Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2023
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Aktuelle Fachdiskurse: Frühförderung in Deutschland
101
2023
Christian Fricke
Liane Simon
Mit dem Begriff Frühförderung wird in Deutschland ein ganzheitliches und interdisziplinäres System beschrieben, dass sich aus verschiedenen Leistungsbausteinen zusammensetzt, die den individuellen Bedürfnissen des Kindes und seiner Familie angepasst werden. Innerhalb dieses Systems arbeiten Fachkräfte verschiedener Professionen zusammen. Aufgrund der interdisziplinären und individuellen Ausrichtung der Frühförderung wird diese heute als Komplexleistung bezeichnet. Dazu gehören das offene und niedrigschwellige Beratungsangebot, die interdisziplinäre Diagnostik mit Förder- und Behandlungsplanung sowie (heil-)pädagogisch-psychologische und/oder medizinisch-therapeutische Leistungen.
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Frühförderung interdisziplinär, 42.-Jg., S.-184 - 192 (2023) DOI 10.2378/ fi2023.art20d © Ernst Reinhardt Verlag 184 Frühförderung in Deutschland Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung - Bundesvereinigung (VIFF) Christian Fricke, Liane Simon Zusammenfassung: Mit dem Begriff Frühförderung wird in Deutschland ein ganzheitliches und interdisziplinäres System beschrieben, dass sich aus verschiedenen Leistungsbausteinen zusammensetzt, die den individuellen Bedürfnissen des Kindes und seiner Familie angepasst werden. Innerhalb dieses Systems arbeiten Fachkräfte verschiedener Professionen zusammen. Aufgrund der interdisziplinären und individuellen Ausrichtung der Frühförderung wird diese heute als Komplexleistung bezeichnet. Dazu gehören das offene und niedrigschwellige Beratungsangebot, die interdisziplinäre Diagnostik mit Förder- und Behandlungsplanung sowie (heil-)pädagogisch-psychologische und/ oder medizinisch-therapeutische Leistungen. Schlüsselwörter: Frühförderung, Inklusion, Interdisziplinäre Zusammenarbeit, ICF, SGB VIII Early Childhood Intervention in Germany Summary: In Germany, the term early childhood intervention is used to describe a holistic and interdisciplinary system that consists of various service modules, adapted to the individual needs of the child and his or her family. Specialists from different professions work together within this system. Due to the interdisciplinary and individual orientation of early intervention, it is now called a complex service. This includes open and low-threshold counselling services, interdisciplinary diagnostics with support and treatment planning as well as (curative) pedagogical-psychological and/ or medical-therapeutic services. Keywords: Early Childhood Intervention, Inclusion, interdisciplinary collaboration, ICF, SGB VIII AK TUELLE FACHDISKURSE 1. Definition des Themenfeldes/ Arbeitsbereiches M it dem Begriff Frühförderung wird in Deutschland ein ganzheitliches und interdisziplinäres System beschrieben, dass sich aus verschiedenen Leistungsbausteinen zusammensetzt, die den individuellen Bedürfnissen des Kindes und seiner Familie angepasst werden. Innerhalb dieses Systems arbeiten Fachkräfte verschiedener Professionen zusammen. Aufgrund der interdisziplinären und individuellen Ausrichtung der Frühförderung wird diese heute als Komplexleistung bezeichnet. Dazu gehören: Offenes und niedrigschwelliges Beratungsangebot Alle Eltern (Erziehungsberechtigte) mit Fragen oder Sorgen bezüglich der Entwicklung ihres Kindes haben Anspruch auf eine qualifizierte Beratung. Diese steht als sehr niedrigschwelliges und für die Ratsuchenden kostenfreies Angebot prinzipiell allen Familien von der Geburt eines Kindes bis zu dessen Einschulung zur Verfügung. Ziel des Beratungsangebots ist, die Sorgen der Eltern ernst zu nehmen, ihnen zuzuhören und ihre Fragen zu beantworten. Wenn die Unsicherheiten bezüglich der Entwicklung des Kindes im Rahmen des Beratungsgesprächs 185 FI 4/ 2023 Frühförderung in Deutschland (VIFF) weiterhin bestehen, dann kann eine interdisziplinäre Diagnostik folgen. Die Beratung muss aber nicht zwingend dazu führen, dass weitere Leistungen der Komplexleistung Frühförderung folgen. Interdisziplinäre Diagnostik Beeinträchtigungen und Partizipationsmöglichkeiten bzw. -einschränkungen des Kindes werden durch die interdisziplinäre Diagnostik und gemeinsame Förder- und Behandlungsplanung eines Teams aus Kinder- und Jugendärzt: innen und heilpädagogischen Fachkräften erfasst und somit ein medizinisch/ therapeutisch und pädagogisch/ psychologisch abgestimmtes Vorgehen sichergestellt. Kindliche Entwicklung erfolgt immer in starker Abhängigkeit von dem ihn umgebenden Kontext und ist nicht linear-kausal zu erfassen. Wechselwirkungen von Beeinträchtigungen und ihrem Umfeld führen dazu, dass betroffene Kinder in ihrer Teilhabe behindert werden oder davon bedroht sind. Dies macht eine umfassende Bedarfsermittlung in einer gemeinsamen Diagnostik verschiedener Fachkräfte und in enger Zusammenarbeit mit der Familie erforderlich. Daher ist eine interdisziplinäre Diagnostik systemorientiert organisiert mit dem Ziel, die Notwendigkeit weiterer Leistungen der Komplexleistung Frühförderung zu überprüfen und entsprechende Empfehlungen auszusprechen. Sollten Leistungen der Komplexleistung Frühförderung als erforderlich angesehen werden und von der Familie erwünscht sein, mündet die Diagnostik in eine Förder- und Behandlungsplanung. Förder- und Behandlungsplanung Der Förder- und Behandlungsplan ersetzt im Bereich der Frühförderung die Teilhabeplanung und hat einen starken Fokus auf der Förderung der Partizipationsmöglichkeiten des Kindes. Die VIFF hat einen modularen, auf der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)-basierten Förder- und Behandlungsplan entwickelt, dessen einzeln verwendbare Teile zur Planung, Abstimmung und in Teilen auch zur Antragstellung bei den zuständigen Leistungsträgern dienen sollen. (Heil-)pädagogisch-psychologische und/ oder medizinisch-therapeutische Leistungen Angepasst an die individuellen Bedürfnisse des Kindes und seiner Familie werden im Förder- und Behandlungsplan die zur Erreichung der Ziele notwendigen Leistungen benannt und in ihrer Zusammensetzung festgelegt. Die Leistungserbringung erfolgt ebenfalls interdisziplinär, Umfeld bezogen und familienorientiert mit dem Ziel, a) die Beeinträchtigungen des Kindes möglichst zu mildern und/ oder zu beseitigen sowie b) die Partizipationsmöglichkeiten des Kindes möglichst zu erhöhen. Beratung (als Bestandteil der Komplexleistung) Eltern fühlen sich unsicher im Umgang mit ihrem Kind, wenn sie Sorgen haben oder sich damit auseinandersetzen müssen, dass ihr Kind bleibende Beeinträchtigungen haben wird, die das Leben des Kindes und damit auch der gesamten Familie besonders machen. Sie vermeiden ansonsten alltägliche Aktivitäten, bemühen sich um Lösungen, die ihre Lage verbessern könnten und suchen Rat und Unterstützung bei der Bewältigung dieser neuen Herausforderungen. Mitarbeitende in Kindertagesstätten suchen Rat und Hilfe bei der Entwicklung von Möglichkeiten, das Kind angemessen zu fördern und die Abläufe des Kitaalltags so anzupassen, dass alle Kinder partizipieren können. Die Be- 186 FI 4/ 2023 Christian Fricke, Liane Simon ratung sowohl der Eltern als auch der Mitarbeitenden in Kindertagesstätten gehört somit als wichtiger Bestandteil selbstverständlich zur Komplexleistung Frühförderung zur Unterstützung inklusiver Rahmenbedingungen. Die Arbeit der Interdisziplinären Frühförderstellen zeichnet sich durch eine vertrauensvolle individuelle Zusammenarbeit mit den Eltern aus. Empirische Untersuchungen (u. a. Sarimski 2013) haben eindeutig ergeben, dass diese in über 90 % der befragten Familien mit der Arbeit der Frühförderstellen zufrieden sind. 2. Zielsetzung, aktuelle Umsetzung Die Anforderungen an die Frühförderpraxis sind stetig im Wandel begriffen: Neue Störungsbilder (vgl. Reinhard und Petermann 2009), Zunahme psychischer Erkrankungen bei Kindern, aber auch Elternteilen, Familien in relativer Armut, geflüchtete Familien, Personalmangel in Kindertagesstätten, gesellschaftlicher Wandel und Inklusion sind Begriffe bzw. Sachverhalte, die bei der Frage nach aktuellen Herausforderungen in den Frühförderstellen häufig genannt werden. Diese Herausforderungen erschöpfen aber auch die Familien selbst (vgl. Opp und Weiß 2019). Gleichermaßen unterlag die Komplexleistung Frühförderung (VIFF 2018) in den letzten Jahren einer grundlegenden Umgestaltung. Der alte Behinderungsbegriff, welcher Behinderung als Zuschreibung definiert, wurde vollständig aufgegeben. So wurden im Rahmen der Novellierung des Sozialgesetzbuchs Neun (SGB IX) mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) die Rechte der in ihren Teilhabemöglichkeiten behinderten Menschen gestärkt und der Behinderungsbegriff entsprechend neu definiert und die Interdisziplinäre Frühförderung grundlegend gestärkt. Diese „neue“ Definition von Behinderung führt aber bis heute in vielen Fällen und insbesondere in der frühen Kindheit immer wieder zu Verwirrungen und zu der Frage, wie Teilhabebeeinträchtigungen „diagnostiziert“ werden können. Die an der ICF orientierte Bedarfsermittlung bietet aus Sicht der VIFF dazu gute Möglichkeiten. Insbesondere der im BTHG festgeschriebene interdisziplinäre Charakter der Frühförderung, in der heilpädagogisch-psychologische Leistungen gemeinsam mit medizinisch-therapeutischen Leistungen erfolgen sollen, stellt nicht nur eine Bereicherung, sondern eine dringend erforderliche Verbesserung des Leistungsangebots für Familien dar, deren Kinder behindert werden oder davon bedroht sind. Die Umsetzung dieser gesetzlichen Regelungen in allen Bundesländern wird von der VIFF nicht nur begrüßt, sondern ausdrücklich gefordert. Leistungen „wie aus einer Hand“ erleichtern Familien den Zugang zum System und den Fachleuten die intersektionale Abstimmung. Diese sollte dazu führen, dass alle Beteiligten gemeinsam das Kind unterstützen, sich gut zu entwickeln, teilzuhaben und sich als gleichwertiges Mitglied einer Gemeinschaft zu erleben, in der es begrüßt wird und willkommen ist. Die Komplexleistung Frühförderung ist daher keineswegs lediglich als eine Addition bisher bereits vorhandener Einzelsysteme zu verstehen, sondern als vollkommen neues System, das aus der Verbindung der Einzelsysteme (Krinninger 2020) hervorgehen und neu gedacht werden muss. Die Ausgestaltung eines solch umwälzenden Reformprozesses, in dem intersektional bisher getrennte Strukturen miteinander verknüpft werden müssen, erfordert große Umdenkleistungen sowohl aufseiten der Leistungsträger als auch der Leistungserbringer. Dieser notwendige Prozess erfordert offensichtlich Zeit: So ergab eine im Auftrag der VIFF durchgeführte Expertenbefragung, dass trotz der Vorgaben des 2008 novellierten SGB IX in vier Bundesländern bis September 2022 noch keine Landesrahmenvereinbarungen bzw. -verordnungen abschließend verhandelt wurden. Darüber hinaus wurde deutlich, dass es bis heute in Deutschland keine flächendeckende Versorgung mit Interdisziplinären Frühförder- 187 FI 4/ 2023 Frühförderung in Deutschland (VIFF) stellen gibt, in manchen Bundesländern dominieren rein pädagogische Einrichtungen neben wenigen interdisziplinär arbeitenden Frühförderstellen. Obgleich die mit dem SGB IX verbundenen erforderlichen Anpassungsleistungen noch nicht abgeschlossen sind, folgt aktuell bereits die nächste Umgestaltung, bei der die Komplexleistung Frühförderung in ein „inklusives SGB VIII“ inkludiert werden soll. Zu den über das SGB IX miteinander verbundenen Systemen aus dem SGB V und dem SGB XII sollen die Träger und Einrichtungen aus dem SGB VIII hinzukommen mit dem Ziel, ein gemeinsames Gesetzbuch zu schaffen für alle Leistungen, die Kinder und ihre Familien betreffen. Grundsätzlich begrüßt die VIFF alle Bemühungen, Unterstützungsangebote für Kinder und ihre Familien aus den unterschiedlichen Bereichen (insbesondere auch den „Frühen Hilfen“) sinnvoll aufeinander abzustimmen und bringt sich aktiv in den laufenden Prozess ein. 3. Probleme Regelungen auf Länderebene Die Komplexleistung Frühförderung ist auf Bundesebene gesetzlich einheitlich geregelt, die Umsetzung aber obliegt den Ländern, Kommunen und Gemeinden. Die VIFF stellte bei der o. g. Expertenbefragung 2022 fest, dass die einzelnen Bestandteile der Komplexleistung keineswegs bundesweit einheitlich über die Frühförderstellen angeboten werden können. Weiterhin wurde berichtet, dass viele Frühförderstellen über nicht auskömmlich kalkulierte Vergütungen klagen, welche die Umsetzung grundsätzlich möglicher Leistungen erheblich erschweren. Dazu gehören sowohl Finanzierungsmöglichkeiten bei der interdisziplinären Abstimmung mit externen Fachleuten wie den behandelnden Kinderärzt: innen als auch die Finanzierung mobil-aufsuchender Arbeit. Ebenfalls wird in manchen Bundesländern die Elternberatung durch die in Frühförderstellen 6 5 4 3 2 1 0 Wann trat diese Landesrahmenvereinbarung bzw. -verordnung oder andere Regelung in Kraft? Nordrhein-Westfalen Saarland Schleswig-Holstein Thüringen Mecklenburg- Vorpommern Bremen Hessen Brandenburg Sachsen Sachsen- Anhalt Baden- Württemberg Niedersachsen Rheinland- Pfalz Bayern Berlin 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 Abb. 1: Ergebnisse Expertenbefragung der VIFF zur Landesrahmenvereinbarung bzw. -verordnung, 2022 188 FI 4/ 2023 Christian Fricke, Liane Simon tätigen medizinisch-therapeutischen Fachkräfte (Physiotherapeut: innen, Ergotherapeut: innen, Logopäd: innen) nicht vergütet, da diese bisher im Leistungskatalog der Krankenkassen (für isolierte ausschließlich therapeutische Leistungen) nicht vorgesehen sei. Das Vertrauensverhältnis zwischen Leistungserbringer und Leistungsträger wurde bei der Expertenbefragung unterschiedlich bewertet. Während es in einigen Bundesländern als sehr vertrauensvoll beschrieben wird, wird dieses in anderen Ländern als misstrauisch kontrollierend aufseiten des Leistungsträgers erlebt. Komplexleistung als eigenständige Leistung An vielen Stellen wird deutlich, dass die im Gesetz beschriebene Komplexleistung nicht als solche neu verhandelt und ausgestaltet wurde, sondern bestenfalls aus additiven Bestandteilen in die bestehenden Leistungssysteme integriert wurde. Bestehende Schnittstellenprobleme zwischen Eingliederungshilfe (SGB IX und XII) und Gesundheitssystem (SGB V) und deren Auswirkungen auf das Frühfördersystem wurden schon bei der Umsetzung des BTHG zu wenig beachtet. Dieses darf sich bei den laufenden Diskussionsprozessen zum „inklusiven SGB VIII“ nicht wiederholen. Zugang zu den Leistungen der Frühförderstellen Nicht nur die Erbringung der Leistungen durch die Frühförderstellen, sondern auch der Zugang ist bundesweit uneinheitlich geregelt. Während in einigen Bundesländern direkt mit den Leistungen begonnen werden kann, müssen in anderen Bundesländern zunächst umfangreiche Antragsformulare von Frühförderstellen bzw. Eltern ausgefüllt und eingereicht werden. Die Antragsbearbeitung liegt dabei je nach Region zwischen 6 Wochen und mehr als 6 Monaten. Thüringen Schleswig-Holstein Sachsen-Anhalt Sachsen Saarland Rheinland-Pfalz Nordrhein-Westfalen Niedersachsen Mecklenburg-Vorpommern Hessen Hamburg Bremen Brandenburg Berlin Bayern Baden-Württemberg Wie lange dauert es nach Ihrer Erfahrung, bis über den Antrag entschieden wurde? Angabe in Monaten 0 1 2 3 4 5 6 7 Abb. 2: Ergebnisse Expertenbefragung der VIFF zur Antragsbewilligung, 2022 189 FI 4/ 2023 Frühförderung in Deutschland (VIFF) Manche Bundesländer bzw. einzelne Kreise und Gemeinden haben das offene Beratungsangebot aus dem Leistungsangebot der Frühförderstellen herausgenommen und in eigene Verantwortung und Ausgestaltung zurückgenommen. Finanzierungsprobleme von Frühförderstellen und Fachkräften Gute Vernetzung einer Frühförderstelle im Sozialraum ist unabdingbare Voraussetzung für qualifizierte Angebote und eine gute Zusammenarbeit mit allen wichtigen Akteuren. Der VIFF wird berichtet, dass dafür aber häufig kaum Zeit bleibt. Die vielerorts zu beobachtende Fokussierung von Leistungsträgern auf „direkte Leistungen am Kind“ führt dazu, dass die interdisziplinäre Abstimmung des „teams around the child“ unter Einbeziehung niedergelassener Fachkräfte in eigener Praxis ebenso wie Vernetzungsangebote für Familien, Beratungsangebote sowohl für Eltern (Vater und Mutter) als auch für Fachkräfte in Kindertagesstätten, Vorschulen, Schulen ebenso wie die Teilnahme an Elternabenden, z. B. in Kindertagesstätten, oft zu gering oder gar nicht vergütet werden, obwohl ohne diese Angebote eine gelingende Inklusion kaum möglich ist. Neben den beschriebenen Leistungselementen werden bei Vertragsverhandlungen auch die fachlichen Anforderungen für deren Durchführung verhandelt. Dabei steht überwiegend die Kompetenz der Fachkräfte im direkten Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern im Blickpunkt, während dem Wissen um Inklusion, Behinderung und Partizipation aus Sicht der VIFF deutlich zu wenig Beachtung geschenkt wird. Grundlegende Qualifikationserfordernisse für Fachleute im Bereich der Komplexleistung Frühförderung sind neben Kompetenzen für Gesprächsführung und Beratung ebenso erforderlich wie umfangreiche Kenntnisse zu qualifizierter Weiterverweisung, über Bewältigungsprozesse in Krisensituationen, Phasen der frühkindlichen Entwicklung und mögliche Störungsbilder. Gute Kenntnisse über Aktivitäts- und Partizipationsmöglichkeiten und Behinderung als Wechselwirkung zwischen Beeinträchtigungen und dem Kontext des Kindes sind Voraussetzung, das komplexe Bedingungsgefüge frühkindlicher Entwicklung und deren mögliche Störungen ordnen als auch notwendige von nicht notwendigen Maßnahmen unterscheiden zu können. Solchermaßen qualifizierte Fachleute sind schwer zu finden und müssen qualifikationsgerecht finanziert werden (vgl. VIFF 2020). Das ist nicht in allen Bundesländern der Fall. 4. Zukünftige Perspektiven und Desiderate Die Komplexleistung Frühförderung ist inklusiv, denn sie steht mit dem offenen Beratungsangebot allen Familien in Deutschland offen und spezifiziert sich im Verlauf und nur bei Bedarf immer weiter auf die individuellen Bedürfnisse eines Kindes (Simon und Kühl in Druck). Insofern begrüßt die VIFF die Beachtung, die die Komplexleistung Frühförderung im Rahmen der Entwicklung zu einem „inklusiven SGB VIII“ erfährt. Die Komplexleistung Frühförderung trägt mit ihren Leistungen dazu bei, dass Kinder partizipieren können und zwar von Geburt an: „Inklusion ist ein Menschenrecht, welches nicht erst im Lebenslauf erworben werden muss, sondern mitgeboren wird. Es ist ein Recht, das jedem Menschen ab Geburt zusteht. Kindern Inklusion zu ermöglichen, ist auch eine Aufgabe in Erziehung und Bildung. Aber Erziehung und Bildung beginnt nicht erst in Kitas und 190 FI 4/ 2023 Christian Fricke, Liane Simon Schulen, sie beginnt in den Familien. Familien können Frühförderstellen zu Rate ziehen und Frühförderstellen können nicht nur die Entwicklung des Kindes einschätzen und bei Bedarf fördern, sie können darüber hinaus die Rechte der Kinder auf Förderung ihres Zugehörigkeitsgefühls stärken. Das spezifische Fachwissen der Frühförderstellen um Entwicklungsrisiken und -chancen von Kindern steht Familien und Kindertagesstätten zur Verfügung, um der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe der Inklusion nachgehen zu können. Insofern müssen Frühförderstellen offene und niedrigschwellige, aber auch auf frühkindliche Entwicklungseinschätzung hoch spezialisierte und interdisziplinär arbeitende Anlaufstellen sein, die bei Fragen zu Rate gezogen werden können.“ (Simon und Kühl 2022) So lange allerdings noch immer der Behinderungsbegriff nicht in Anlehnung an die Definition im SGB IX § 2 verwendet wird, sondern als Zuschreibung gegenüber dem Kind genutzt wird, wird eine inklusive Ausgestaltung des SGB VIII nicht möglich sein. Auf diese Problematik und die bislang ungelösten Probleme bei der Zusammenführung der Leistungen aus den verschiedenen Sozialgesetzbüchern hat der Bundesvorstand der VIFF (VIFF 2022) in einer aktuellen Stellungnahme hingewiesen: „Neben der Anpassung des Behinderungsbegriffs an die UN-BRK war es eine wesentliche Intention der Reform des SGB IX (2016), die ,Versäulung‘ und Zersplitterung der Sozialgesetzgebung zu überwinden und die Zusammenführung benötigter Leistungen ,wie aus einer Hand‘ zu ermöglichen. Verfolgt man die Teilhabeberichte der Bundesregierung, so zeigt sich, dass die in Teil 1 SGB IX formulierten Kooperationspflichten, die für alle Rehabilitationsbzw. Leistungsträger gelten, immer noch unzureichend umgesetzt werden. Dadurch wurde bis heute die Komplexleistung Frühförderung trotz der klaren gesetzlichen Grundlagen in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich umgesetzt. Die derzeitigen Regelungen und Leistungsvereinbarungen basieren zum großen Teil auf Spielräumen der gesetzlichen Bestimmungen, die naturgemäß von den Rehabilitationsträgern entsprechend der jeweiligen Interessenslage unterschiedlich ausgelegt und bei knapper werdenden finanziellen Ressourcen mit Einschränkungen versehen werden. Für Eltern und ihre Kinder mit (drohenden) Behinderungen ist somit eine Inanspruchnahme von qualitätsgesicherten Frühförderleistungen vom Wohnort abhängig und aktuell vor Ort sehr unterschiedlich ausgestaltet. Auf dem Weg zu einer inklusiven Lösung in einem reformierten SGB VIII stellt sich die bis dato u. E. noch vernachlässigte Frage, wie verbindliche und funktionierende Strukturen zwischen den Leistungsträgern der Eingliederungshilfe, Jugendhilfe und den Krankenkassenverbänden etabliert werden können. Die Klärung und eindeutige Regelung dieser wichtigen Schnittstellen ist für eine abgestimmte und ausfinanzierte Komplexleistung Frühförderung unabdingbar, um die Leistungserbringung der medizinischen Rehabilitation und die Leistungen zur Sozialen Teilhabe (heilpädagogische Leistungen) ,wie aus einer Hand‘ sicherzustellen.“ (VIFF 2023) Die Frühförderung ist aktuell gesetzlich fest im SGB IX verankert, während die Frühen Hilfen hauptsächlich über die Bundesstiftung finanziert werden und weder im SGB VIII noch im SGB IX bisher Erwähnung finden. Der Bundesvorstand der Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung setzt sich energisch dafür ein, dass die Komplexleistung Frühförderung in ihrer bewährten Form nicht nur erhalten bleibt, sondern gestärkt wird. Zukünftig sollten Familien früher als bisher den Weg in die offene 191 FI 4/ 2023 Frühförderung in Deutschland (VIFF) Beratung der Frühförderstellen finden, denn noch immer erhalten Kinder die Komplexleistungen der Frühförderung vergleichsweise spät. Der Bundesvorstand nutzt jede Möglichkeit, die aktuellen Diskussionsprozesse zur Ausgestaltung des „inklusiven SGB VIII“ fachlich inhaltlich zu begleiten und die Belange von Säuglingen und Kleinkindern mit Behinderungen und ihrer Familien bestmöglich zu vertreten. Die Jugendhilfe hat in diesen Gremien sehr viel mehr Stimmen auch aufgrund der Zuständigkeit für Kinder und Jugendliche ab dem Schulalter. Als Erfolg werten wir die Empfehlung der Kommission, den ICF-basierten Förder- und Behandlungsplan der VIFF als Teilhabeplan im frühen Kindesalter anzuerkennen. Ebenfalls positiv bewerten wir, dass in einzelnen Modellregionen zur Umsetzungserprobung des inklusiven SGB VIII Verfahrenslots: innen auch in Frühförderstellen etabliert werden, weil insbesondere dort die Expert: innen für die Einschätzung der frühkindlichen Entwicklung und notwendigen Bedarfe zur Förderung der Partizipationsmöglichkeiten zu finden sind. Damit Familien frühzeitig von der Komplexleistung Frühförderung und insbesondere auch dem offenen Beratungsangebot erfahren, ist neben der Öffentlichkeitsarbeit, welche die VIFF seit Langem betreibt, eine noch engere Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen und Professionen, wie Kliniken, Hebammen, Kinderärztinnen und -ärzte, Therapiepraxen, Krippen und Kitas, dringend erforderlich. Selbstverständlich gehören dazu insbesondere auch die Kooperation und Vernetzung mit den Frühen Hilfen, wie sie von Hans Weiß und Alexandra Sann bereits 2013 (Weiß unter Mitwirkung von Sann 2013) formuliert wurden. Diese müssen gesucht, gestärkt und gefördert werden, und zwar von beiden Seiten. Dr. med. Christian Fricke 1. Vorsitzender Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung - Bundesvereinigung (VIFF) e.V. Bundesgeschäftsstelle c/ o KelCon GmbH Tauentzienstr. 1 10789 Berlin E-Mail: chrfricke@fruehfoerderung-viff.de Prof. Dr. phil. Liane Simon Professorin für Transdiziplinäre Frühförderung MSH Medical School Hamburg Am Kaiserkai 1 20457 Hamburg E-Mail: liane.simon@medicalschool-hamburg.de Literatur Krinninger, G. (2020): Früherkennung und Frühförderung an Interdisziplinären Frühförderstellen im Kontext des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Ein zusammenführender Brückenschlag zwischen insular diskutierten Weiterentwicklungsaspekten. Frühförderung interdisziplinär 39 (3), 151 - 164, https: / / doi.org/ 10.2378/ fi2020.art15d Opp, G., Weiß, H. (2019): Kinder im Blick - eine Gedankenskizze zum Thema Peerkultur und ihre Umsetzung im Kontext der Frühförderung. Der pädagogische Blick 3/ 2019, 174 - 183 Reinhardt, D., Petermann F. (2009): Neue Morbiditäten in der Pädiatrie. Monatsschrift Kinderheilkunde 158, 14 (2010), https: / / doi.org/ 10.1007/ s00112-009-2113-8 Sarimski, K. (2013): Soziale Risiken im frühen Kindesalter - Grundlagen und frühe Interventionen. Hogrefe, Göttingen Simon, L., Kühl, J. (2022, in Druck): Inklusion in der Frühförderung, in: Markowetz, R. (Hrsg.): Inklusion - Grundlagen, Grundfragen und Handlungsfelder inklusiver Pädagogik, Bad Heilbrunn, Klinkhardt Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung - Bundesvereinigung e.V: (VIFF) (2018): Gesamtprozess der Frühförderung als Komplexleistung an Interdisziplinären Frühförderstellen. In: https: / / vifffruehfoerderung.de/ wp-content/ uploads/ 2023/ 06/ Broschure-Gesamtprozess-FFG-Druck-18-07-24.pdf, 10. 7. 2023 Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung - Bundesvereinigung e. V: (VIFF) (2020): Qualitätsstandards für Interdisziplinäre Frühförderstellen in Deutschland, 3. Auflage,. In: https: / / viff-fruehfoerderung.de/ wp-content/ uploads/ 2023/ 06/ Neue_VIFF_ Qualitaetsstandards.pdf, 10. 7. 2023 192 FI 4/ 2023 Christian Fricke, Liane Simon Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung - Bundesvereinigung e.V: (VIFF) (2022): Förder- und Behandlungsplan - ICF basierte Bedarfsermittlung im Gesamtprozess der Komplexleistung Frühförderung. In: https: / / viff-fruehfoerderung.de/ wp-content/ uploads/ 2023/ 06/ Foerder-und-Behandlungsplan- VIFF-FuB-2021.06.09.pdf, 10. 7. 2023 Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung - Bundesvereinigung e.V. (VIFF) (2023): Positionspapier - Auf dem Weg zu einem „Inklusiven SGB VIII“ - Standortbestimmung mit Impulsen zur Weiterentwicklung. In: https: / / viff-fruehfoerderung.de/ wp-content/ uploads/ 2023/ 03/ Stellungnahme-inkl- SGB-VIII-End-8.3.pdf, 10. 7. 2023 Weiß, H. unter Mitwirkung von Sann, A. (2013): Interdisziplinäre Frühförderung und Frühe Hilfen - Wege zu einer intensiven Kooperation und Vernetzung. In: Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.): https: / / www.fruehehilfen.de/ file admin/ user_upload/ fruehehilfen.de/ downloads/ Interdisziplinaere_Fruehfoerderung.pdf, 19. 7. 2023 a www.reinhardt-verlag.de Edith Müller-Rieckmann Das frühgeborene Kind in seiner Entwicklung Eine Elternberatung 7., aktual. Aufl. 2022. 169 S. (978-3-497-03160-3) kt Eltern brauchen während und nach der klinischen Betreuung von Frühgeborenen gezielte Beratung. Das Präventivmodell von Edith Müller- Rieckmann berücksichtigt vielfältige Aspekte: somatopsychische, psychosoziale, frühpädagogische, entwicklungsdiagnostische und -psychologische. Eltern gewinnen so früh Vertrauen in die ihnen bevorstehende Verantwortung für ihr frühgeborenes Kind. Wertvolles Kernstück des Buches ist ein Beobachtungsbogen, mit dem die Entwicklung des frühgeborenen Kindes jedes Gestationsalters in differenzierten Entwicklungs- und Verhaltensbereichen über die ersten Jahre hinweg festgehalten werden kann. Neu in der 7. Auflage: Zentrale Themen wie Operation, Narkose und Ernährung werden anhand neuer Fallbeispiele analysiert. Frühgeborene optimal betreuen
