Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Aktuelle Fachdiskurse: Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) und Interdisziplinäre Frühförderung als komplementäres System - zusammen mit den Frühen Hilfen?
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Andreas Oberle
Heidrun Thaiss
Volker Mall
Sozialpädiatrische Zentren, Frühe Hilfen und Frühförderstellen können die an sie gestellten Anforderungen nur gemeinsam erfüllen. Wesentlich ist ein Perspektivwechsel zwischen den Institutionen und im Zentrum steht der Blickwinkel auf die betroffenen Familien.
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217 Frühförderung interdisziplinär, 42.-Jg., S.-217 - 221 (2023) DOI 10.2378/ fi2023.art24d © Ernst Reinhardt Verlag AK TUELLE FACHDISKURSE Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) und Interdisziplinäre Frühförderung als komplementäres System - zusammen mit den Frühen Hilfen? Andreas Oberle 1 , Heidrun Thaiss 2 , Volker Mall 3 1 Sozialpädiatrisches Zentrum am Olgahospital Klinikum Stuttgart, Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin 2 Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin 3 kbo-Kinderzentrum München gGmbH, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin Zusammenfassung: Sozialpädiatrische Zentren, Frühe Hilfen und Frühförderstellen können die an sie gestellten Anforderungen nur gemeinsam erfüllen. Wesentlich ist ein Perspektivwechsel zwischen den Institutionen und im Zentrum steht der Blickwinkel auf die betroffenen Familien. Schlüsselwörter: Sozialpädiatrische Zentren (SPZ), Frühe Hilfen, Frühförderstellen Social pediatric centers and interdisciplinary early intervention as a complementary system Summary: “Sozialpädiatrische Zentren” and “early intervention services” can only meet the requirements placed on them together. A change of perspective between institutions is essential and in the center is the perspective on the affected families. Keywords: SPZ, early intervention services Definition des Themenfeldes A uf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V. gibt es folgende Informationen, die wir leicht modifiziert wiedergeben: Die Sozialpädiatrischen Zentren sind nach § 119 SGB V eine institutionelle Sonderform interdisziplinärer, multiprofessioneller ambulanter Krankenbehandlung. Sie sind zuständig für die Untersuchung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen im Kontext mit ihrem sozialen Umfeld, einschließlich der Beratung und Anleitung von Bezugspersonen. Zum Behandlungsspektrum gehören chronische Erkrankungen mit Einschränkungen in der Teilhabe, insbesondere Erkrankungen, die Entwicklungsstörungen, drohende und manifeste Behinderungen sowie Verhaltens- oder seelische Störungen jeglicher Ätiologie bedingen. Beim Behandlungsangebot bestehen regionale Unterschiede. Zu den Aufgaben der Sozialpädiatrischen Zentren zählt auch die Untersuchung und Behandlung bei zunächst nur Verdacht auf die oben angeführten „Problembereiche“. Das erste Zentrum dieser Art wurde 1968 von Prof. Dr. Th. Hellbrügge in München konzipiert und realisiert. Ausgangspunkt war die Universitäts-Kinderpoliklinik München. Das offensichtliche Ungenügen rein medizinischer, klinisch orientierter Denk- und Handlungskonzepte in der Betreuung neurologisch erkrankter und 218 FI 4/ 2023 Andreas Oberle, Heidrun Thaiss, Volker Mall entwicklungsgefährdeter Kinder führte zu dem weitsichtigen und damals durchaus unkonventionellen Schritt, die klinische Psychologie und die Heilpädagogik organisatorisch in das kinderheilkundliche Angebot zu integrieren. Inhaltlich waren die ursprünglichen Konzepte stark beeinflusst durch die Erfahrungen mit dem Deprivationssyndrom, d. h. aus der Beobachtung von Kindern, die durch unzureichende Betreuung außerhalb der Familie erhebliche Beeinträchtigungen in der geistigen und seelischen Entwicklung erlitten hatten. Aus dieser Herleitung erklärt sich, warum der Begriff „sozialpädiatrisch“ für Konzepte und Institutionen der Früherkennung und Frühbehandlung von von Behinderung bedrohten Kindern im medizinischen Bereich verwendet wurde und schließlich auch in die Sozialgesetzgebung einging. Ab 1970 entstanden in der Bundesrepublik Deutschland weitere Zentren nach Münchner Vorbild. 1981 - zum Zeitpunkt der Gründung der „Arbeitsgemeinschaft Sozialpädiatrischer Zentren und Abteilungen“ - gab es 21 solcher Einrichtungen. Aktuell gibt es bundesweit 162 Sozialpädiatrische Zentren mit z. T. unterschiedlichen Strukturen und institutioneller Einbindung. Charakteristika der Sozialpädiatrischen Zentren im Vergleich zu anderen pädiatrischen Institutionen sind: n Interdisziplinarität, Multiprofessionalität n Hoher Anteil an psychotherapeutischen/ psychosozialen und rehabilitativen Interventionen n Einbeziehung der Familie in die Therapie als konzeptioneller Schwerpunkt n Organmedizinisch orientierte und medizinisch-technische Interventionen wichtig, aber nicht alleine im Vordergrund n Kindheitslange Betreuung bis ins beginnende junge Erwachsenenalter n Schnittstelle zwischen klinischer Pädiatrie, pädiatrischer Rehabilitation und öffentlichem Gesundheitsdienst n Vernetzung mit nichtärztlichen Diensten in großem Umfang, Erfordernis eines hohen Organisationsaufwands Zielsetzung Ausgehend von den Erfahrungen durch die Tätigkeit in einem Sozialpädiatrischen Zentrum, unter Berücksichtigung von zusätzlichen, regional abweichenden Rahmenbedingungen, soll die Koexistenz und das Zusammenwirken von SPZ - interdisziplinärer Frühförderung - Frühe Hilfen dargestellt werden. Aktuelle Umsetzung Es gibt keine einheitliche Struktur für die Interdisziplinäre Frühförderung und die Frühen Hilfen in Deutschland. Die Frühen Hilfen wurden 2007 im Zuge der Landeskinderschutzgesetze in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Hessen als präventive Angebote für Familien mit vermehrtem psychosozialen Unterstützungsbedarf etabliert mit dem Ziel, Risiken für das Kindeswohl frühzeitig zu erkennen und abzuwenden. Sie werden seit 2018 über die Bundesstiftung Frühe Hilfen finanziert. Beginnend in der Schwangerschaft, hat das Gesundheitswesen eine besondere Bedeutung, um Bedarfe zu erkennen und die Angebote der Frühen Hilfen zu initiieren. Sie werden niedrigschwellig von den Kommunen angeboten, gehören aber nicht zum Leistungsrecht der Jugendhilfe (Thyen und Simon 2020). Interdisziplinäre Frühförderung umfasst „familien- und wohnortnahe Dienste und Einrichtungen, die der Früherkennung, Behandlung und Förderung von Kindern dienen, um in interdisziplinärer Zusammenarbeit von qualifizierten, medizinisch-therapeutischen und pädagogischen Fachkräften eine drohende oder 219 FI 4/ 2023 SPZ und IFF als komplementäres System - zusammen mit den Frühen Hilfen? bereits eingetretene Behinderung zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu erkennen und die Behinderung durch gezielte Förder- und Behandlungsmaßnahmen auszugleichen oder zu mildern (§ 3 FrühV)“ (Fricke und Hollmann 2022, VIFF 2020). Ab der Geburt eines Kindes bis zu dessen individuellem Schuleintritt kann Frühförderung bei der Eingliederungshilfe der Kommune nach § 46 in Verbindung mit § 79 SGB IX von den Eltern beantragt werden. Voraussetzung dafür ist eine zumindest drohende körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigung, die zu einer Behinderung in der Teilhabe führen kann. Die Struktur der SPZ ist hinsichtlich der unverzichtbaren Qualifikationen und grundlegenden Anforderungen im „Altöttinger Papier“ fachlich festgelegt und wird so auch von den Kostenträgern und in der Rechtsprechung anerkannt (Hollmann et al. 2014). Auf dieser Basis wird ab 2024 ein auf zwei Jahre befristetes Qualitätssiegel „Wegweisend. Für die Entwicklung von Kindern“ von den einzelnen SPZ beantragt werden können. Der Anteil von Frühförderung in SPZ, die nach SGB IX zulässig ist, und die Intensität der Zusammenarbeit der beiden Institutionen variieren regional sehr. Frühförderungsverordnung - FrühV (Ausfertigungssdatum 2003, geändert 2016, § 4) Insbesondere für die Zusammenarbeit der Sozialpädiatrischen Zentren mit der Interdisziplinären Frühförderung gibt es gesetzlich festgelegte Vorgaben: „Die frühzeitige Erkennung, Diagnostik und Behandlung durch Sozialpädiatrische Zentren ist auf Kinder ausgerichtet, die wegen Art, Schwere oder Dauer ihrer Behinderung oder einer drohenden Behinderung nicht von geeigneten Ärzten oder geeigneten Interdisziplinären Frühförderstellen oder nach Landesrecht zugelassenen Einrichtungen … behandelt werden können. Leistungen durch Sozialpädiatrische Zentren werden in der Regel in ambulanter und in begründeten Einzelfällen in mobiler Form oder in Kooperation mit Frühförderstellen erbracht.“ Einschätzungen aus Sicht der Frühen Hilfen Frühförderstellen und SPZ sind ein fester und wichtiger Bestandteil des träger- und systemübergreifenden Netzwerkes der Frühen Hilfen (Peterander 2022). Durch enge Vernetzung entstehen Synergieeffekte zwischen Gesundheitssystem und dem System der Kinder- und Jugendhilfe (Sohns 2022). Die aufsuchenden Angebote der Frühen Hilfen tragen zur Unterstützung und Entlastung der Familien vor allem im Alltag bei und sind somit ergänzend zu den Angeboten der Frühförderstellen, die eher die Arbeit mit dem Kind im Fokus haben (persönlicher Austausch). Dies ist regional unterschiedlich und sehr abhängig zum einen von der Verfügbarkeit der Institutionen, aber auch der Offenheit zur Kooperation. Einschätzungen aus der Sicht der Interdisziplinären Frühförderung Sozialpädiatrische Zentren sind überregional ausgerichtete Institutionen, die die Arbeit der niedergelassenen KinderärztInnen und der wohnortnahen Frühförderstellen, diesen nachgeordnet, in Diagnostik und Therapie unterstützen und ergänzen. Sie sind wesentlich für den Prozess der Transition ab dem Grundschulalter für die Langzeit-Betreuung von Kindern mit persistierenden Entwicklungs- und Verhaltensstörungen sowie Behinderungen, wenn diese systembedingt nicht mehr durch die Interdisziplinäre Frühförderung unterstützt werden können. 220 FI 4/ 2023 Andreas Oberle, Heidrun Thaiss, Volker Mall Einschätzungen aus der Sicht der Sozialpädiatrischen Zentren Die Frühen Hilfen stehen in einem Spannungsfeld zwischen Unterstützung und Wächteramt über das Kindeswohl. Die Betroffenen sollen die Leistungen frühzeitig und niederschwellig bekommen, können diese aber nicht einfordern. Deshalb kommt hier oftmals der Lotsenfunktion von SPZ - z. B. im Rahmen der Frühgeborenen-Nachsorge - zusammen mit den ambulant primärversorgenden niedergelassenen Kinder- und Jugendärzt: innen besondere Bedeutung zu. Es zeigt sich auch, dass sich die Frühen Hilfen, regional unterschiedlich, von der Idee eines Frühwarnsystems emanzipieren. Durch die unterschiedlichen Zugänge n Sozialpädiatrische Zentren (SGB V) n Interdisziplinäre Frühförderstellen (SGB IX) n Frühe Hilfen (Bundesstiftung, Fonds Frühe Hilfen) besteht eine strukturelle Erschwernis für eine interinstitutionelle Zusammenarbeit. Problembereiche Aktuell bestehen in der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und der Gesundheitshilfe in Deutschland nach wie vor unterschiedliche Zuständigkeiten je nach „Art“ der Behinderung. So werden Kinder und Jugendliche mit einer (drohenden) „seelischen Behinderung“ sowie ihre Familien vom Kinder- und Jugendhilfesystem unterstützt, solche mit einer (drohenden) „körperlichen oder geistigen Behinderung“ fallen hingegen in die sachliche Zuständigkeit der Sozialämter (Eingliederungshilfe). Verschiedene Zuständigkeiten beinhalten immer die Gefahr einer Ungleichbehandlung. Umfassend zu berücksichtigen sind in allen Tätigkeitsbereichen die Aspekte des Kinderschutzes nach den geltenden gesetzlichen Vorgaben. Auch wenn die „Frühen Hilfen“ seinerzeit 2006 primär als Handlungskonsequenz aus Verstößen gegen das Kindeswohl konzipiert worden sind, kommt ihnen mittlerweile eine weit darüber hinausgehende, allgemein entwicklungssichernde Aufgabe gerade in den ersten Lebensjahren zu. Hieraus ergeben sich gemeinsame Handlungsfelder mit der Pädiatrie und den SPZ ebenso wie mit der Frühförderung. Die Sozialpädiatrischen Zentren haben weiterhin keine gesicherte langfristige Arbeitsgrundlage, da sie überwiegend nur zeitlich befristet zugelassen sind. Die, neben den laufenden Kosten, zwingend erforderlichen Investitionen werden durch die Kostenträger weiter nicht berücksichtigt. Die nichtärztlichen sozialpädiatrischen Leistungen, bei vorgegebenem gesetzlichem Anspruch, werden noch immer nicht über die Quartalspauschale der Kostenträger entgolten, sondern müssen als zusätzliche Leistung über die Eingliederungshilfe eingefordert werden. Die Übernahme dieser Kosten ist nicht bundeseinheitlich geregelt. Bei einer Altersbegrenzung meist bei 18 Jahre besteht häufig keine gesicherte Weiterbetreuung im Sinne der geregelten Transition. Auf Basis der länderspezifischen Rahmenempfehlungen zur FrühF-VO besteht die Möglichkeit zur Erbringung von Komplexleistungen in SPZ. Die praktische Umsetzung dazu ist noch nicht ausreichend umgesetzt. Zukünftige Perspektiven Bei weiter großem Bedarf und z. T. langen Wartezeiten im Bereich SPZ und Frühförderung ergibt sich durch den obigen kurzen Überblick der Eindruck, dass die strukturellen Probleme im Vordergrund stehen. Sicher regional modifiziert, können diese nur verringert werden, wenn ein allgemein besseres Wissen über die jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen der an- 221 FI 4/ 2023 SPZ und IFF als komplementäres System - zusammen mit den Frühen Hilfen? deren die kindliche Entwicklung unterstützenden Institutionen besteht, zunächst strukturell und dann weiterführend auch inhaltlich. Die Diskussion um das „Inklusive SGB VIII“ verdeutlicht dies aktuell im besonderen Maße. Am Ende des gesetzlich vorgegebenen Prozesses werden schließlich alle Bereiche der Beeinträchtigungen (körperlich, seelisch, intellektuell und bezüglich der Sinne), die die Teilhabe der Kinder und Jugendlichen einschränken, in den ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der Jugendhilfe übertragen werden. SPZ, Frühe Hilfen und Frühförderstellen können die an sie gestellten Anforderungen nur gemeinsam erfüllen. Dies erfordert den Perspektivwechsel zwischen den Institutionen und vor allem, kompromisslos den Blickwinkel der betroffenen Familien einzunehmen. Damit hätten wir eine gute Grundlage für eine zielführende und sachgerechte Diskussion über Reformen, die dann auch zu Verbesserungen für die Betroffenen führen können. Ansprechpartner: Dr. med. Andreas Oberle Kinder- und Jugendarzt Schwerpunkt Neuropädiatrie Kinderschutzmediziner (DGKiM) Ärztlicher Direktor Klinikum der Landeshauptstadt Stuttgart gKAöR Olgahospital - Frauenklinik Pädiatrie 1 - Sozialpädiatrisches Zentrum Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) Stv. Vorsitzender des Bündnis Kinder- und Jugendgesundheit e.V. Literatur Fricke, C., Hollmann, H. (2022): Ärztliches Handeln in der Frühen Entwicklungsförderung. Frühförderung interdisziplinär 41 (3) 128 - 137, https: / / doi.org/ 10.23 78/ fi2022.art17d Hollmann, H., Kretzschmar, Chr., Schmid. R. (2014): Das Altöttinger Papier Qualität in der Sozialpädiatrie. In: https: / / www.dgspj.de/ wp-content/ uploads/ qualitaetssicherung-altoettinger-papier-20141.pdf, 11. 7. 2023 Peterander, F. (2022): Wohin treibt die Interdisziplinäre Frühförderung? Frühförderung interdisziplinär 41, 4, 165 - 169 Sohns, A. (2022): Das Konzept der Inklusiven Frühförderung. Frühförderung Interdisziplinär 41 (3), 138 - 152, https: / / doi.org/ 10.2378/ fi2022.art18d Thyen, U., Simon, L. (2020): Frühe Förderung und Frühe Hilfen. Monatsschrift Kinderheilkunde 168, 195 - 207, https: / / doi.org/ 10.1007/ s00112-020-00859-2 VIFF (2020): Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung - Bundesvereinigung e.V. Qualitätsstandards für interdisziplinäre Frühförderstellen in Deutschland. In: https: / / viff-fruehfoerderung.de/ wp-content/ uploads/ 2023/ 06/ Neue_VIFF_Qualitaets standards.pdf, 10. 7. 2023
