eJournals Frühförderung interdisziplinär 42/3

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Nachruf: In Memoriam Otto Speck

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2023
Franz Peterander
Wer erinnert sich nicht gerne an inspirierende Begegnungen mit Prof. em. Dr. Otto Speck. Am 11. April 2023 ist er wenige Tage nach seinem 97. Geburtstag von uns gegangen. Ein Tag der Trauer für seine Familie und Freunde, für alle, die ihn persönlich kannten, sowie für die Fachleute rund um die Sonder- und Heilpädagogik und Interdisziplinäre Frühförderung (IFF). Über viele Jahrzehnte hinweg war er die herausragende Autorität, wenn es um Menschen mit Behinderungen ging. Wann auch immer ein Thema in diesem Feld diskutiert wurde, wollten alle seine Meinung hören. Wie ein roter Faden durchzog sein Wirken und Werk die Frage nach den moralischen Grundlagen der Erziehung und der gesellschaftlichen Integration von Menschen mit (geistiger) Behinderung. Professor Otto Speck hinterlässt eine kaum zu schließende Lücke in seinem Fachgebiet und wohl auch in der Gesellschaft.
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165 FI 3/ 2023 NACHRUF In Memoriam Otto Speck Nie kann die Spur verlaufen einer starken Tat Rainer Maria Rilke Wer erinnert sich nicht gerne an inspirierende Begegnungen mit Prof. em. Dr. Otto Speck. Am 11. April 2023 ist er wenige Tage nach seinem 97. Geburtstag von uns gegangen. Ein Tag der Trauer für seine Familie und Freunde, für alle, die ihn persönlich kannten, sowie für die Fachleute rund um die Sonder- und Heilpädagogik und Interdisziplinäre Frühförderung (IFF). Über viele Jahrzehnte hinweg war er die herausragende Autorität, wenn es um Menschen mit Behinderungen ging. Wann auch immer ein Thema in diesem Feld diskutiert wurde, wollten alle seine Meinung hören. Wie ein roter Faden durchzog sein Wirken und Werk die Frage nach den moralischen Grundlagen der Erziehung und der gesellschaftlichen Integration von Menschen mit (geistiger) Behinderung. Professor Otto Speck hinterlässt eine kaum zu schließende Lücke in seinem Fachgebiet und wohl auch in der Gesellschaft. Ein besonderer Verlust ist sein Verscheiden für die Interdisziplinäre Frühförderung, die er 1973 aufgrund seines schon legendären Berichts „Früherkennung und Frühförderung behinderter Kinder“ für den Deutschen Bildungsrat in Kooperation und finanziert durch das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus als eine regionale, familiennahe und interdisziplinäre Frühförderung für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen und Behinderungen gegründet, aufgebaut und weiterentwickelt hat. All die Jahre hat er diesem System wichtige theoretische, forschungsrelevante wie auch praktische Entwicklungsimpulse gegeben, ohne die es national und international sicher nicht so weisungsgebend geworden wäre. Der beeindruckende Erfolg dieses Förderkonzepts mit inzwischen über 250 regionalen Interdisziplinären Frühförderstellen allein in Bayern hat Otto Speck in allen Belangen Recht gegeben und Kindern und ihren Familien jahrzehntelang die bestmögliche Förderung ermöglicht. Für ihn bedeutete die Frühförderung - wie die Heilpädagogik generell - interdisziplinär zu denken und die Kooperation von Pädagogik, Psychologie und Medizin zu stärken und zu leben. Historie An Otto Speck zu erinnern, heißt auch, über seine Historie zu reden. Geboren am 25. März 1926 in Rennersdorf verbrachte er die Kinder- und Jugendjahre in Oberschlesien mit seinen Eltern und drei Schwestern. In der Familie spielte Musik eine große Rolle, er selbst spielte Geige und Cello und leitete auch ein Jugendorchester. Er hatte viel Freiraum zur persönlichen Entwicklung, er liebte die Musik und die Natur. Er erzählte gerne, dass er nach der Rückkehr aus der Schule im späteren Kindesalter begehbare „Häuser“ baute und als erstes Berufs- Foto: ERV 166 FI 3/ 2023 Nachruf ziel eine Affinität zur Architektur entwickelte. Die schwierigen Nachkriegszeiten, in denen es ihn und später die Familie nach Bayern verschlug, erlebte er als große Herausforderung. Die beruflichen Stationen bis zu höchsten universitären Positionen ergaben sich für ihn später wie von selbst, er musste sich nicht um sie bemühen. Es scheint, als hätte ihn von Anbeginn ein guter und sicherer Kompass durch das Leben geleitet, geprägt durch hohe moralische Ansprüche vor allem an sich selbst. Vertrauen spielte dabei eine genauso wichtige Rolle wie Zuverlässigkeit, Achtsamkeit und Anstand. Bewundernswert war seine lebenslange Selbstdisziplin, nicht nur, aber auch in Fragen der Gesundheitsprävention, die ihm bis zuletzt zu stetiger mentaler Stärke verhalf. Die wichtigste Rolle in seinem Leben spielte aber seine eigene Familie. Er lebte über 60 Jahre mit seiner Frau in einer harmonischen und erfüllenden Beziehung - und er war besonders stolz auf seine drei Kinder, seine 9 Enkelkinder und vier Urenkel. Eine künstlerisch und musikalisch geprägte Familie, wobei ihrem Vater folgend eine Tochter und der Sohn ebenfalls erfolgreiche akademische Wege an Universitäten einschlugen. Ein harter Schicksalsschlag traf die ganze Familie und Otto Speck mit dem Tod seiner jüngeren Tochter, einer bekannten bildenden Künstlerin. Akademische Historie Seine akademische Ausbildung begann Otto Speck 1946 mit seinem Studium zum Volksschullehrer, anschließend folgte eine weitere Ausbildung zum Hilfsschullehrer. 17 Jahre lang war er ein leidenschaftlicher Volksschullehrer und Hilfsschullehrer bei verhaltensgestörten, lernbehinderten und geistig behinderten Kindern. Sein Studium der Pädagogik, Psychologie, Philosophie und Katholischen Dogmatik an der Ludwig-Maximilians- Universität München (1951 - 1955) schloss er 1955 mit der Promotion ab. In dieser Zeit veröffentlichte er bereits zahlreiche Arbeiten und übernahm nebenamtliche Dozententätigkeiten. Er leitete Kurse u. a. zu damals neuen Themen wie der Rolle von Vätern und Familienerziehung an der Münchner Mütterschule. Eine rege Ausbildungstätigkeit für LehrerInnen sowie Dozententätigkeit für Heilpädagogische Ausbildungslehrgänge an der Höheren Fachschule für Sozialarbeit folgten. 1964 wurde er Leiter der Ausbildung für Sonderschullehrer am Bayerischen Staatsinstitut für die Ausbildung von LehrerInnen an Sonderschulen. 1968 erhielt er das Angebot einer Professur für Lernbehindertenpädagogik am Institut für Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Reutlingen; 1971 folgte eine Anfrage seitens der Universität Zürich bezüglich einer Berufung auf den Lehrstuhl für Heilpädagogik. Im selben Jahr erfolgte beinahe folgerichtig seine Berufung zum ordentlichen Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Geistigbehinderten- und Verhaltensgestörtenpädagogik an der LMU, den er von 1971 bis 1992 innehatte. Wirken und Werk Professor Otto Speck war als ein höchst anerkannter und wertgeschätzter Wissenschaftler, Forscher, engagierter Lehrer und Hochschullehrer auch stets ein Vorbild für Generationen von SchülerInnen und Studierende. Er fühlte sich traditionellen Werten verbunden, war offen und kommunikativ, innovativ, kritisch und zukunftsorientiert in seinem Denken und gesellschaftlichen Wirken. Dabei sah er Wissen nie losgelöst von Bedeutung und Werten. Er wurde sehr bald nach seiner Ernennung zum Professor Mitglied des Senats (1975 - 1982) und anschließend von 1982 - 1986 auch Vizepräsident an der LMU München. Auch in dieser damals für einen Sonderpädagogen nicht häufigen hohen universitären Leitungsposition war er nicht Verwalter, sondern Gestalter. Eine aktive Rolle nahm er nach der Wende auch als Mitbegründer seiner Fachrichtung an ostdeutschen Universitäten in Potsdam und Halle/ Saale ein, wirkte unterstützend beim Aufbau seines 167 FI 3/ 2023 Nachruf Fachs an der Humboldt-Universität Berlin. Mit seiner bemerkenswerten Energie und klugen Weitsicht wies er sich häufig als ein nimmermüder Motivator aus, war Initiator und Entscheider in vielen politischen und fachlichen Gremien sowie als Wissenschaftler und Berater in zahlreichen nationalen und internationalen Forschungs- und Modellprojekten gern gesehen. Dabei hatte für ihn die Empirie in der Forschung einen besonders hohen Stellenwert. Sie hat besonders durch ihn den Eingang in die sonderpädagogische Forschung gefunden und dadurch das Fach aufgewertet. In seinen empirischen Studien wie z. B. im ersten Modellprojekt in Deutschland zur „Schulischen Integration von lern- und verhaltensgestörten Kindern in die Normalschule“ in einem ehemaligen Problemviertel in München (1974 - 1977) pflegte er die Kooperation mit anderen Disziplinen und Forschungsinstitutionen wie mit der psychologischen Abteilung des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie. Interdisziplinäre Kooperationen und Offenheit für neue Themen erachtete er per se als Qualitätsmerkmal für die Sonder- und Heilpädagogik wie auch für die IFF. Im Zuge dieses Modellprojekts fand unsere erste Begegnung statt: Otto Speck war bereits ein bekannter Professor der Sonderpädagogik und ich ein Student der Psychologie. Keine Frage, dass er mit diesem Bund-Länder-Forschungsprojekt bereits in den 70er-Jahren ein Visionär und Pionier im Bereich der Integration und Teilhabe von behinderten Menschen in die Gesellschaft war. Nicht zuletzt war Professor Otto Speck der Herausgeber der von ihm 1982 begründeten Zeitschrift „Frühförderung interdisziplinär“, die heute auch nach ihrem 40. Erscheinungsjahr im renommierten Ernst Reinhardt Verlag, München, die einzige wissenschaftliche Zeitschrift zur Interdisziplinären Frühförderung für Forschung und Praxis im deutschsprachigen Raum ist. Otto Speck wurde dort für seine zahlreichen wichtigen Beiträge als Autor wertgeschätzt und wird stets als „Gründungsherausgeber“ für seinen jahrzehntelangen wissenschaftlichen und gestalterischen Input geehrt werden. Publikationen und Input Bedauerlicherweise gibt es an dieser Stelle keine Möglichkeit, auch nur annähernd auf die immense Anzahl seiner Veröffentlichungen einzugehen. Otto Speck veröffentlichte mehrere Hundert Fachartikel in Zeitschriften, Zeitungen, Handbüchern, Festschriften, Sammelbänden sowie in Lexika. Dazu kommen mehr als 20 Monografien sowie weitere 15 Herausgeber- oder Mitherausgeberschaften. Einige seiner Monografien und Bücher wurden auch in die japanische, polnische, russische, spanische und französische Sprache übersetzt. Seine vornehmlich im Ernst Reinhardt Verlag publizierten Monografien sind mit beeindruckend hohen Auflagen zu wahren Klassikern geworden. Sein Buch „Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Lehrbuch zur Erziehung und Bildung“ erschien 2018 in der 13., überarbeiteten Auflage. Mit dieser Monografie hat er einen neuen theoretischen und ethischen Rahmen für eine bestmögliche Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung geschaffen. Besonders hervorzuheben ist auch sein 1988 publiziertes Buch „System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung“, mit dem er die Heilpädagogik für moderne theoretische Reflexionen geöffnet hat - auch nach 35 Jahren gilt es in völlig überarbeiteter 6. Auflage als ein klassisches Lehrbuch. Für ihn selbst waren seine grundlegenden Reflexionen in den beiden Monografien „Chaos und Autonomie in der Erziehung“ (2. Auflage, 1997) sowie „Erziehung und Achtung vor dem Anderen“ (1996) wichtig. Gerne hat sich Otto Speck im heilpädagogischen und sozialpolitischen Feld mit seinen „produktiven Irritationen“ in wichtige gesellschaftliche Diskussionen eingebracht. Nur einige Themen seien erwähnt: „Die Ökonomisierung sozialer Qualität“ (1999); „Soll der Mensch biotechnisch machbar werden? Eugenik, Behinderung und Pädagogik“ (2005); „Hirnforschung und Erziehung“ (2. Auflage, 2009); „Schulische Inklusion aus heilpädagogi- 168 FI 3/ 2023 Nachruf scher Sicht. Rhetorik und Realität “ (2. Auflage, 2011); „Spirituelles Bewusstsein“ (2014) wie auch sein jüngstes Buch „Dilemma Inklusion. Wie Schule allen Kindern gerecht werden kann“ (2019). Ein gelungenes Werk basierend auf Wissen aus seinen früheren Studien wie aus langjährigen Lehr-Erfahrungen, die 1978 mit dem Buch „Schulische Integration lern- und verhaltensgestörter Kinder“ (Speck, Gottwald, Havers, Innerhofer) ihren Anfang nahmen. Otto Specks Überlegungen und Antworten in einer heute immer aufgeregteren Diskussion um Fragen einer gelingenden Integration bzw. Inklusion sind angenehm frei von Ideologie und daher auch besonders überzeugend und wertvoll. Wie bei anderen seiner Themen zeichnete sich Otto Speck nicht als Illusionist, sondern als ein reflektierter humaner Realist aus. Es ist müßig zu erwähnen, dass er stets voller positiver Neugier auf die Reaktionen seiner Bücher im Feld war, und sich über sie freuen, aber auch „konstruktiv“ sehr ärgern konnte. Sein Interesse galt auch sonderpädagogischen Fragen und Entwicklungen in anderen Ländern, was ihn auch international bekannt gemacht hat. Auf seinen Vortragsreisen nach Caracas/ Venezuela (1979), Japan (1984) und den USA (1985) sowie in viele europäische Länder interessierte er sich für die jeweiligen Förderkulturen und ihre Strukturen. Sein fachliches Interesse war vielseitig und seine Themen breit aufgestellt. So veröffentlichten wir ein Buch zur „Frühförderung in Europa“ (Peterander & Speck 1996), das in verschiedene Sprachen übersetzt wurde. Zu Beginn des Einzugs der Qualitätsdiskussion in die soziale Arbeit entstand auf der Basis eines gleichlautenden Kongresses das Buch „Qualitätsmanagement in sozialen Einrichtungen“ (Peterander & Speck 1999) und als Ausfluss davon die heute unter Führung des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales erfolgreiche „Consozial“ - ein jährlicher großer Kongress in Nürnberg und die einzige deutsche Fachmesse im Sozialbereich. Otto Speck war zudem Mitglied/ Berater in zahlreichen angesehenen nationalen und internationalen Organisationen, u. a. auch korrespondierendes Mitglied der deutschen UNESCO-Kommission (1991 - 2008). Zu erwähnen sind auch die in den Jahren 1988 - 1997 gemeinsam eingeworbenen Forschungsmittel im Bereich der Frühförderung, wie z. B. über „Strukturelle und inhaltliche Bedingungen der Frühförderung“ - eine Evaluationsstudie -, die Entwicklung computergestützter Lern- und Beratungssysteme sowie zu Fragen zur Elternbildung. Anerkennungen und Ehrungen Professor Otto Speck war eine charismatische Persönlichkeit mit einer beeindruckenden Lebensleistung, für die er von vielen Seiten allerhöchste Anerkennung und Ehrungen erfuhr - vom Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland (1991), dem Bayerischen Verdienstorden (1994) bis zum Bayerischen Maximiliansorden, der höchsten Auszeichnung für außergewöhnliche Leistungen in Wissenschaft und Kunst (1995). Eine Auswahl soll auf seine umfangreiche Gremien- und Verbandsarbeit hinweisen: Ehrenmedaille der Martin-Luther Universität Halle/ Saale (1994); Goldene Ehrennadel der Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte (1996); Ehrenvorsitzender der „Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung“ (1999), Hans-Asperger-Medaille Wien (2008) wie auch die Berufung zum Vorsitzenden der Evaluierungskommission im Fach Pädagogik an bayerischen Universitäten (2000) und zum Mitglied der Ethik-Kommission der Fakultät für Psychologie und Pädagogik der LMU (2003). Insgesamt wurden 14 Festschriften und Hommagen zu seinen Ehren publiziert. Zum 70. Geburtstag erschien das Buch „Focus Heilpädagogik. Projekt Zukunft“ (Opp & Peterander 1996) mit 36 Beiträgen von KollegInnen, und nicht zu vergessen: 2011 wurde das Förderzentrum Emotionale und soziale Entwicklung in München an der Dachauer-Straße in „Professor-Otto-Speck-Schule“ umbenannt. 169 FI 3/ 2023 Nachruf Persönlichkeit Otto Speck war auch ein Humanist und Christ, ein scharfer Denker und Menschenfreund, der trotz seiner großen Erfolge bescheiden geblieben ist. Ohne Zweifel war er eine Persönlichkeit mit Autorität und Ausstrahlung, die viele von uns vermissen werden. Er konnte in Einzelgesprächen sein Gegenüber wie auch als exzellenter Redner ganze Säle von seinen Ideen begeistern. Und wenn er nicht schrieb, las er. Er war neugierig auf Menschen und stets auf der Suche nach den Motiven und Hintergründen menschlichen Verhaltens. Er wurde nie müde, sie verstehen zu wollen. Nur bei menschlicher Ignoranz zeigte er manchmal Ungeduld. Und ein langes Gedächtnis. Starke Emotionen mussten dann erst verarbeitet werden. Das war auch der Fall, wenn er den Eindruck gewann, dass Ziele und Aussagen von Personen von vorrangig ideologischen Absichten geleitet wurden. Ideologie in dem Sinne, dass diesen Aussagen keine Fakten zugrunde lagen. Aber das machte ihn umso authentischer und seine sachlichen Argumentationen noch überzeugender. Eine hohe Wertschätzung wurde ihm auch von seinen KollegInnen entgegengebracht, was in diesem Setting nicht immer selbstverständlich ist. Anlässlich seines 70. Geburtstages fand 1996 das gemeinsam mit dem Kollegen Prof. Dr. Günther Opp organisierte Symposion „Gesellschaft im Umbruch - Die Heilpädagogik vor neuen Herausforderungen“ statt. Originalton O. Speck: ein „phantastisches Symposion“. Unter den über 700 TeilnehmerInnen in der großen Aula der LMU waren mehr als 100 angereiste ProfessorInnen aus verschiedenen Disziplinen, die ihm ihren Respekt bekundeten. Der Hauptredner, der von Otto Speck geschätzte und weltweit bekannte chilenische Biologe und Systemtheoretiker, Prof. Dr. Humberto Maturana, brachte ein Thema auf den Punkt, das seit jeher Otto Speck bewegte: „Wir werden als menschliche Wesen nur die Welt haben, die wir zusammen mit anderen hervorbringen.“ (Der Baum der Erkenntnis, Humberto Maturana und Varela 1987) Interdisziplinäre Frühförderung Otto Speck ist der Begründer der Interdisziplinären Frühförderung in Bayern und Deutschland. Seine wissenschaftlichen Leistungen und vor allem seine gestaltende Einflussnahme auf politisches Handeln zugunsten dieses Systems lassen sich nicht genug herausheben. Er entwickelte 1984 das Konzept der Arbeitsstelle Frühförderung Bayern e.V., die zu Beginn an seinen Lehrstuhl für Sonderpädagogik angegliedert war und anfangs vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus finanziert wurde. Bei der wissenschaftlichen Leitung kooperierte Otto Speck lange Jahre mit der profilierten Medizinerin Dr. med. Barbara Ohrt vom Haunerschen Kinderspital. Die Arbeitsstelle Frühförderung Bayern entwickelte sich auch dank der bis heute vertrauensvollen und umfassenden Unterstützung des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales zu einer der bedeutendsten Plattformen für Information und Aus- und Weiterbildung in der Interdisziplinären Frühförderung. Mit der Öffnung der IFF für neue ökologisch-systemische Theorien wird sein wissenschaftlicher Beitrag auch für die Praxis der IFF in Zukunft eine wichtige Leitlinie und Verpflichtung sein. Seine vielen wissenschaftlichen Projekte, Artikel und Vorträge vor Fachleuten und interessierten Eltern sowie vor politisch Verantwortlichen belegen dies eindrucksvoll. Er fühlte sich diesem System besonders eng verbunden, war fortlaufend gut informiert und bis in allerjüngste Zeit an ihren aktuellen Entwicklungen interessiert. In den vergangenen zwei Jahren galt seine Sorge den negativen Entwicklungen, die durch den geplanten gesetzlichen Wechsel der IFF vom SGB IX (Rehabilitation) ins sogenannte „inklusive“ SGB VIII der Kinder- und Jugendhilfe und damit unter der Kontrolle des Jugendamts entstehen können. Er befürchtete mit diesem - fachlich nicht begründbaren - „Übergang“ der IFF ins Jugendamt den Verlust der Autonomie der regionalen Frühförderstellen und insbesondere der Kooperation mit der Medizin (Interdisziplinarität). Generell sah er 170 FI 3/ 2023 Nachruf das gesamte Konzept der erfolgreichen bayerischen IFF durch den Wechsel ins sogenannte „inklusive“ SGB VIII als gefährdet an. Das zeigt sich auch in seinem letzten Beitrag in Heft 3, 2021 dieser Zeitschrift „Frühförderung interdisziplinär“ über die Auseinandersetzung der Interdisziplinären Frühförderung mit den Frühen Hilfen. Seiner Meinung nach sind die - zu häufig falsch interpretierten - Intentionen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) keine Begründung für den Wechsel der IFF ins „inklusive“ SGB VIII. Natürlich ist nach der UN-BRK jederzeit eine spezielle Förderung von Kindern mit Behinderungen möglich, und mehr noch: … „spezielle Hilfen und Unterstützung für Kinder mit Behinderungen ist gerade Voraussetzung für Nichtdiskriminierung“ (Speck 2021, 162; Art. 2 der UN-BRK). Otto Speck ging es auch hier um das Aufzeigen von Fehlentwicklungen bzw. um ihre Verhinderung. Dabei scheute er sich nie, zum Wohle des Ganzen eine kritische Rolle einzunehmen - aber das immer auf der Basis von Fakten und Daten. Reflexionen Höchst erinnerungswürdig sind nicht nur die langen und anregenden Gespräche, sondern auch die intensiven Diskussionen in seinem Haus. Fragen zur Gesellschaftspolitik und zum menschlichen Sein an sich beschäftigten ihn fortwährend. Es gibt wirklich nicht viele Menschen, die so interessiert und belesen waren und leidenschaftlich wie er über Philosophie, Pädagogik, Psychologie, Theologie, Kunst, Natur und die Bach-Kantaten in der Musik diskutierten. Otto Speck war ein aufmerksamer Zuhörer, und vielleicht sogar ein noch besserer Beobachter, der nicht wertete, sondern Argumente einzuordnen und zu reflektieren wusste. Er sprach ruhig, konzentriert und nahm sein Gegenüber respektvoll mit. Er war höflich, er war nicht in Eile, er schenkte seinen PartnerInnen die volle Aufmerksamkeit. Öffentliche fachliche Auseinandersetzungen gehörten selten zu seinem Verhaltensrepertoire - bis auf eine Ausnahme: bei der von ihm befürworteten politischen Entscheidung in den 70er-Jahren über die Einführung der regionalen, familiennahen Interdisziplinären Frühförderung in Bayern. Damals hatte er durch sein besonderes Engagement erreicht, dass es heute neben den SPZs in Bayern die regionale und familiennahe Interdisziplinäre Frühförderung gibt. Wie die Vergangenheit gezeigt hat, ein äußerst wirksames und effizientes System zur Förderung behinderter Kinder. Auf jeden Fall war er stets präsent in der Szene und scheute sich nicht, eine vom Mainstream abweichende Meinung zu äußern. „Inklusion“ ist auch so ein zentrales Thema, das ihn jahrzehntelang beschäftigte und bei dem er manchmal nicht von allen die Zustimmung erfuhr, die ihm für seine liberale und ausgewogene Meinung über „Inklusion“ und Integration gebührte. Nicht zufällig war sein letztes Buch dazu „Dilemma Inklusion“ - ein wertvolles Vermächtnis. Prof. Dr. Otto Speck war eine außergewöhnliche Person mit einer außergewöhnlichen Biografie, die ihn nach den kriegsbedingten Umbruchzeiten neben familiärem Glück und Zufriedenheit zu allerhöchsten Ämtern und Ehrungen geführt hat. Er ist sich dabei stets treu geblieben. Vielleicht ist das eines der Geheimnisse seines Lebenserfolgs. Auf jeden Fall war Otto Speck in dieser komplexen Welt einer der ganz wenigen Menschen, denen sich viele freundschaftlich verbunden fühlten, die wirklich etwas zu sagen hatten - und eine Person, der man gerne zuhörte und sich daran orientierte. Prof. Dr. F. Peterander