eJournals Frühförderung interdisziplinär 42/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2023.art01d
11
2023
421

Originalarbeit: Elternschaft und Familie nach reproduktionsmedizinischer Assistenz - Herausforderungen und Themen von Eltern und Familien

11
2023
Birgit Mayer-Lewis
Der Beitrag beinhaltet aktuelle Daten zur Familiengründung mit reproduktionsmedizinischer Assistenz und stellt die am häufigsten angewandten reproduktionsmedizinischen Verfahren dazu vor. Des Weiteren werden entlang einer aktuellen Studie die Herausforderungen erläutert, welche sich für Eltern und Familien mit einer reproduktionsmedizinischen Familiengründungsgeschichte ergeben können. Dabei wird auch auf die Unterstützungsbedarfe von Eltern eingegangen und Handlungsempfehlungen für die Praxis werden aufgezeigt.
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Frühförderung interdisziplinär, 42.-Jg., S.-2 - 14 (2023) DOI 10.2378/ fi2023.art01d © Ernst Reinhardt Verlag 2 Elternschaft und Familie nach reproduktionsmedizinischer Assistenz - Herausforderungen und Themen von Eltern und Familien Birgit Mayer-Lewis Zusammenfassung: Der Beitrag beinhaltet aktuelle Daten zur Familiengründung mit reproduktionsmedizinischer Assistenz und stellt die am häufigsten angewandten reproduktionsmedizinischen Verfahren dazu vor. Des Weiteren werden entlang einer aktuellen Studie die Herausforderungen erläutert, welche sich für Eltern und Familien mit einer reproduktionsmedizinischen Familiengründungsgeschichte ergeben können. Dabei wird auch auf die Unterstützungsbedarfe von Eltern eingegangen und Handlungsempfehlungen für die Praxis werden aufgezeigt. Schlüsselwörter: Familiengründung, reproduktionsmedizinische Assistenz, Elternschaft, Herausforderungen Parenting and family following reproductive medical assistance - challenges and issues of parents and families Summary: The article contains current data on founding a family with reproductive medical assistance and presents the most commonly applied reproductive medical procedures. Furthermore, based on a recent study, the challenges facing parents and families with a background of founding a family through reproductive medicine will be illustrated. In the process, the support needs of parents will also be discussed, and practical recommendations for courses of action will be shown. Keywords: Founding a family, reproductive medical assistance, parenting, challenges ORIGINALARBEIT 1. Einleitung - Zur Relevanz des Themas F amilie und Elternschaft haben in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Über 90 % aller kinderlosen Frauen und Männer im Alter zwischen 18 und 30 Jahren geben an, dass sie sich ein Leben mit Kindern wünschen (bpb-Datenreport 2016, 75); 79 % der Bevölkerung bewerten Familie nicht nur als zentralen, sondern auch als den wichtigsten Lebensbereich (Familienreport 2017, 11f). Trotz dieses hohen Stellenwertes von Familie und Elternschaft zählt Deutschland neben der Schweiz, Italien und Finnland zu den Ländern mit der höchsten Kinderlosigkeit in Europa (vgl. Statist. Bundesamt 2019, 16). Kinderlosigkeit ist dabei nicht immer das Ergebnis einer zielgerichteten Entscheidung. Viele Frauen und Männer bleiben ungewollt kinderlos. Daten zur genauen Anzahl der ungewollt kinderlosen Frauen und Männer sind schwer zu erfassen, da sich der Kinderwunsch über den Lebensverlauf hinweg verändern kann. So kann eine über viele Jahre hinweg praktizierte gewollte Kinderlosigkeit später, zum Beispiel im Rahmen einer (neuen) Partnerschaft, in eine ungewollte Kinderlosigkeit übergehen. Auch kann auf eine Phase des unerfüllt bleibenden Kinderwunsches ein Reframing des Lebensentwurfes stattfinden, in dem die Kinderlosigkeit zu einem positiven Lebensentwurf umgestaltet wird. Der Kinderwunsch ist „(…) bei wenigen eine auf Dauer angelegte prinzipielle Haltung, bei den meisten eine veränderbare Disposition 3 FI 1/ 2023 Elternschaft und Familie nach reproduktionsmedizinischer Assistenz und offene Option im Lebensverlauf, die abhängig ist von der Partnerschaft, der Phase und Planung ihrer Berufsbiografie, den persönlichen Zielen und Wertvorstellungen (Freiheit, Selbstverwirklichung, Sicherheit, Verantwortung, Solidarität, Erfolg u. a.), die man mit Kindern/ Familie verbindet oder mit einem Leben ohne Kinder“ (Wippermann 2014, 48). Auch wenn sich die Dynamik zum Kinderwunsch im Lebenslauf verändern kann, weist die Tatsache, dass 25 % aller kinderlosen Paare im Alter zwischen 20 und 50 Jahren angeben, ungewollt kinderlos zu sein, auf eine immense Relevanz des Themas hin (Wippermann 2014, 10). In Deutschland ist inzwischen jedes sechste Paar von Fertilitätseinschränkungen betroffen und auf medizinische Unterstützung zur Herstellung einer Schwangerschaft angewiesen (vgl. DIR 2021 a, 2). Seit 1997 wurden über das Deutsche IVF-Register fast zwei Millionen Behandlungen mit reproduktionsmedizinischer Assistenz allein in Deutschland registriert; ferner wissen wir, dass inzwischen mehr als 340.000 Kinder nach reproduktionsmedizinischer Assistenz in Deutschland geboren wurden (vgl. ebd.). Hinzu kommen Geburten nach reproduktionsmedizinischer Behandlung im Ausland, zu denen keine Daten vorliegen. Diese Zahlen weisen deutlich darauf hin, dass eine Familiengründung mit reproduktionsmedizinischer Assistenz keine Randerscheinung in unserer Gesellschaft ist, sondern viele Familien betrifft. Dabei gibt es für Deutschland bisher kaum Untersuchungen, die sich mit den Herausforderungen von Eltern nach Familiengründung mit reproduktionsmedizinischer Assistenz beschäftigen. Auch für Fachkräfte, die in den pädagogischen Fachgebieten mit Eltern und Kindern arbeiten, gibt es bisher kaum Fort- und Weiterbildungsangebote, die sich auf mögliche Herausforderungen aus der Familiengründungsgeschichte im Kontext der Reproduktionsmedizin für Familien beziehen. Da inzwischen über 3 % aller Geburten Kinder betreffen, die mit reproduktionsmedizinischer Assistenz gezeugt wurden (vgl. DIR 2017), werden Information und Aufklärung jedoch auch für die pädagogische Arbeit zunehmend wichtiger. Die Frühförderung übernimmt dabei besonders häufig wichtige Aufgaben. Nach reproduktionsmedizinischer Assistenz ist mehr als jede zehnte Einlingsgeburt von einer Frühgeburtlichkeit betroffen. Ferner entsteht mindestens jede vierte Schwangerschaft als Mehrlingsschwangerschaft; weit mehr als die Hälfte dieser Kinder werden als Frühchen geboren. Für die Kinder sind mit der Frühgeburtlichkeit häufig Entwicklungsrisiken verbunden. Die Frühförderstellen sind deshalb wichtige Anlaufstellen für Eltern und Kinder, um Beratung, Begleitung und Unterstützung zu erhalten. 2. Ursachen ungewollter Kinderlosigkeit und Angebote der Reproduktionsmedizin Meist gehen Frauen und Männer zunächst davon aus, dass sich ihr Kinderwunsch erfüllen wird. Eine Auseinandersetzung mit einer möglichen Unfruchtbarkeit oder eingeschränkten Fruchtbarkeit findet häufig erst nach mehreren Jahren eines unerfüllt bleibenden Kinderwunsches statt (vgl. Wippermann 2020, 68f). Ungewollte Kinderlosigkeit kann unterschiedliche Ursachen haben. Eine häufige Ursache sind organisch bedingte Fertilitätsstörungen, die dazu führen, dass sich ein Kinderwunsch nicht erfüllt. n Hormonell bedingte Störungen wie z. B. Störungen der Schilddrüsenfunktion, Stoffwechselstörungen, Hyperprolaktinämie n Infektionen und Entzündungen wie z. B. bakterielle Entzündungen oder Chlamydieninfektionen n Erkrankungen oder deren Folgen wie z. B. Endometriose (Wucherung der Gebärmutterschleimhaut), Hodenfehlfunktionen (nach Mumps-Erkrankung oder Hodenhochstand im Kindesalter), Chemo- und Strahlentherapie bei Krebserkrankungen n Blockaden oder Fehlbildungen wie z. B. Undurchlässigkeit der Eileiter oder Samenwege, Gebärmutterfehlbildungen 4 FI 1/ 2023 Birgit Mayer-Lewis Organische und körperliche Ursachen für ungewollte Kinderlosigkeit sind dabei zu etwa gleichen Anteilen zwischen den Geschlechtern verteilt. Auch Störungen der Interaktion zwischen Samen- und Eizellen können die Entstehung einer Schwangerschaft erschweren. Des Weiteren wirken sich bestimmte Verhaltensweisen wie z. B. übermäßiger Alkohol-, Nikotin- oder anderer Drogenkonsum sowie Leistungssport und ungesunde Ernährung (mit Über- oder Untergewicht) negativ auf die Fruchtbarkeit aus. Eine besondere Rolle spielt außerdem die altersbedingte Einschränkung der Fertilität. Das durchschnittliche Alter von Frauen bei der Erstgeburt liegt in Deutschland inzwischen bei 30,2 Jahren (vgl. Statist. Bundesamt 2021). Die Familiengründung mit der Geburt des ersten Kindes hat sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter nach hinten im Lebenslauf verschoben. Die Fruchtbarkeit ist jedoch stark altersabhängig und verringert sich mit zunehmendem Alter bei beiden Geschlechtern. Aufgrund der Tendenz, die Familiengründung in eine zunehmend spätere Lebensphase zu verschieben, treten altersbedingte Ursachen immer häufiger auf. Die vielfältigen Optionen zur Individualisierung der Lebensgestaltung und die Pluralisierung der Lebensformen verstärken den Trend zur Aufschiebung der Familiengründung. So sehen sich immer häufiger auch alleinstehende Frauen und Männer mit einem unerfüllten Kinderwunsch konfrontiert, da sie diesen im Rahmen einer Partnerschaft bisher nicht realisieren konnten. Auch Paare in gleichgeschlechtlichen Beziehungen wünschen sich häufig ein Leben als Familie mit Kindern. Dabei sind Alleinstehende, Paare in gleichgeschlechtlichen Beziehungen und heterosexuelle Paare, bei denen ein Paarteil komplett zeugungsunfähig ist, für eine Familiengründung auf die Spende von Gameten (Samen- oder Eizellspenden) angewiesen - unabhängig vom eigenen Alter oder möglichen Fertilitätseinschränkungen. Seit der ersten Geburt nach In-vitro-Fertilisation, im Jahr 1978 in England, haben sich die reproduktionsmedizinischen Unterstützungsmöglichkeiten weiterentwickelt und flächendeckend etabliert. Im Jahr 2020 fanden in Deutschland über 116 000 reproduktionsmedizinische Behandlungszyklen statt, dabei haben auch die Behandlungen mit Spendersamen (rund 1400) zugenommen (vgl. DIR 2021 b, 8 ,16). Diese Zahlen beziehen sich auf die In-vitro- Fertilisation (IVF), die Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) und die Behandlungen nach Kryokonservierung als sogenannte Auftauzyklen. Diese Verfahren der Reproduktionsmedizin werden im Folgenden vorgestellt (entnommen aus Mayer-Lewis 2019, 7): n In-vitro-Fertilisation (IVF): Die IVF wird vor allem dann angewandt, wenn Inseminationsversuche erfolglos bleiben, ein Verschluss oder ein Fehlen der weiblichen Eileiter vorliegt, eine (leicht) eingeschränkte Zeugungsfähigkeit des Mannes oder eine immunologische Subfertilität der Frau festgestellt wurden. Das Verfahren beinhaltet eine medizinisch kontrollierte Hormonstimulation der weiblichen Eierstöcke mit Entnahme reifer Eizellen sowie die Aufbereitung der männlichen Samenflüssigkeit. Die Eizelle wird mit den Spermien in einer Nährflüssigkeit zusammengebracht. Die Befruchtung findet dann außerhalb des Körpers (extrakorporal) als eine spontane Befruchtung statt. Nach einer erfolgreichen Verschmelzung und Zellteilung dürfen bis zu maximal drei Embryonen (§ 1 ESchG) in die Gebärmutter zurückgeführt werden. n Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI): Seit Anfang der 1990er Jahre wird die IVF durch die intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) ergänzt und inzwischen deutlich häufiger als die IVF angewandt. Im Rahmen der ICSI erfolgt die Behandlung ähnlich wie bei einer IVF, nur dass darüber hinaus eine ausgewählte Samenzelle mithilfe einer sehr feinen Kanüle direkt in die Eizelle 5 FI 1/ 2023 Elternschaft und Familie nach reproduktionsmedizinischer Assistenz injiziert wird (und somit keine spontane Befruchtung stattfindet). Dieses Verfahren kommt insbesondere dann zum Einsatz, wenn eine selbstständige, spontane Befruchtung der Eizelle aufgrund einer männlichen Subfertilität, zum Beispiel bei einer eingeschränkten Beweglichkeit oder einer stark verminderten Anzahl der Samenzellen, nicht möglich ist. n Behandlung nach Kryokonservierung (Auftauzyklus): Mithilfe der Kryokonservierung können unbefruchtete oder befruchtete Eizellen im Vorkernstadium, Eierstockgewebe, Embryonen, Spermienejakulat oder Hodengewebe in flüssigem Stickstoff eingefroren werden. Dieses Verfahren wird zum einen dann angewendet, wenn im Kontext von fruchtbarkeitsgefährdenden Erkrankungen oder medizinischen Behandlungen (z. B. bei Chemo- oder Strahlentherapie) ein Verlust der Fruchtbarkeit zu befürchten ist. Durch die Kryokonservierung von Gameten oder Gewebe kann eine Fruchtbarkeitsreserve angelegt werden, auf die nach der Gesundung der betroffenen Frau bzw. des betroffenen Mannes zurückgegriffen werden kann. Zum anderen können mithilfe der Kryokonservierung während einer Fruchtbarkeitsbehandlung überschüssige, befruchtete Eizellen oder Embryonen konserviert werden. Wenn mehr Eizellen erfolgreich befruchtet wurden, als für den Transfer in die Gebärmutter geplant sind, oder der Transfer nicht zum geplanten Zeitpunkt erfolgen kann, können diese mithilfe der Kryokonservierung für einen möglichen weiteren Behandlungszyklus (bei derselben Frau) eingefroren werden. Eine erneute Hormonstimulation und Punktion der Eierstöcke können dabei vermieden werden. Neben den reproduktionsmedizinischen Verfahren, die in Deutschland in Anspruch genommen werden, nutzen Frauen und Männer auch Angebote im Ausland. Zum einen betrifft dies Behandlungen, welche im Ausland kostengünstiger oder mit weniger Hürden verbunden sind, zum anderen die anonyme Samenspendebehandlung, Verfahren mit Eizellspende oder die Leihmutterschaft. Letztgenannte Verfahren dürfen in Deutschland aus rechtlichen Gründen nicht von den medizinischen Kinderwunschzentren angeboten werden. Dabei gibt es aber keine Einschränkung für Frauen und Männer, welche diese Angebote im Ausland nutzen wollen. 3. Besonderheiten bei der Familiengründung mit reproduktionsmedizinischer Assistenz Die ungewollte Kinderlosigkeit wird von vielen Frauen, Männern und Paaren als große Belastung erlebt. Kinderlosigkeit wird oft als Makel, Unvollständigkeit der eigenen Identität, Stigma, soziale Ausgrenzung und gesellschaftliches Tabu-Thema erlebt (vgl. Wippermann 2020, 11). Einer Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Assistenz geht meist eine längere Phase des unerfüllten Kinderwunsches voraus. Durchschnittlich haben Frauen und Männer im Alter zwischen 20 und 50 Jahren bereits seit sechs bis sieben Jahren einen unerfüllten Kinderwunsch (vgl. Wippermann 2020, 62). Der Entschluss, medizinische Unterstützung aufzusuchen, ist für die meisten eine Ultima-ratio- Entscheidung. In der Regel gehen dieser Entscheidung lange Phasen der Hoffnung auf die Entstehung einer „natürlichen“ Schwangerschaft ohne Hilfe Dritter voraus. Dabei spielen häufig sowohl Sorgen und Ängste hinsichtlich der gesundheitlichen Auswirkungen einer reproduktionsmedizinischen Behandlung für Mutter und Kind (z. B. Auswirkungen der Hormonstimulation, Schwangerschaftskomplikationen, Mehrlingsschwangerschaft, erhöhtes Fehl- und Frühgeburtsrisiko) als auch ethische Bedenken hinsichtlich der medizintechnologischen Verfahren eine Rolle. „Die Bezeichnungen ‚Reproduktionsmedizin‘ und ‚Künstliche 6 FI 1/ 2023 Birgit Mayer-Lewis Befruchtung‘ wirken auf die Mehrheit ungewollt kinderloser Frauen und Männer technisch und kalt, erzeugen Bilder von einem industriellen Prozess. Dies ist für sie nicht vereinbar mit dem, was (…) sie an allererster Stelle mit einem Kind verbinden: Wärme, Emotion, Liebe: Befruchtung als ein natürlicher Vorgang der Beziehung zweier Menschen.“ (Wippermann 2020, 9) Bei einer Familiengründung mit reproduktionsmedizinischer Assistenz sind neben den Eltern immer auch andere Personen an der Zeugungsgeschichte des Kindes beteiligt. Werden die eigenen Gameten (Ei- und Samenzellen) der Wunscheltern verwendet, wird die Zeugung des Kindes, die ohne Fertilitätseinschränkung in der Regel der Paarintimität unterliegt, mit den Fachkräften der Reproduktionsmedizin besprochen und medizinisch begleitet. Ist eine Schwangerschaft nur mit einer Gametenspende realisierbar, muss ein Elternteil darüber hinaus Abschied von der Vorstellung einer genetischen Verwandtschaft mit dem Kind nehmen. Dies bedeutet, dass Eltern bereits vor der Zeugung des Kindes viele Entscheidungen treffen müssen, die sie in ihre Lebens- und Wertvorstellungen sowie in ihre Familienbiografie integrieren müssen. Dabei müssen die Fertilitätseinschränkung sowie damit verbundene Emotionen und mögliche Kränkungen von den Betroffenen verarbeitet werden. Ferner können im Rahmen der reproduktionsmedizinischen Behandlung auch weitere Belastungen hinzukommen: n Krisen und Sorgen sowie gesundheitliche Belastungen während der Behandlungszeit, n das Aushalten der Unsicherheiten zwischen den einzelnen Behandlungsschritten, n die Verarbeitung erfolgloser Behandlungen, der Umgang mit Fehlgeburten bis hin zu tiefer Trauer nach Totgeburten. Die Lebendgeburtenrate nach reproduktionsmedizinischer Assistenz liegt aktuell bei rund 23 % (vgl. DIR 2021 b), jedoch sind nach drei abgeschlossenen Behandlungszyklen rund 50 % der Paare noch kinderlos (vgl. Wischmann 2012, 90). Dabei kann es im Rahmen von Paarbeziehungen auch zu Unstimmigkeiten und Missverständnissen in der Paarbeziehung kommen, da das individuelle Erleben und die persönlichen Belastungen zwischen den Beteiligten nicht immer kongruent sind. Werden im Rahmen der Kinderwunschbehandlung Gametenspenden eingesetzt, wird auch der Umgang mit der Spenderperson zum Thema. Eltern müssen klären, welche Bedeutung die Spenderperson für sie selbst, aber auch für das Kind haben soll oder kann. Durch die Gametenspende werden zwischen dem Kind und der Spenderperson eine unauflösbare genetische Verwandtschaft sowie erweiterte Verwandtschaftsverhältnisse hergestellt. Dabei sind nicht nur Bedeutungszuschreibungen der Eltern, sondern auch mögliche Interessen des Kindes und der Spenderperson zu berücksichtigen. Nach der Geburt kann das Herkunftswissen für das Kind im Kontext seiner Identitätsentwicklung bedeutungsvoll sein. Im Rahmen des Samenspenderregistergesetzes (SaRegG) haben Kinder, die in Deutschland mithilfe einer Samenspende gezeugt wurden, seit 1. 7. 2018 das Recht, personenbezogene Daten des Samenspenders zu erhalten. Damit Kinder dieses Recht bei Interesse an der Spenderperson umsetzen können, müssen sie durch ihre Eltern von ihrer Zeugungsgeschichte erfahren haben. Die Aufklärung von Kindern nach reproduktionsmedizinischer Assistenz ist deshalb eine weitere wichtige Aufgabe von Eltern, für die aber oft keine Rollenvorbilder vorliegen. Unterstützungsangebote dazu sind bisher noch nicht ausreichend etabliert sowie häufig auch nicht bekannt. Hinzu kommt, dass nach reproduktionsmedizinischer Behandlung auch Entwicklungsherausforderungen für die geborenen Kinder entstehen können. Der Anteil der Frühgebur- 7 FI 1/ 2023 Elternschaft und Familie nach reproduktionsmedizinischer Assistenz ten liegt bei Einlingen bei rund 11 %. Ferner lag die Mehrlingsrate nach reproduktionsmedizinischer Assistenz 2019 bei 29 %, wobei Mehrlingsgeburten häufig mit einer Frühgeburtlichkeit einhergehen. Der Anteil der Frühgeburten liegt aktuell bei Zwillingen bei rund 58 % und bei Drillingen bei fast 98 % (vgl. DIR 2021 b, 4, 9). Der Gesundheitszustand des Kindes, die Angst um sein Überleben und seine Zukunft sowie die besonderen Herausforderungen in der Entwicklungsbegleitung des Kindes können für die Eltern eine zusätzliche Belastung darstellen. Somit sind der Übergang zur Elternschaft und die Gestaltung des Familienlebens im Kontext der Reproduktionsmedizin für Eltern mit zusätzlichen Aufgaben verbunden: n Verarbeitung der Fertilitätseinschränkung sowie damit verbundener Krisen und Verunsicherungen n Umgang finden mit den Erlebnissen während der Behandlungszeit (gesundheitliche Belastungen; Einordnung körperlicher Erfahrungen; Sorgen und Ängste; Trauer bei erfolglosen Behandlungen, Fehl- und Totgeburten) n Umgang mit Tabuisierungen und Unsicherheiten in der Kommunikation über die Zeugungsgeschichte (Raum, Zeit und Worte für die Verbalisierung finden; geeignete Ansprechpersonen finden) n Integration der Zeugungsgeschichte in die persönlichen und familialen Biografien aller Beteiligten n Aufklärung des Kindes über seine Zeugungsgeschichte (Fragen klären, wann und wie mit dem Kind über seine Zeugungsgeschichte gesprochen wird) n Herausforderungen bei Frühgeburtlichkeit und kindlicher Fehlbildung n Bei Gametenspende: Umgang mit der Spenderperson und ungleichen genetischen Beziehungen zum Kind zwischen den Elternteilen Der Umgang mit der Fertilitätskrise und der Zeugungsgeschichte des Kindes ist dabei in der Regel mit der Geburt des Kindes nicht abgeschlossen, sondern wirkt in den weiteren familialen Lebenslauf hinein (vgl. Mayer-Lewis 2019). Auch wenn es in den wenigen vorhandenen Studien zu Elternschaft und Familienleben nach reproduktionsmedizinischer Assistenz keine Hinweise darauf gibt, dass sich Eltern nach reproduktionsmedizinischer Behandlung von anderen Eltern in der vorgeburtlichen Eltern- Kind-Bindung oder in der Ausübung der Elternrolle qualitativ signifikant unterscheiden (vgl. Golombok 2015), so zeigen die oben beschriebenen Herausforderungen, dass große Belastungen für Eltern und Familien nach reproduktionsmedizinischer Assistenz entstehen können. Deshalb ist es wichtig, dass für diese Familien auch geeignete Ansprechpersonen und Unterstützungsangebote bereitgestellt werden. 4. Was sagen die Eltern? - Themen und Bedarfe der Familien Zwischen 2017 und 2018 wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erstmalig für Deutschland eine Studie durchgeführt, mit welcher Daten zu den Erfahrungen und Bedarfen von Eltern, die ihre Familie mit reproduktionsmedizinischer Assistenz gegründet haben, erhoben wurden. Insgesamt wurden im Rahmen dieser qualitativen Studie 65 Elternteile (20 Väter und 45 Mütter) aus verschiedenen Familienformen befragt. Das Alter der Kinder streute zwischen einem Monat und 19 Jahren, wobei der Großteil der Kinder im Vorschul- oder Grundschulalter war (vgl. Details zur Studie in Mayer-Lewis 2019). Aus dieser Studie werden im Folgenden auszugsweise wichtige Ergebnisse zu den Themen der Familien und deren Unterstützungsbedarfen zusammengefasst dargestellt. 8 FI 1/ 2023 Birgit Mayer-Lewis 4.1 Themen von Eltern und Familien nach reproduktionsmedizinischer Assistenz Eltern nach reproduktionsmedizinischer Assistenz erleben zum einen dieselben Herausforderungen wie andere Eltern beim Übergang ins Familienleben. Frauen und Männer werden zu Eltern durch die Kinder. Elternschaft lässt sich dabei nicht gänzlich vorbereiten - sie bleibt immer unvorhersehbar und durch die Entwicklungs- und Mitgestaltungsprozesse des Kindes sowie durch die Entwicklung der Elternteile in permanenter Veränderung. Dabei wird Elternschaft als Gestaltungsaufgabe erlebt, die mit hohen gesellschaftlichen Erwartungen verbunden ist (vgl. Kaufmann 1990). Dazu gehören die bestmögliche Erziehung und Förderung des Kindes, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Organisation des Familienalltages (wobei diese bei Mehrlingsgeburten und Kindern mit Entwicklungsherausforderungen aufgrund der oft zusätzlich notwendigen medizinischen und therapeutischen Interventionen als besonders hohe Anforderung an das Organisationstalent von Eltern beschrieben wird), der Umgang mit Belastungen und Unsicherheiten in den ersten Lebensmonaten des Kindes, Veränderungen in der Partnerschaft und Neudefinition der familialen Rollenverteilung sowie das Suchen und Finden von geeigneten Unterstützungsangeboten für die Kinderbetreuung. Neben diesen grundsätzlichen Themen für Eltern ergeben sich für Familien nach Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Assistenz jedoch noch zusätzliche Fragestellungen und Aufgaben. Folgende Aspekte wurden in der Studie von den Eltern benannt und stehen in engem Zusammenhang mit den weiter oben beschriebenen Herausforderungen beim Übergang zur Elternschaft: n Verarbeitung von Erfahrungen auf dem Weg zur Familiengründung n einen Umgang mit der assistierten Zeugungsgeschichte und den häufig damit verbundenen Ängsten, Sorgen und belastenden Erfahrungen finden n die Frage, wie die Kommunikation im sozialen Umfeld und gegenüber dem Kind über das eigene Erleben und die Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Assistenz gestaltet werden kann und soll n besondere Fragestellungen, wenn das Kind aufgrund der im Kontext reproduktionsmedizinischer Behandlungen häufiger auftretenden Frühgeburtlichkeit einen besonderen Betreuungsaufwand hat Diese Themen bringen vielschichtige Herausforderungen mit sich. Im Folgenden werden die Ergebnisse zu den Aspekten der Kommunikation näher dargestellt und auf die Relevanz gesundheitlicher Themen bei Frühgeburtlichkeit eingegangen. Die befragten Eltern berichten, dass ihnen hinsichtlich der verbalen Thematisierung der Zeugungsgeschichte im sozialen Umfeld und gegenüber dem Kind zum einen oft Rollenmodelle fehlen, an denen sie sich orientieren können, zum anderen Unsicherheiten hinsichtlich der „richtigen Worte“ bestehen. Bei der Suche nach Anlaufstellen und Unterstützungsmöglichkeiten für Verbalisierungshilfen bei der Aufklärung des Kindes und des sozialen Umfeldes werden Eltern häufig nicht fündig und fühlen sich allein gelassen. Die meisten Eltern planen, mit ihrem Kind über seine Zeugungsgeschichte zu sprechen, jedoch sind viele Eltern verunsichert, welcher Zeitpunkt und welches Alter des Kindes hierfür geeignet sind und wie das Thema angesprochen werden kann, ohne das Kind zu beunruhigen oder zu belasten. Aus anderen Studien ist bekannt, dass dies zur Folge haben kann, dass Eltern die Aufklärung des Kindes aufschieben oder diese gar nicht stattfindet (Ludwig et al. 2008, Nekkebroeck et al. 2008, Peters et al. 2005, Gottlieb et al. 2000, Scheib et al. 2003, Isaksson et al. 2012, Sälevaara 9 FI 1/ 2023 Elternschaft und Familie nach reproduktionsmedizinischer Assistenz et al. 2013). Als Motivation für die Aufklärung des Kindes geben die befragten Eltern folgende Gründe an: n Vermeidung eines Familiengeheimnisses und Herstellung von Normalität n Angst vor Information des Kindes über seine Zeugungsgeschichte durch Zufall oder durch andere n Zeugungsgeschichte mit möglicher Bedeutsamkeit für die Kind-Biografie, vor allem hinsichtlich gesundheitlicher Aspekte oder einer vermuteten möglichen Vererbbarkeit von Fruchtbarkeitseinschränkungen (bei Gametenspenden auch hinsichtlich der Umsetzung des Herkunftsrechtes) n Information für das Kind zu seiner besonderen Erwünschtheit Eltern, die ihre Familie ohne Gametenspende gegründet haben - und somit beide Elternteile genetisch mit dem Kind verwandt sind -, beschäftigen sich oft besonders intensiv mit der Frage nach der Relevanz der Aufklärung des Kindes. Diese Eltern erleben deutlich größere Verunsicherungen hinsichtlich der Kommunikation über ihre Familiengründungsgeschichte. Obwohl diese Familien den größten Anteil der Familien nach Reproduktionsmedizin ausmachen, finden diese Eltern und Familien am wenigsten Information und Unterstützungsangebote für ihre Fragen. Sie sind besonders hinsichtlich des richtigen Zeitpunktes für die Aufklärung des Kindes verunsichert. „Und (…) ja, ich weiß es nicht, ich kann es mir, ich denke schon, dass ich es ihnen sagen möchte. Aber ich finde es eine berechtigte Frage, auch zu überlegen, wann man das eigentlich macht.“ (Mutter; OS_WP-19010318: 740) Darüber hinaus ist manchen Eltern auch sehr unwohl bei dem Gedanken, dass sie durch die Aufklärung des Kindes nicht mehr selbst steuern können, wer alles durch Erzählungen des Kindes über die Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Assistenz informiert wird. „Insofern denke ich schon, dass wir es ihnen irgendwie irgendwann sagen. Aber bestimmt auch nicht in einem Alter so wie jetzt, wo, wenn man [dem Kind] irgendwas erzählt, es am nächsten Morgen die ganze Krippe weiß.“ (Mutter; OS_WP-19010318: 780) In der Kommunikation über die Zeugungsgeschichte im sozialen Umfeld sind viele Eltern ebenfalls stark verunsichert, da sie das Thema Reproduktionsmedizin meist eher als Tabuthema erleben und Angst vor Stigmatisierung und Pathologisierung ihrer Familie haben. So schildern Mütter und Väter folgendes Erleben dazu: „Also, dass man dann so in dem Umgang mit seinem Kind nicht ungezwungen erlebt wird, sondern immer mit dem Gedanken, och, das ist ja die, wo das so schwer geklappt hat. Und guck, jetzt geht sie so und so mit dem Kind um, (…) besonders, weiß ich nicht, liebevoll oder jetzt schimpft sie doch oder jetzt ist sie so streng mit dem oder so. Wo sie doch diesen Hintergrund hat! Also ich hatte Angst vor so einer Schublade, in die ich reinkomme. Das fand ich, das hat mich oft davon fern gehalten mit, äh mit Freundinnen oder mit so peripheren Freundinnen, mit so Bekanntschaften darüber zu sprechen.“ (Mutter; SS_WP-28010717: 158) „Und, weil ich habe schon den Eindruck, dass vielleicht der ein oder andere das Ganze dann eher skeptisch betrachtet, so alla warum, warum muss es sowas überhaupt geben, es geht doch auf natürlichem Weg! Die, denn das sind dann meistens die Leute, bei denen klappt das einfach so, (…) die sind dann auch nicht, ich sage mal, aufgeklärt in dem Sinne zu wissen, ja es gibt Krankheitsbilder, die verhindern, dass man auf natürlichem Weg ein Kind kriegen kann, und denen kann geholfen werden.“ (Vater; OS_MP-09011217: 459) 10 FI 1/ 2023 Birgit Mayer-Lewis „(…) aber wir reden nicht viel drüber, weil wir für die Kinder nicht so eine Wallung machen möchten, dass die da irgendwie als, weiß ich nicht, Einäugige irgendwas, die sind. Oh, guck mal die, die haben, die sind so und so gezeugt worden. Also, ich denke mal, das Thema ist wichtig für uns, für die Kinder, für die, die denen nahestehen, aber das sollte nicht jetzt reduziert werden auf dieses Thema finde ich.“ (Mutter; SS_WP-23011017: 177) Dies wirkt sich im weiteren Familienleben auch auf die Kommunikation zwischen Eltern und Fachkräften (wie z. B. pädagogischen oder therapeutischen Fachkräften) aus. Information über die Zeugungsgeschichte wird oft sowohl von Seiten der Fachkräfte als auch von den Eltern nicht angesprochen. Für die pädagogische Arbeit mit den Kindern und einem sensibilisierten Umgang mit den Eltern wird diese Information aus Sicht der Fachkräfte dennoch als relevant eingeschätzt. Fachkräfte aus der Kindertagesbetreuung berichten dazu: „Es gibt schon manchmal Situationen, wo man vielleicht mehr verstehen könnte. Also wo ich auch mehr verstehen kann, wenn ein Kind zum Beispiel sehr, sehr, sehr behütet ist. Wo man sich manchmal fragt, Mensch, was ist das denn? Warum ist das denn so ausgeprägt? Wenn ich dann vielleicht wüsste, wir haben fünf Jahre lang gebraucht, bis das geklappt hat. Und dann wäre das was, wo ich vielleicht anders mit umgehen würde, und sag, ja, ich kann das auch verstehen.“ (KIGA_W-22010318: 39). „Ich fände es wertvoll, sowas zu wissen. (…) Eben, weil, also (…) wenn ich weiß, was die Vorgeschichte ist von dem Kind, auch von der Familie, dann kann ich damit ganz anders arbeiten.“ (KIGA_W-28011117: 151) „Ja, ich finde, also manchmal ist es dann ja, wenn es jetzt mit medizinischer Unterstützung der Kinderwunsch erfüllt wird, dann ist es ja doch ein bisschen komplizierter. Und dann kann es ja sein, dass auch die Kinder früher auf die Welt kommen. Und bei Zwillingen, also die kamen ein bisschen früher auf die Welt, und dann von der Entwicklung her. Also die haben alles tipptopp gemacht, aber muss halt ein bisschen dabeibleiben und die führen.“ (KIGA_W-21010318: 35) „Also ich würde selber auf das Kind, natürlich dann schon noch mehr eingehen, das mit dem Kontext halt zu wissen, dass vom Hintergrund vielleicht in der Familie da einfach noch ein anderer Start gesteckt hat.“ (KIGA_W-21010318: 63) Die Konfrontation mit gesundheitlichen Herausforderungen trifft im Besonderen Eltern, die während der reproduktionsmedizinischen Behandlung mit körperlichen Beschwerden auf die Hormonstimulationen reagiert haben, die Komplikationen während der Schwangerschaft erfahren haben oder deren Kinder als Frühchen oder Mehrlinge zur Welt kamen. Einige Eltern fühlen sich dabei hinsichtlich der möglichen Auswirkungen reproduktionsmedizinischer Behandlungen nicht ausreichend gut informiert. Nach der Geburt der Kinder erleben vor allem Eltern von Frühchen Belastungen und Beunruhigungen durch lange Klinikaufenthalte, eine hohe Frequenz von Arzt- und Therapieterminen sowie durch ihre Sorgen um die Entwicklung und Gesundheit der Kinder. Die Mutter eines frühgeborenen Kindes erzählt dazu: „Dann kam auf einmal eine Frau mit so einem mobilen Ultraschallgerät. (…) ‚Ich will nur mal das Gehirn Ihres Sohnes angucken. (…) Ja, da konnten wir letztes Mal nicht so richtig was sehen, das wollten wir jetzt nochmal machen.‘ Und dann machte sie so einen Ultraschall (…) und dann so: ‚Oh, das ist aber alles dicht.‘ Und ich so: ‚Ja, was heißt denn das 11 FI 1/ 2023 Elternschaft und Familie nach reproduktionsmedizinischer Assistenz jetzt? ‘ ‚Ja, das kann dafür sprechen, dass es Gehirnblutungen, dass er Gehirnblutung hat.‘ Und das war dann eben auch ein ganz schlimmer Moment für mich. Wo dann wieder der Boden so unter den Füßen weg war. Und dann schaute sie nochmal oder ich weiß nicht, wie das dann genau, und dann sagt sie: ‚Nein, nein. Ach, das ist nur einfach, das ist bei Frühchen oft so, dass es noch nicht so reif ist und deswegen alles noch so sehr dicht ist.‘ Und dann war es eigentlich wieder gut. Aber ja, ich war einfach, das sehe ich jetzt erst so, so belastet durch diese ganzen Vorsachen, also schon durch diese ganzen Befruchtungsgeschichten und so, das war dann auch nicht sofort wieder gut, dass ich kurz dachte, dass der jetzt Gehirnblutung hatte, sondern das hat Tage gedauert, um mich von so zwei Minuten nur so zu erholen.“ (OS_WP-06010717: 1546) Eine Mutter von frühgeborenen Zwillingen berichtet: „Ja, es war einfach schwierig. Der Max war insgesamt drei Monate stationär. Und der Paul war sechs Wochen stationär. Und dann bin ich mit dem sechs Wochen alten Säugling dann jeden Tag im Maxi-Cosi nach Großstadt X zu Max. Und auch der Paul, (…) der hatte noch gar nicht seinen eigentlichen Geburtstermin erreicht. Also, er war auch ein ganz kleines, winziges Kindchen. Und ich habe unter extremen - ja, also - irgendwie es war eine emotional schwierige Situation: Dieses kleine Kind. Und dann in die Klinik. Und da 1000 Frühchen, Monitor, ständig gingen da Alarme. Es war überhaupt keine Situation, in der man entspannt als Mutter mit seinen Kindern sein konnte. Und vielleicht wäre es hilfreich gewesen, wenn da kompetente Betreuung gewesen wäre, die dann mal gesagt hätte: Ich nehme Ihnen jetzt mal zwei Stunden den Paul ab. Und betreue den dann liebevoll. Sodass ich dann einfach mehr Zeit gehabt hätte für den Max.“ (OS_WP-21010418: 612) Die Belastungen und Sorgen der Eltern dauern dabei oft eine lange Zeit an. So erzählt ein Vater von frühgeborenen Zwillingen: „Und dann ging es besser und so gefühlt muss ich ungefähr sagen, wo die Kinder so sechs Monate waren, dann ging einer runter vom Sauerstoff und da war es ein ganz normales Familienleben. Aber immer mit Angst, immer mit Angst. Eigentlich war ich bei all diesen Kinderuntersuchungen, da bin ich ja fast immer mit, wie entwickelt es sich und ist es genug und was weiß ich. Das war schon extrem stressig.“ (OS_MP-21010418: 532) Obwohl viele Eltern gute Coping- und Bewältigungsstrategien für den Umgang mit ihren familialen Herausforderungen entwickeln, wünschen sie sich eine bessere und vor allem leichter auffindbare Information zu allen Themen rund um die reproduktionsmedizinisch assistierte Familiengründung sowie niedrigschwellige Unterstützungsangebote bei Fragen und Unsicherheiten vor, während und nach der Behandlung sowie nach der Geburt des Kindes und im weiteren Familienleben. 4.2 Bedarfe von Eltern und Familien nach ART Die Ergebnisse der Studie weisen deutlich darauf hin, dass Eltern sich nicht nur vor und während der reproduktionsmedizinischen Behandlung mehr Information und Unterstützung wünschen, sondern auch nach der Geburt des Kindes. Für die Phase vor und während einer reproduktionsmedizinischen Behandlung gibt es in Deutschland bereits eine gute Infrastruktur zur medizinischen und psychosozialen Beratung und Begleitung von Frauen und Männern mit Kinderwunsch. Leider sind diese Angebote oft nicht ausreichend bekannt, und psychosoziale Beratungsangebote werden trotz des hohen Bedarfs bisher nur von wenigen Betroffenen genutzt. Eltern brauchen deshalb zum einen 12 FI 1/ 2023 Birgit Mayer-Lewis eine bessere und sehr frühzeitig ansetzende Öffentlichkeitsarbeit zu diesen Angeboten. Dabei sollte die Unterstützung für Frauen und Männer gleichermaßen geeignet sein. Männer äußern, dass sie sich von den vorhandenen Angeboten oft nicht angesprochen fühlen und sie diese eher als frauenspezifisch wahrnehmen. Zum anderen wünschen sich die Betroffenen, dass eine bessere allgemeine Aufklärung der Gesellschaft rund um die Themen der reproduktionsmedizinisch assistierten Familiengründung stattfindet, sodass vorhandene Tabus und Stigmatisierungsprozesse gegenüber den betroffenen Familien abgebaut werden können. Sie vermissen einen offenen Umgang mit ihrer Familienform und sehnen sich nach einer selbstverständlichen Teilhabe in der familialen Vielfalt unserer Gesellschaft. Für die Zeit nach der Geburt des Kindes sind bisher nur wenige Informations- und Unterstützungsangebote vorhanden, die sich explizit den Themen für Familien nach reproduktionsmedizinischer Assistenz widmen. Von den betroffenen Eltern werden diese als nicht ausreichend bewertet und sie benötigen vor allem mehr und wohnortnahe Angebote für Austausch- und Kontaktmöglichkeiten mit anderen Familien, die ähnliche Familiengründungsgeschichten haben. Wenn Eltern pädagogische, psychologische oder pädiatrische Fachkräfte hinsichtlich ihrer Sorgen im Kontext der Familiengründungsgeschichte ansprechen, fühlen sie sich oft nicht gut verstanden und betreut. Sie wünschen sich deshalb hinsichtlich dieser Themen eine größere Sensibilisierung und Schulung von Fachkräften, die mit Familien arbeiten. Darüber hinaus besteht auch Bedarf an Informationsmaterialien und Anlaufstellen für Kinder nach reproduktionsmedizinischer Assistenz. Zum einen fehlen den Eltern Informationsmaterialien, die für Kinder aller Altersklassen geeignet sind und welche sie selbst, aber auch ihre Kinder, für die Information und den Austausch rund um die Zeugungsgeschichte nutzen können. Zum anderen halten es Eltern älterer Kinder für erforderlich, dass auch diese qualifizierte Unterstützungsangebote und Ansprechpersonen erreichen können, wenn sie Fragen haben, die sie mit den Eltern selbst nicht besprechen wollen. Für Eltern liegen bisher kaum kindgerechte Informationsmaterialien vor und auch in der Kinder- und Jugendliteratur wird die reproduktionsmedizinische Familiengründungsgeschichte nur selten thematisiert. Konkrete Anlaufstellen für Kinder nach reproduktionsmedizinischer Assistenz sind in Deutschland noch nicht etabliert. 5. Ausblick: Handlungsempfehlungen Für alle Disziplinen, die mit Eltern, Kindern und Familien arbeiten, wird die Auseinandersetzung mit der Heterogenität und Vielfalt von Familienleben zunehmend relevanter. Dabei sind auch das Wissen um die Familiengründungsgeschichte und ein sensibilisierter Umgang mit den Erfahrungen, Verunsicherungen und Fragen der Familien wichtig. Neben der Vielzahl von bereits seit langer Zeit existierenden Lebensmodellen von Familie wie die Kern-, Stief-, Adoptions-, Patchwork-, Pflege- oder Einelternfamilie hat in den letzten Jahrzehnten auch die Anzahl an Familien zugenommen, die sich mit reproduktionsmedizinischer Assistenz gegründet haben. Diese Familien sind bisher kaum im Blickfeld der Professionen außerhalb der Reproduktionsmedizin. Um aber auch diese Familien bedarfsgerecht unterstützen und begleiten zu können, sind folgende Handlungsempfehlungen zu berücksichtigen. n Breitflächige Sensibilisierung und gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeitsarbeit rund um die Themen Fertilität, Fertilitätsbeeinträchtigung und Kinderwunsch: Familien nach reproduktionsmedizinischer Assistenz wollen in ihrer eigenen Vielfalt gleichwertig mit anderen Familien wahrgenommen wer- 13 FI 1/ 2023 Elternschaft und Familie nach reproduktionsmedizinischer Assistenz den. Durch eine verbesserte gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeitsarbeit können Vorbehalte, Stigmatisierungs- und Tabuisierungstendenzen in der Gesellschaft abgebaut werden. n Sensibilisierung und Schulung von Fachkräften, die mit Eltern, Kindern und Familien arbeiten: Die Vielfalt der Lebensformen und Familiengründungsgeschichten muss in die Aus-, Fort- und Weiterbildungsprogramme aufgenommen werden, sodass Fachkräfte über genügend Information und Wissen zu diesen Themen verfügen. Im Besonderen sind ausreichend Fort- und Weiterbildungsprogramme für pädagogische Fachkräfte zu etablieren, da diese oft wichtige Ansprechpersonen für Eltern und Kinder sind. n Bessere Öffentlichkeitsarbeit zu vorhandenen Unterstützungs- und Beratungsangeboten sowie Ergänzungen dieser: Eltern erleben es oft als große Anstrengung, Informationen zu ihren Fragen zu finden. Vorhandene Angebote kennen sie häufig nicht oder haben Hemmungen, diese zu nutzen. Deshalb müssen vorhandene Angebote bekannter gemacht werden, niedrigschwellig erreichbar und auf die spezifischen Fragen und Unterstützungsbedarfe von Frauen, Männern, Paaren und Kindern ausgerichtet sein. Dabei sind sowohl Aspekte vor und während der Familiengründungszeit als auch für das weitere Familienleben zu berücksichtigen. Für Kinder und Jugendliche müssen Konzepte entwickelt und Unterstützungsangebote etabliert werden, sodass auch die betroffenen Kinder und Jugendlichen Anlaufstellen zur Unterstützung außerhalb des Elternhauses haben. n Stärkung der Selbsthilfelandschaft: Für alle Familienmitglieder kann der persönliche Austausch mit anderen in ähnlichen Lebenssituationen von großer Relevanz sein. Deshalb müssen verstärkt auch wohnortnahe und regionale Austausch- und Vernetzungsstrukturen für Familien nach reproduktionsmedizinischer Assistenz gefördert werden. Trotz vorhandener wichtiger Informationsquellen und Anlaufstellen für Frauen, Männer und Familien im Kontext der Familiengründung mit reproduktionsmedizinischer Assistenz wie z. B. n die Informationsmaterialien und Online-Informationen der BZgA, n das Online-Informationsportal Kinderwunsch des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend oder n die Angebote der Deutschen Vereinigung von Familien nach Samenspende (DI-Netz), n der Verein Spenderkinder, n der Verein Single-Frauen mit Kinderwunsch, n der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland und n die Deutsche Gesellschaft für Kinderwunschberatung (BKID) bleibt es eine wichtige Aufgabe für die Zukunft, Angebote für alle Beteiligten der Familie und über den gesamten familialen Lebenslauf hinweg bereitzustellen, bekannt zu machen und Hürden der Inanspruchnahme wie Stigmatisierungs- und Diskriminierungsängste abzubauen. Besonders wichtig ist es dabei, für Eltern, Familien und Kinder bereits möglichst frühzeitig im familialen Lebenslauf eine passende Beratung, Begleitung und Unterstützung bereitzustellen, weshalb die Fachkräfte der vorschulischen Kindertagesbetreuung und Frühförderung äußerst wichtige Ansprechpersonen für die Familien sein können. Bedeutung für die Praxis In Deutschland sind inzwischen mehr als 340.000 Kinder nach reproduktionsmedizinischer Assistenz geborenen worden und jährlich kommen über 20.000 Kinder hinzu. Die Familiengründungsgeschichte sowie die Fragen, Herausforderungen und Bedarfe von Familien, die sich mit reproduktionsmedizinischer Assistenz ge- 14 FI 1/ 2023 Birgit Mayer-Lewis gründet haben, waren lange Zeit nicht im Blick der pädagogischen Professionen. Für die Fachkräfte werden eine Information sowie Fort- und Weiterbildung zu diesen Aspekten aber zunehmend wichtiger, da sie in den alltäglichen Begegnungen der pädagogischen Arbeit von steigender Relevanz sind. Prof. Dr. Birgit Mayer-Lewis Evangelische Hochschule Nürnberg Bärenschanzstr. 4 90429 Nürnberg E-Mail: birgit.mayer-lewis@evhn.de Literatur bpb-Datenreport (2016): Datenreport 2016. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung/ bpb, Bonn DIR (Deutsches IVF Register) (2017): Jahrbuch 2017. In: Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie - 2018 (Sonderheft 1) DIR (Deutsches IVF Register) (2021 a): DIR Jahrbuch 2020 (Auszug) - Für Paare mit unerfülltem Kinderwunsch, Patientinnen, Patienten, die Öffentlichkeit. 10/ 2021 Ausgabe 1 DIR (Deutsches IVF Register) (2021 b): Jahrbuch 2020. In: Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie - 2021 (Sonderheft 3) Familienreport (2017): Leistungen, Wirkungen, Trends. Hrsg.: Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin Golombok, S. (2015): Modern Families. Parents and Children in New Family Forms. 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