Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aus der Praxis: Zur Bedeutung der Person-Umfeld-Analyse/Netzwerkanalyse im Frühförderprozess
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Doreen Kolaschinsky
Auf die Bedeutung, die eine Netzwerkanalyse oder Person-Umfeld-Analyse im diagnostischen Prozess der Frühförderung zu Beginn und während der weiteren Begleitung einer Familie bei auftretenden Problemen im Alltag hat, wird im Folgenden eingegangen. Über den spontanen Blick auf die Familie und Gespräche mit ihr lässt sich in der Profession der Frühförderung mit dieser Methode eine klare fachliche Perspektive hinsichtlich der Beratung, die die Familie in ihren Lebenswelten betrachtet, herstellen.
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159 Frühförderung interdisziplinär, 42.-Jg., S.-159 - 162 (2023) DOI 10.2378/ fi2023.art18d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS Zur Bedeutung der Person-Umfeld-Analyse/ Netzwerkanalyse im Frühförderprozess Doreen Kolaschinsky Auf die Bedeutung, die eine Netzwerkanalyse oder Person-Umfeld-Analyse im diagnostischen Prozess der Frühförderung zu Beginn und während der weiteren Begleitung einer Familie bei auftretenden Problemen im Alltag hat, wird im Folgenden eingegangen. Über den spontanen Blick auf die Familie und Gespräche mit ihr lässt sich in der Profession der Frühförderung mit dieser Methode eine klare fachliche Perspektive hinsichtlich der Beratung, die die Familie in ihren Lebenswelten betrachtet, herstellen. Die Eigenschaften einer (unklaren) medizinischen Diagnose, einer Behinderung, des Bedarfs an Frühförderung und Therapien oder persönlicher Beratungshilfen sind Ausdruck unterschiedlicher relationaler Positionierung im Sozialraum und korrelieren mit dem sozialen Status der Familien, die Frühförderung aufsuchen (dazu Weisser 2012, 175). Die Entwicklungsbedingungen, die erleichternden oder hemmenden Umweltfaktoren des sozialen Umfeldes der Familie, können mit einer sozialen Netzwerkkarte eingeschätzt werden (Sarimski et al. 2013 in 2017, 70ff) Hier lassen sich unterschiedliche konkrete Anregungen, diese zu gestalten, finden. Nun wird eine einfache, in der Praxis umgesetzte Möglichkeit einer Netzwerkanalyse dargestellt. Mit dieser Methode lässt sich über die subjektive Belastung und die aktuell zur Verfügung stehenden Bewältigungsformen ins Gespräch kommen. Bei Bedarf bietet sich dazu ein Einzelgespräch mit den Eltern an, in dem die Einflussfaktoren im Leben des Frühförderkindes, die beteiligten Bezugspersonen (Geschwister, Großeltern, Nachbarn, Freunde, ErzieherInnen etc.), gemeinsame Wege mit dem Kind (zu Therapien, Ärzten, Sport) offengelegt werden. Mitunter benötigen Eltern auch selbst Beratungshilfen oder Rechtsbeistand, die wiederum mit Wegen und Anforderungen für sie selbst verbunden sind. Welche Probleme es dabei gibt, welche Konflikte dahinter stehen, sind erste Ansätze, zu denen es in einem längeren persönlichen Gespräch kommen kann. Dass es zu Barrieren der Inklusion ihres Kindes führen kann, wenn sie selbst sich über- oder unterfordert fühlen, ist mitunter nicht bewusst und die Aufmerksamkeit auf die u. U. chaotisch wirkende Gegenwart lässt sich langsam entwickeln. Beteiligte, Risiken, Probleme werden bestimmt, wenn in der Familie alles überhand nimmt. Zunächst werden Themen, Einflussfaktoren, gesammelt. Es zeigt sich, in welchen Lebensbereichen diese auftreten (nur in der Familie oder auch in der Kita, Frühförderung). Wie wirkt sich das auf die Familie und die Bezugspersonen aus? In einer dialogischen Grundhaltung lässt sich zunächst eine visuelle Darstellung schaffen (Beispiel für die Durchführung: verschiedenfarbige Kreise werden beschriftet und lassen sich flexibel legen und miteinander in Verbindung setzen). Dies erleichtert das Verständnis für die Mutter/ den Vater und die Frühförderfachkraft kann dies nachvollziehen. Die Komplexität des „Chaos im Kopf“ kann nach und nach erleichtert, reduziert werden, wenn die Übersichtlichkeit durch viele Personen und ihre Wege/ Beziehungen abgebildet werden kann. Aus Erfahrung bietet es sich an, die Familie und die einzelnen Hilfen für jede Person als Kreise um diese herumzulegen. Sind 160 FI 3/ 2023 Aus der Praxis Geschwister auch in der Frühförderung, Kita usw. wird rasch deutlich, welcher Wirklichkeit sich die Eltern gegenübersehen. Die Abbildung zeigt das später abgezeichnete Struktur-Beispiel, das für die Frühförderung genutzt werden kann; das Bild mit den geklebten Kreisen hingegen erhält die Familie. Ziel in der Frühförderung ist die Herstellung einer gemeinsamen Wirklichkeit, das Verstehen von Gegebenheiten, Gefühlen. Der gemeinsame Blick auf die Sache zeigt dann auch die unterschiedlichen Sichtweisen und bringt die Unterstützung der Frühförderung durch das Nachvollziehen und Ratschläge ein. Bei der Erstellung helfen große Zeichenblätter, farbige Papiere und Stifte. Durch ein vorurteilsfreies Brainstorming kommen die meisten Einflüsse zutage. Eine weitere Möglichkeit ist auch, einen Konflikt, der sich gezeigt hat, direkt mit Mutter und Kind zu bearbeiten. Beide basteln Farbkreise oder Ähnliches und malen und schreiben hinein, was sie aneinander sehr mögen und was sie miteinander gerade ärgert. Ganz erstaunlich ist, was bereits Kinder im Vorschulalter kenntnisreich über ihre Mutter mitteilen können, wenn die gemeinsame Zeit dafür genutzt wird. Förderliche und hinderliche Einflussfaktoren werden gefunden und es geht auch um eine Kraftfeldanalyse für die Familien, welche die Frühförderstelle besuchen. Schritte: Fühlen Sie sich so wohl? Was fordert überdurchschnittlich viel Aufmerksamkeit ein? Was kann gestrichen werden? (siehe auch Streichungen in der Abb.). Suchen Sie keine Schuld. Sie müssen sich nicht verteidigen. Wer kann Sie unterstützen? Woran können wir gemeinsam arbeiten? Wohlgesonnene Einflüsse sowie die gefühlte Betroffenheit des Umfeldes geraten mehr in den Fokus sowie auch die förderlichen Einflussmöglichkeiten, die als erste Hinweise durch die Bera- 161 FI 3/ 2023 Aus der Praxis tung gleich gegeben werden können. Das Ziel ist Ihr Kind! Das ist Ihr soziales Netzwerk! Da stehen Sie im Leben! Was die fertig gestellte, vollständige Netzwerkkarte gerade über das Tun und Schaffen der Mutter aussagt: Das ist ja der Wahnsinn, was Sie da alles machen, oder? Die Netzwerkkarte sollte in regelmäßigen Abständen überprüft und gegebenenfalls aktualisiert werden, wenn sich in der Struktur Person-Umfeld etwas ändert: Wie hat sich Ihr Umfeld seit der letzten Analyse verändert? Wie haben sich die Änderungen auf Sie ausgewirkt? Wie möchten Sie damit umgehen? Fazit: In Entwicklung sind stets nicht nur die Kinder, sondern auch ihre Bezugspersonen und die Frühförderfachkräfte. Entwicklung ist das soziale Umfeld, sind also die Beziehungen mit und zu anderen Menschen. Die Funktion der sozialen Gemeinschaft ist das gemeinsame Erreichen von Zielen (zur Förderung des Kindes) vs. Zielkonflikten. Das notwendige Kriterium für einen Zusammenschluss ist die Interaktion der Gruppenmitglieder: damit werden die Grundbedürfnisse aller erreicht! (Klärung von Hierarchien, Konflikten, verzerrten Interpretationen im Alltag). Es handelt sich schließlich um eine Arbeitsteilung der Beteiligten in den Lebenswelten Familie, Kita, Frühförderung/ Therapien und auch um die Klärung von hier entstehenden Zielkonflikten. Durch den Austausch gleichen sich die Beteiligten einander an und die Voraussetzungen für die Frühförderung des Kindes sind wieder gegeben, wo dann das Kind (wieder) im Zentrum steht. Konkrete Hilfen zur Einschätzung des sozialen Umfeldes und der familiären Belastung gibt, wie gesagt, Sarimski (2017, 70ff ), u. a. auch mit der Unterstützung von Elternfragebögen. Schulze (2010, 23), welche den feldtheoretischen Ansatz von Lewin (1935, 1963) rehabilitationspädagogisch für die heutige Zeit weiterentwickelt hat, stellt die Wirkfaktoren und Barrieren im Lebensraum eines Schülers/ einer Schülerin in den Bereichen Familie, Schule, Peers und dem alternativen Wirkungsraum vor. Individuelle Konflikte können sich zeigen, die das Lernen weitreichend beeinflussen, beispielsweise das Pendeln zwischen Bezugspersonen/ Gruppen, der Konflikt zwischen Kontaktbereitschaft und Abneigungskonflikt mit der Folge des inneren Rückzugs, das Hin-und- Her-Driften zwischen aktuell gegebenen Wirkräumen. Auch in der Frühförderung zeigen sich zwischen den Eltern untereinander und den Eltern und Großeltern ähnliche Belastungsbereiche, die das Kind wahrnimmt und sich damit auseinandersetzen muss. Diese Bereiche überlagern die Zugänglichkeit und Offenheit des Kindes oder der Mutter/ des Vaters für das gemeinsame Spiel zur Zeit des Frühförderbesuches. Letztlich lässt sich sagen, dass soziale Unterstützung ein mehrdimensionales Konzept ist, das in anwendungsorientierten Zusammenhängen der Wissenschaft und in der Praxis als solches berücksichtigt werden muss: Wie viele und welche Unterstützungsressourcen hält das soziale Netzwerk bereit (Ressourcenaspekt) und werden diese auch von den Hilfeempfängern in Anspruch genommen (interaktiver Aspekt)? Ob die Unterstützung von der Familie letztlich als wirklich hilfreich erlebt wurde, stellt den evaluativen Aspekt dar (Heckmann 2012, 120). All dies lässt sich im Frühförderprozess, aus dem diagnostischen Blick gesehen, gut begleiten. Somit kommt im praktischen Tun immer auch der Evaluation von Erfolg zunächst für die Familie und schließlich für die Frühförderarbeit in der individuellen Begleitung Wichtigkeit zu. Aber: Agiles Management muss auch ohne die Umfeldanalyse mit den Eltern funktionieren, weil die Zeit dafür in der Frühfördereinheit nicht gegeben/ finanziert wird. Ein Projektteam beginnt durch Fachaustausch eine Analyse der gegebenen Situation und gibt Ratschläge bei Problemen und Widerständen, die nur aus Sicht der Frühförderung geschildert werden. Damit ist das unbedingte Ziel der Mitsprache, Einsicht in ihre Lage und künftige Handlungsfähigkeit der Familien nicht gegeben und die familiären Lebenswelten 162 FI 3/ 2023 Aus der Praxis werden auf das aktuell entstandene Problem verkürzt. Da auf diese Weise nicht die Gesamtzusammenhänge reflektiert werden, wird es immer wieder um ähnliche Schwierigkeiten bei ein und demselben Kind und seiner Familie gehen. Die Teilnahme einer zweiten Person bei der Frühförderung zur Beratung/ Mentoring sollte neben der Möglichkeit von längeren Einzelgesprächen mit den Eltern angesichts der Zunahme der Komplexität der Lebenssituationen der Frühförderfamilien gang und gäbe sein! Dr. phil. Doreen Kolaschinsky Rehabilitationspädagogin E-Mail: doreenkolaschinsky@gmx.de Literatur Heckmann, C. (2012): Alltags- und Belastungsbewältigung und soziale Netzwerke. In: Beck, I., Greving, H. (Hrsg.): Lebenslage und Lebensbewältigung. Stuttgart, Kohlhammer, 115 - 123 Sarimski, K. (2017): Handbuch interdisziplinäre Frühförderung. Ernst Reinhardt, München/ Basel Sarimski, K., Hintermair, M., Lang, M. (2013): Familienorientierte Frühförderung von Kindern mit Behinderung. Ernst Reinhardt, München/ Basel Schulze, G. C. (2010): Die Person-Umfeld-Analyse und ihr Einsatz in der Rehabilitation. In: Baumann, M., Schmitz, C., Zieger, A. (Hrsg.): Rehapädagogik - Rehamedizin - Mensch. Schneider, Hohengehren, 132 - 147 Weisser, J. (2012): Politische und soziale Partizipation. In: Beck, I., Greving, H. (Hrsg.): Lebenslage und Lebensbewältigung. Kohlhammer, Stuttgart, 170 - 178
