oder ,keine Angabe‘ beantwortet hatten, benannten bis auf eine Ausnahme keine Ziele. Im Durchschnitt wurden von den Heilpädagoginnen fünf Ziele formuliert. Mit Blick auf die Tabelle 2 wird deutlich, dass 2/ 3 der Heilpäd- 127 FI 3/ 2023 Bewegung als Medium in der Frühförderung agoginnen, welche diese Frage beantworteten, die Förderung des Selbstvertrauens und des Selbstwertes als zentrale Zielsetzung bewegungsorientierten Handelns in der Frühförderung sehen. Weitere häufig genannte Ziele liegen im Bereich der Verbesserung der Körperwahrnehmung (40,4 %), der sozialen Kompetenzen und Fähigkeit, Beziehungen angemessen zu gestalten (ca. 30 %), gefolgt von der Vermittlung von Freude durch und in Bewegung (ca. 28 %). Darüber hinaus verknüpfen die befragten Heilpädagoginnen eine Vielzahl weiterer Zielsetzungen mit dem Einsatz von Bewegung, welche den großen Entwicklungsbereichen der emotional-sozialen Entwicklung, Sprache, Motorik, Kognition und Wahrnehmung, zugeordnet werden können oder übergeordnete Ziele, wie z. B. Aktivierung oder grundsätzliches Lernen in Bewegung, verfolgen. k. A. 13 % Nein 27 % Ja 60 % Ja 17,4 % eher Ja 47,7 % k. A. 4,7 % eher Nein 30,2 % Ja 19,6 % eher Nein 46,4 % eher Ja 23,3 % Nein 10,7 % Diplom 17,4 % Fachschule 32,6 % M. A. 11,6 % k. A. 9,3 % B. A. 29,1 % Abb. 1: Heilpädagogische Qualifikationen (n = 86) Abb. 2: Frage: ,Arbeiten Sie bewegungsorientiert? ‘ (n = 86) Abb. 3: Orientierung an Konzepten (n = 56) Abb. 4: Bewegungsorientierte Konzepte in Studium oder Ausbildung 128 FI 3/ 2023 Mone Welsche, Franziska Theil Konzept Anzahl (n = 24) Mehrfachantworten (n = 46) Psychomotorik (u. a. Kuhlenkamp 2017) Sensorische Integration (SI) (Ayres 2016) Beziehungsorientierte Bewegungspädagogik nach Sherborne (Welsche 2018) Ringen & Raufen (Beudels/ Anders 2014) Bobath (Biewald 2004) Hengstenberg (Fuchs 2017) Kinderyoga (Stück 2011) Pikler (Pikler/ Tardos 2001) Psychomotorik nach Aucouturier (Esser 2020) Rhythmik (Weiss 2020) 83,0 % 12,5 % 12,5 % 12, 0% 8,0 % 8,0 % 8,0 % 8,0 % 8,0 % 8,0 % Sonstige: je 1 × benannte: Kindertanz (Frege 2005), Lifekinetik (Lutz 2022), Schreibtanz (Oussoren-Voors 1999), Zirkuspädagogik (Ballreich et al. 2007) Tab. 3: Konzepte bewegungsorientierten Arbeitens (n = 24), Mehrfachantworten (n = 46) Zielsetzung Anzahl (n = 57) Mehrfachantworten (n = 283) Selbstbewusstsein/ -vertrauen/ -wert Körperwahrnehmung Soziale Kompetenzen/ Beziehungsgestaltung (Bewegungs-)freude Koordination Ausdruck/ Wahrnehmung/ Regulation von Gefühlen Konzentration/ Aufmerksamkeit Handlungsplanung Selbstkonzept/ -wahrnehmung Selbst-/ Impulskontrolle Raumerfahrung/ Wahrnehmung Beziehungsaufbau Sprachförderung Tonusregulation/ An- und Entspannung Wahrnehmung allgemein Abbau von Frust/ Stress Lernen durch/ in Bewegung Erweiterung Bewegungsrepertoire Selbstwirksamkeit Aktivierung 59,6 % 40,4 % 29,8 % 28,1 % 24,6 % 22,8 % 22,8 % 19,3 % 19,3 % 17,5 % 17,5 % 15,8 % 15,8 % 15,8 % 14,0 % 12,3 % 12,3 % 10,5 % 10,5 % 8,8 % Sonstiges: je 4 ×: Ausdauer, ganzheitliche Förderung, Gleichgewicht, Kraftdosierung, Motivation, Sicherheit; Merkfähigkeit (3 ×); je 2 ×: Stärkung der Gruppe, Bewegungsmangel entgegenwirken, Kräftigung, allg. motorische Kompetenzen; je 1 ×: Selbstständigkeit, Körperhaltung, Ankommen in der Stunde, Lungenvolumen stärken, Ausgleich, Serielle Funktionen, Abbau motorischer Unruhe, Eigenreflektion, unterschiedliche Materialerfahrung fördern, Sensibilisierung des Gefahrenbewusstseins Tab. 2: Zielsetzungen bewegungsorientierten Arbeitens (n = 57), Mehrfachantworten (n = 283) Zusätzliche Berufsausbildungen oder Studienabschlüsse Anzahl (n = 54) ErzieherIn HeilerziehungspflegerIn Krankenschwester Jugend- und HeimerzieherIn SozialpädagogIn KindheitspädagogIn 57,4 % 16,7 % 7,4 % 3,7 % 3,7 % 3,7 % Sonstige 3 Tab. 1: Zusätzliche Berufsausbildungen oder Studienabschlüsse (n = 54) 129 FI 3/ 2023 Bewegung als Medium in der Frühförderung Von den Heilpädagoginnen, welche bewegungsorientiert (ja - eher ja) arbeiten (n = 56), geben in einer ordinalskalierten Frage mit ,ja‘ und ,eher ja‘ lediglich 24 (42,9 %) an, sich an spezifischen Konzepten 4 zu orientieren (s. Abbildung 3) und benannten in einer anschließenden offenen Frage, mit einer Ausnahme, mindestens eines (s. Tabelle 3). Die Psychomotorik wird mit sehr großem Abstand am häufigsten genannt. In den Antworten wurde dabei sowohl auf spezifische Ansätze in der Psychomotorik Bezug genommen, wie z. B. auf Zimmer (2019) oder Kiphard (2009), als auch der Überbegriff Psychomotorik genannt. Alle weiteren Konzepte werden nur dreibis einmal als Grundlage herangezogen. Mit der folgenden nominalskalierten Frage an alle an der Untersuchung teilnehmenden Heilpädagoginnen sollte herausgefunden werden, ob bewegungsorientierte Konzepte in den Ausbildungswegen vermittelt wurden. Abbildung 4 zeigt, dass lediglich 60,5 % angeben, Konzepte inihrem Studium oderihrer Ausbildung kennengelernt zu haben. Eine differenzierte Auswertung dieser Ergebnisse ergibt keine Korrelation zwischen dem Qualifikationsweg und der Vermittlung von Konzepten. Die 52 Heilpädagoginnen, die diese geschlossene Frage mit ,ja‘ beantworteten, wurden in einer folgenden offenen Frage nach den Konzepten gefragt, die ihnen im Studium oder der Ausbildung vermittelt wurden. Von diesen 52 Heilpädagoginnen beantworteten 46 diese Frage und nannten mindestens 1 Konzept und max. 5 Konzepte. Mit großem Abstand dominiert auch hier die Psychomotorik, die allerdings auch nur von etwas mehr als der Hälfte der Befragten genannt wurde. Alle weiteren Konzepte wurden deutlich seltener genannt. Die vergleichsweise häufige Nennung der Beziehungsorientierten Bewegungspädagogik, des Ringen & Raufens und der Laban-Bewegungslehre lässt sich auf die Befragung im Bundesland Baden-Württemberg zurückführen, da diese Konzepte seit einigen Jahren im Studiengang Heilpädagogik der Hochschule Freiburg im Wahlbereich gelehrt werden. Alle anderen Angaben lassen sich nicht auf spezifische Ausbildungswege zurückführen (s. Tabelle 4). Von den 56 Heilpädagoginnen, die bewegungsorientiert (ja/ eher ja) arbeiten, geben 14 an, in der Ausbildung keine Ansätze kennengelernt zu haben. Anders herum haben von den 56 Heilpädagoginnen, welche bewegungsorientiert arbeiten (ja/ eher ja), 13 in der Ausbildung/ im Studium Konzepte kennengelernt, orientieren sich aber nicht an diesen oder anderen. Die Frage, ob Heilpädagoginnen, die in ihrer Ausbildung bzw. im Studium bewegungsorientierte Konzepte kennenlernten, eher bewe- Konzept Anzahl (n = 52) Mehrfachantworten (n = 71) Psychomotorik (u. a. Kuhlenkamp 2017) Rhythmik (u. a. Weiss 2020) Sensorische Integration (SI) (Ayres 2016) Ringen & Raufen (Beudels/ Anders 2014) Beziehungsorientierte Bewegungspädagogik nach Sherborne (Welsche 2018) Bewegungslehre Laban (Kennedy 2010) Erlebnispädagogik (u. a. Michl 2020) 57,6 % 17,3 % 13,5 % 13,5 % 11,5 % 3,8 % 3,8 % Sonstige: je 1 × Bewegungsbaustelle (Miedzinski/ Fischer 2014), Bobath (Biewald 2004), Hengstenberg (Fuchs 2017), Kinderyoga (Stück 2011), Lifekinetik (Lutz 2022), Psychomotorik Aucouturier (Esser 2020), Trampolin, Zirkuspädagogik (Ballreich et al. 2007) Tab. 4: Kennengelernte Konzepte während der Ausbildung/ Studium (n = 52), Mehrfachantworten (n = 71) 130 FI 3/ 2023 Mone Welsche, Franziska Theil gungsorientiert arbeiten als Heilpädagoginnen, die keine Konzepte kennenlernten, wurde durch eine Spearman-Korrelation überprüft und ergab keinen signifikanten Zusammenhang. Die Möglichkeit in einer abschließenden offenen Frage nach Anmerkungen zum Thema der Befragung nutzten 30 Heilpädagoginnen. Hier wurde vor allem die Bedeutung von Bewegung und Bewegungsangeboten in der Frühförderung betont, wie z. B. folgende Zitate aus den Antworten zeigen: „Bewegung ist elementarer Ausdruck von Kindern, deshalb gibt es keine Frühförderung ohne Bewegungsorientierung“ und „ohne Bewegung keine Entwicklung“. Mehrfach wird allerdings auch darauf hingewiesen, dass passende Räume und Materialien fehlen würden, es eine enge Überschneidung zum Arbeitsbereich der Ergo- und Physiotherapie gebe und passende bewegungsorientierte Konzepte wie Fortbildungen gewünscht werden (s. Tabelle 5). 4 Diskussion Die Ergebnisse dieser Fragebogenerhebung geben einen ersten Einblick in die Bedeutung von Bewegung als Medium in der heilpädagogischen Frühförderung aus Sicht der Fachkräfte, den Einsatz bewegungsorientierter Konzepte in der Praxis der Frühförderung in Baden-Württemberg sowie zur Vermittlung bewegungsorientierter Konzepte in Ausbildungs- und Studiengängen der Heilpädagogik. Die unter Vorbehalt angenommene Rücklaufquote ist für eine Onlinebefragung als zufriedenstellend einzuschätzen, sodass die Ergebnisse unter Berücksichtigung eventueller bundeslandspezifischer Bedingungen als aussagekräftig gelten können. Aus den Antworten und Einschätzungen der befragten Heilpädagoginnen lassen sich vier zentrale Ergebnisse zusammenfassen, aus welchen Fragen abgeleitet werden können. Bewegung als relevantes Medium für viele, aber nicht alle Heilpädagoginnen Die Ergebnisse dieser Befragung zeigen, dass die Mehrheit der erreichten Heilpädagoginnen angibt, bewegungsorientiert zu arbeiten, allerdings auch 30 % diese Frage mit ,eher nein‘ beantworten - was erstaunt, da Bewegung als primäres Ausdrucks- und Handlungsmedium von Kindern der Altersspanne U6 gilt (vgl. u. a. Fischer 2019) und sich kaum vorstellen lässt, wie mit diesen Kindern ohne Einbezug der Bewegungsebene entwicklungsförderlich gearbeitet werden kann. Eine Erklärung für dieses Ergebnis könnte darin liegen, dass einige der Befragten den Begriff Bewegung mit Motorik gleichsetzen und die Frage nach bewegungsorientiertem Arbeiten mit einer Förderung der motorischen Kompetenzen assoziieren. Wie eingangs dargelegt, wird in der Literatur zur Frühförderung der Einsatz des Mediums Bewegung stellenweise auf das Ziel der Förderung von Grob- und Feinmotorik verkürzt und diese fällt in der Interdisziplinären Frühförderung primär in den Aufgabenbereich der Physio- und Ergotherapie. Die Antworten könnten also darauf hinweisen, dass zwar die Mehrheit der befragten Heilpädagoginnen um die Bedeutung des Mediums ,Bewegung‘ weiß - worauf auch die genannten Ziele, die mit bewegungsorientiertem Ar- Persönliche Anmerkungen zum Thema (n = 30) Bewegung in der FF und für die Entwicklung sehr wichtig 14 × Raum- und Materialprobleme 9 × Ergänzung/ Abgrenzung Physio- und Ergotherapie 5 × Bewegung kommt in der FF zu kurz 4 × Konzepte und Fortbildungen fehlen 4 × Tab. 5: Persönliche Anmerkungen zum Thema 131 FI 3/ 2023 Bewegung als Medium in der Frühförderung beiten verbunden werden, hindeuten -, eine vergleichsweise große Gruppe sich aber der Wirkmächtigkeit und damit Relevanz dieser anthropologischen Grundkategorie für die Gestaltung entwicklungsförderlicher Prozesse über die Förderung motorischer Kompetenzen hinaus nicht bewusst ist. Ergebnisse von Qualifikationsarbeiten, die dieser Untersuchung vorangegangen sind (Schwarz 2021, Murdolo 2020), weisen darauf hin, dass viele heilpädagogische Fachkräfte Bewegung erstmal als Motorik sehen und erst bei weiterem Nachfragen reflektieren, dass Bewegung eine grundlegende angelegte Dimension menschlichen Seins und Handelns ist, welche damit auch als basal und zentral z. B. für die Frühförderung einzuordnen ist. Eine Prüfung dieser Schlussfolgerung könnte durch eine Erfragung des Bewegungsverständnisses bzw. der Konstruierung des Bewegungsbegriffes erfolgen. Selbstvertrauen, Körperwahrnehmung und Beziehungsgestaltung als zentrale Ziele Die Frage nach Zielen, die mit dem Einsatz von Bewegung verfolgt werden, zeigt, dass diese vor allem genutzt wird, um Schlüsselkompetenzen, wie das Zutrauen in eigene Fähigkeiten, die Förderung der Körperwahrnehmung, welche in einem engen Zusammenhang zur Entwicklung von Selbstvertrauen und Selbstwert steht, und die sozialen Kompetenzen sowie die Beziehungsgestaltung zu fördern. Motorisch-funktionale Aspekte werden auch genannt, scheinen für diese Heilpädagoginnen allerdings eine ergänzende und damit untergeordnete Rolle zu spielen. Das breite Spektrum der hier genannten Ziele, die mit einer Bewegungsorientierung verfolgt werden, deckt sich mit den dargestellten Potenzialen und Zielsetzungen zu Beginn des Textes. Diese Fachkräfte sind sich demnach bewusst, dass durch Bewegung vielfältige Entwicklungsbereiche adressiert werden können. Hervorzuheben ist die Vermittlung von (Bewegungs-)Freude als Ziel. Einzelne Fachkräfte beschreiben im Freitext ausführlich, dass sie mit Bewegungsangeboten die Kinder gut erreichen können, weil sie Freude daran haben, sie so aktiv werden, ihre Ressourcen zeigen, wahrnehmen und positive statt defizitäre Erfahrungen machen können. Bewegung zeigt sich hier als kindgerechter und interessengeleiteter Zugang zu Förderprozessen. Wünschenswert wären an dieser Stelle detailliertere Informationen, wie die befragten Heilpädagoginnen die Fördereinheiten gestalten, um die genannten Ziele zu erreichen. Die Frage nach der Gestaltung ist vor allem für jene Fachkräfte interessant, welche angeben, bewegungsorientiert zu arbeiten, ohne sich an speziellen Konzepten zu orientieren. Wenig Orientierung an Konzepten in der Praxis und Frage der Vermittlung in Ausbildung und Studium Von den befragten Heilpädagoginnen, die bewegungsorientiert arbeiten, geben weniger als die Hälfte an, sich an spezifischen Konzepten zu orientieren. Ebenfalls zeigte sich in der Befragung, dass relativ wenige Konzepte in Ausbildung und Studium kennengelernt wurden. Psychomotorik wird mit Abstand am häufigsten genannt, was mit Blick auf die Literatur zur Frühförderung und die dort genannten Konzepte und Methoden nachvollziehbar und passend ist. Erstaunlich dagegen ist die Tatsache, dass mehr als die Hälfte dieser Gruppe angibt, sich (eher) nicht an Konzepten zu orientieren. Einige machen diese Angabe sogar, obwohl sie die nachfolgende Frage, ob sie im Rahmen von Studium oder Ausbildung bewegungsorientierte Konzepte kennengelernt haben, bejahen. Dieses Ergebnis lässt sich nur schwer interpretieren und wirft Fragen auf: Wonach richten die bewegungsorientiert arbeitenden Heilpädagoginnen ihr professionelles Handeln und die 132 FI 3/ 2023 Mone Welsche, Franziska Theil Gestaltung der Interventionen aus, wenn nicht an theoretischen Grundlagen und didaktischen Leitlinien, die passenden Konzepten und Methoden zugrunde liegen? Warum werden bekannte Konzepte in der eigenen Praxis nicht genutzt? Wie sind bewegungsorientierte Konzepte im Rahmen der Studiengänge und Ausbildungswege in der Heilpädagogik verankert und welche Konzepte werden gelehrt? Es ist wichtig, sich mit diesen Ergebnissen in weiteren Untersuchungen auseinanderzusetzen, da sie darauf hinweisen, dass in einigen Bereichen der heilpädagogischen Frühförderung möglicherweise ein Mangel an Fachwissen und theoriegeleitetem Handeln in Bezug auf Bewegung besteht. Obwohl es geeignete Konzepte gibt, die in der Frühförderung eingesetzt werden können, scheint es eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis zu geben. Große Bedeutung, aber auch Ausstattungs- und Abgrenzungsprobleme Knapp 1/ 3 der Heilpädagoginnen nutzen die Möglichkeit, persönliche Anmerkungen zu machen, um auf die große Bedeutung von Bewegung für die kindliche Entwicklung und die Frühförderung hinzuweisen. Aus einigen Anmerkungen lassen sich dazu Hinweise ableiten, warum möglicherweise nicht bewegungsorientiert oder auch nicht nach bekannten Konzepten gearbeitet wird. So merken einzelne Fachkräfte an, dass räumliche und materiale Bedingungen nicht ausreichen und passgenaue Konzepte sowie Fortbildungen fehlen würden. Eventuell sind einige der Befragten unsicher, wie z. B. psychomotorische Interventionen, die typischerweise auf Gruppensettings, größere Räume und spezielles Material ausgelegt sind, unter den Bedingungen der jeweiligen Frühfördersettings umgesetzt werden können. Zu diesem Punkt wäre zu prüfen, ob bei der Vermittlung bewegungsorientierter Konzepte an Hochschulen und Fachschulen ausreichend auf die Bedingungen in Settings eingegangen wird, in denen in kleinen Räumen, ohne spezifisches Material und im Einzelkontakt gearbeitet wird. Diese Rückmeldungen könnten auch auf einen Bedarf an spezifischen Fortbildungen im Bereich der Frühförderung hinweisen. Einige Heilpädagoginnen haben in den Anmerkungen zudem darauf hingewiesen, dass es bei Komplexleistungen Überschneidungen, Ergänzungen und Abgrenzungsprobleme zu den Bereichen der Physio- und Ergotherapie gibt. Diese Bereiche werden in interdisziplinären Kontexten in der Regel mit der Förderung der motorischen Kompetenzen als Ziel in Verbindung gebracht. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, die sich aus dem Einsatz des Mediums Bewegung, über den motorisch-funktionalen Aspekt hinaus, in den verschiedenen Bereichen der Frühförderung ergeben, würde den Umgang mit Abgrenzungsherausforderungen erleichtern und potenzielle Synergieeffekte verdeutlichen und fördern. 5 Zusammenfassung Die Ergebnisse der Befragung bilden ein heterogenes Bild ab. Während ein großer Teil der Heilpädagoginnen bewegungsorientiert arbeitet, tut dies ein mit Blick auf das Altersspektrum der AdressatInnen durchaus großer Teil nicht. Es werden vielfältige Ziele mit dem Einsatz von Bewegung verknüpft. Wie diese erreicht werden (Einsatz von Konzepten und Methoden) ist an vielen Stellen unklar, da sich vergleichsweise selten an Methoden orientiert wird. Die große Bedeutung von Bewegung für die Entwicklungsförderung wird von einigen Fachkräften betont, gleichzeitig werden Synergieeffekte als auch Ausstattungs- und Abgrenzungsprobleme benannt. 133 FI 3/ 2023 Bewegung als Medium in der Frühförderung 6 Bedeutung für Theorie und Praxis der heilpädagogischen Frühförderung Die Bedeutung von Bewegung für die heilpädagogische Frühförderung wurde in diesem Beitrag anhand theoretischer Grundlagen und Ergebnissen aus der Befragung skizziert. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Unterscheidung zwischen Motorik und dem übergeordneten Begriff der Bewegung in der Theorie und Praxis der Frühförderung notwendig ist. Auf diese Weise könnte das Potenzial von Bewegung als Medium verdeutlicht werden. Es könnte ebenfalls von Nutzen sein, zu analysieren, welche Weiterbildungsangebote zur Verfügung stehen, wie diese ausgerichtet sind und wie sie angenommen werden. Einige Fachkräfte haben in den Anmerkungen zudem Ergänzungen benannt, die sich der Zusammenarbeit mit Ergo- und PhysiotherapeutInnen zum Thema Bewegung ergeben. Hier wäre es insbesondere für die Praxis gewinnbringend, genauer zu untersuchen, was mit diesen Ergänzungen gemeint ist und welchen Beitrag sie für das Feld der Frühförderung leisten könnten. Prof.in Dr. Mone Welsche Karlstr. 63 79104 Freiburg E-Mail: mone.welsche@kh-freiburg.de Anmerkungen 1 In der Befragung fokussieren wir die Dimension der Bewegung, im Wissen, dass, wenn über Bewegung nachgedacht wird, immer auch die körperlich-leibliche Dimension mitgedacht werden muss. Diese wird hier aus Platzgründen nicht weiter thematisiert. 2 In verschiedenen Quellen (u. a. Fischer/ Renner 2015, Greving/ Ondracek 2014, Gröschke 1997) wird von der Psychomotorik als Handlungskonzept in der Heilpädagogik gesprochen. Der Begriff Psychomotorik steht als Überbegriff für eine Gruppe von Ansätzen, die sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte aus der psychomotorischen Übungsbehandlung nach Kiphard entwickelt haben (s. für einen Überblick u. a. Kuhlenkamp 2017) und wird in diesem Text in diesem Verständnis verwendet. 3 Hier gab es nur 4 Angaben: Reiseverkehrskauffrau, Logopädin und Verlagskauffrau, Interdisziplinäre Frühförderin (B. A.), Waldorfpädagogin. 4 In diesem Beitrag verwenden wir den Begriff des Konzeptes synonym zu Methoden oder Verfahren. Literatur Ayres, A. (2016): Bausteine der kindlichen Entwicklung: Sensorische Integration verstehen und anwenden - das Original in moderner Neuauflage. Springer, Berlin, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-642-30177-3 Ballreich, R., Lang, T., von Grabowiecki, U. (Hrsg.) (2007): Zirkus spielen. Das Handbuch für Zirkuspädagogik, Artistik und Clownerie. Hirzel, Stuttgart, https: / / doi.org/ 10.1007/ bf03356089 Beudels, W., Anders, W. (2014): Wo rohe Kräfte sinnvoll walten. Handbuch zum Ringen, Rangeln und Raufen in Pädagogik und Therapie. Borgmann, Dortmund Biewald, F. (2004) (Hrsg.): Das Bobath-Konzept: Wurzeln, Entwicklungen, neue Aspekte. Urban und Fischer, München Bös, K., Mechling, H. (2003): Bewegung. In: Röthig, P., Prohl, R. u. a. (Hrsg.): Sportwissenschaftliches Lexikon. Schorndorf, Hofmann, 82 - 84 Brunner-Danuser, F. (1984): Mimi Scheiblauer, Musik und Bewegung. Atlantis Musikbuch, Zürich Dahms, W., Seidel, A. (2012): Diagnostik und Beratung in Interdisziplinären Frühförderstellen. In: Gebhard, B., Henning, B., Leyendecker, C. (Hrsg.): Interdisziplinäre Frühförderung. Stuttgart, Kohlhammer, 186 - 192 Döring, N., Bortz, J. (2016): Forschungsmethoden und Evaluation. Springer, Wiesbaden Esser, M. (2020): Beweg-Gründe. Psychomotorik nach Bernard Aucouturier. Ernst Reinhardt, München Fischer, K. (2011): Konzept und Wirksamkeit der Psychomotorik in der Frühförderung. Frühförderung interdisziplinär 30 (1), 2 - 16, https: / / doi.org/ 10.2378/ fi2011.art01d Fischer, K. (2019): Einführung in die Psychomotorik. Ernst Reinhardt, München Fischer, H., Renner, M. (2015): Heilpädagogik. Heilpädagogische Handlungskonzepte in der Praxis. Lambertus, Freiburg i. Brsg. 134 FI 3/ 2023 Mone Welsche, Franziska Theil Frege, J. (2005): Kreativer Kindertanz. Henschel, Berlin Frostig, M. (1975): Bewegungserziehung. Neue Wege der Heilpädagogik. Ernst Reinhardt, München Fuchs, M. P. (2017): Hengstenberg Spiel- und Bewegungspädagogik: Pädagogische Ansätze auf einen Blick. Herder, Freiburg i. Brsg. Gebhard, B., Kuhlenkamp, S. (2012): Psychomotorik in der Frühförderung - Überlegungen aus den Perspektiven Wirksamkeit und Inklusion. In: Gebhard, B., Hennig, B., Leyendecker, Chr. (Hrsg.): Interdisziplinäre Frühförderung. Stuttgart, Kohlhammer, 219 - 225 Greving, H., Ondracek, P. (2014): Handbuch Heilpädagogik. Bildungsverlag EINS, Köln Gröschke, G. (1997): Praxiskonzepte der Heilpädagogik: anthropologische, ethische und pragmatische Dimensionen. Ernst Reinhardt, München Kennedy, A. (2010): Bewegtes Wissen. Laban/ Bartenieff-Bewegungsstudien verstehen und erleben. Lagos, Berlin Kiphard, E. J. (2009): Psychomotorische Entwicklungsförderung, Bd. 1. Motopädagogik. modernes lernen, Dortmund Kuhlenkamp, S. (2017): Lehrbuch Psychomotorik. Ernst Reinhardt, München, https: / / doi.org/ 10.2378/ mot2018.art08d Lutz, H. (2022): Lifekinetik. Meyer & Meyer, Aachen Merleau-Ponty, M. (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Walter de Gruyter & Co., Berlin Michl, W. (2020): Erlebnispädagogik. Ernst Reinhardt, München Miedzinskis, K., Fischer, K. (2014): Die Neue Bewegungsbaustelle. Lernen mit Kopf, Herz, Hand und Fuß. Modell bewegungsorientierter Entwicklungsförderung. Borgmann Media, Dortmund Murdolo, L. (2020): Welche Bedeutung hat Bewegung für praktizierende Heilpädagoginnen und Heilpädagogen in der Frühförderung? Unveröffentlichte Bachelorarbeit, Katholische Hochschule Freiburg Oussoren-Voors, R. (1999): Schreibtanz: von abstrakten Bewegungen zu konkreten Linien: für 3 - 8-jährige Kinder. modernes lernen, Dortmund Pikler, E., Tardos, A. (2001): Laßt mir Zeit. Die selbstständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. Pflaum, München Pretis, M. (2020): ICF-basiertes Arbeiten in der Frühförderung. Ernst Reinhardt, München Reichenbach, Ch. (2006): Bewegungsdiagnostik in Theorie und Praxis, modernes lernen, Dortmund Reichenbach, Ch. (2023): Handbuch heilpädagogischer Konzepte und Methoden. Ein Leitfaden für die Praxis. Kohlhammer, Stuttgart Reichenbach, Ch., Thiemann, H. (2013): Lehrbuch diagnostischer Grundlagen der Heil- und Sonderpädagogik. modernes lernen, Dortmund, https: / / doi.org/ 10.2378/ mot2020.art09d Regierungspräsidium Stuttgart (2020): Wegweiser Frühförderung in Baden-Württemberg. In: https: / / rp.baden-wuerttemberg.de/ fileadmin/ RP-Internet/ Themenportal/ Soziales/ Landesarzt/ _Document Libraries/ Documents/ wegweiser-ff-bw.pdf, 8. 1. 2022 Sarimski, K. (2022): Handbuch interdisziplinäre Frühförderung. Ernst Reinhardt, München Stück, M. (2011): Wissenschaftliche Grundlagen zum Yoga mit Kindern und Jugendlichen. Schibri-Verlag, Berlin Schwarz, L. (2021): Bedeutung von Bewegung in der Heilpädagogischen Spieltherapie. Qualitative Interviewstudie mit Heilpädagog*innen. Unveröffentlichte Masterarbeit Klinische Heilpädagogik KH Freiburg Thurmair, M., Naggl, M. (2010): Praxis der Frühförderung: Einführung in ein interdisziplinäres Arbeitsfeld. Ernst Reinhardt, München, https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838521718 Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung - Bundesvereinigung e.V. (2023): Frühförderstellen Baden-Württemberg. In: https: / / www.viff-frueh foerderung.de/ fruehfoerderung/ fruehfoerderstellen/ fruehfoerderstellen-in-baden-wuerttemberg/ , 16. 5. 2023 Weiss, G. (2020): Heilpädagogische Rhythmik. Ein Angebot für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. In: Wüllenweber, E., Theunissen, G. (Hrsg.): Zwischen Tradition und Innovation. Methoden und Handlungskonzepte in der Heilpädagogik und Behindertenhilfe. Marburg, Lebenshilfe-Verlag, 89 - 94 Welsche, M. (2018): Beziehungsorientierte Bewegungspädagogik. Ernst Reinhardt, München Wörster, W. (2016): Frühförderung - Möglichkeitsraum für das Kind sein. In: Gebhard, B., Seidel, A., Sohns, A., Möller-Dreischer, S. (Hrsg.): Frühförderung mittendrin - in Familie und Gesellschaft. Stuttgart, Kohlhammer, 41 - 48, https: / / doi.org/ 10.2378/ fi2014. art14d Wüllenweber, E., Theunissen, G. (2020) (Hrsg.): Zwischen Tradition und Innovation. Methoden und Handlungskonzepte in der Heilpädagogik und Behindertenhilfe. Lebenshilfe-Verlag, Marburg Zimmer, R. (2019): Handbuch der Psychomotorik. 26. Aufl. Herder, Freiburg i. Brsg.
