Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Aktuelle Fachdiskurse: Anmerkungen zum Editorial der Ausgabe 4/2022
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2023
Armin Sohns
Das Editorial („ED“) der o.g. Ausgabe mit einer Kritik zum „Konzept der Inklusiven Frühförderung“ (vgl. Fachartikel 3/2022 - „FA“) legt eine (chronologische) Kommentierung der Kernaussagen nahe.
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93 FI 2/ 2023 AK TUELLE FACHDISKURSE Anmerkungen zum Editorial der Ausgabe 4/ 2022 Armin Sohns Das Editorial („ED“) der o. g. Ausgabe mit einer Kritik zum „Konzept der Inklusiven Frühförderung“ (vgl. Fachartikel 3/ 2022 - „FA“) legt eine (chronologische) Kommentierung der Kernaussagen nahe. ED - S. 165: „Auf jeden Fall würde das vorgetragene ,inklusive‘ Konzept die heutige Finanzierung der IFF … massiv gefährden.“ Es macht Sinn, die gängige Finanzierungsstruktur mit ihrer starren Orientierung an zu erbringenden Fördereinheiten kritisch zu hinterfragen. Sowohl das beschriebene Konzept als auch dessen Umsetzung zeigen jedoch keine Gefährdung der Frühförderung, sondern eine erhebliche Verbesserung: Die Zuwendungen des Sozialamtes für die Frühförderstelle haben sich binnen zwei Jahren um über 50 % erhöht, ab 2023 kommt ein eigenes Budget der Jugendhilfe hinzu. Die Fachpersonen wurden von dem großen Arbeitsdruck durch das obligatorische Erbringen von regelmäßigen Fördereinheiten befreit (FA, S. 147). Ihre Zahl ist binnen eines Jahres von 7 auf 18 gewachsen, ihre Entlohnung wurde - einhergehend mit einer verbindlichen Akademisierung - um gleich mehrere Gehaltsgruppen erhöht (FA, S. 150). All dies ist politisch gewollt, da man sich durch den Ausbau eines präventiven und niedrigschwelligen Ansatzes der Frühförderung stärkere Familien und eine Vermeidung wesentlich höherer Folgekosten verspricht. ED - S. 165: „Dies würde insbesondere die interdisziplinäre Kooperation mit der Medizin in den Frühförderstellen kategorisch infrage stellen …“ Auch hier ist das Gegenteil der Fall. Wie viele deutsche Frühförderstellen hatte auch die Frühförderstelle des Modellprojektes zuvor kaum fachliche Kontakte zu den niedergelassenen Kinderärzt: innen. Durch die Honorarzahlungen aus Projektmitteln konnte eine systematische interdisziplinäre Kooperation mit dem medizinischen Fachpersonal in den Sozialräumen überhaupt erst aufgebaut werden. Dies verändert die Arbeitsmentalität des gesamten Systems, die Früherkennung und nicht zuletzt die Fachlichkeit aller Berufsgruppen. ED - S. 165: „Ihrer Meinung nach sollte den frühen Hilfen die Führungsposition in einem ,inklusiven‘ Gesamtsystem zukommen.“ „Die Motive reichen von Kinderarmutserwägungen bis zum Dominanzstreben über die IFF.“ Kinderarmut ist auch für die Frühförderung von Bedeutung. Bereits 1973 haben Otto Speck und Gerhard Klein mit dem Deutschen Bildungsrat in einer imponierenden Weitsicht „Kinder aus sozialen Brennpunkten“ ausdrücklich als einen der Schwerpunkte der Frühförderung benannt. Wenn es eine „Dominanz“ gäbe, so läge diese nach dem vorgelegten Konzept doch gerade bei der Frühförderung (FA - S.148). Die Frühen Hilfen akzeptieren deren Koordinierung und Instrumente, insbesondere den interdisziplinär erstellten Förder- und Behandlungsplan (FuB), der alle anderen Verwaltungsinstrumente wie Gesamtplan, Teilhabeplan und Hilfeplan ersetzt. Die Frühförderung wird erheblich aufgewertet und ihre hohen fachlichen Errungenschaften (offener Zugang, Interdisziplinarität, mobile Arbeitsweise, Familienorientierung) in ein Gesamtkonzept überführt und von der Jugendhilfe mitfinanziert. 94 FI 2/ 2023 Aktuelle Fachdiskurse ED - S. 165: „Schon der erste Satz der Publikation: ,Die sogenannte inklusive Lösung ist beschlossen‘ ist unrichtig. Diese Entscheidung steht mit einem eventuellen gesetzlichen Übergang der IFF vom SGB IX …ins SGB VIII definitiv erst zum 1. 1. 2027 an.“ Seit dem Beschluss des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes 2021 legt der § 10 SGB VIII fest, dass ab 1. 1. 2028 die finanzielle Zuständigkeit für die pädagogisch-psychologische Frühförderung einheitlich bei der Jugendhilfe liegt („Inklusive Lösung“). Damit entfällt die unsägliche Aufspaltung zwischen körperlicher und geistiger Behinderung einerseits und seelischer Behinderung andererseits. Angekündigt sind lediglich noch weitere gesetzliche Regelungen zur konkreten Ausgestaltung. Es handelt sich auch nicht um einen „Übergang“ vom SGB IX ins SGB VIII. Die Jugendhilfe ist als einer von sieben Rehabilitationsträgern im SGB IX aufgeführt, dessen Regelungen bleiben für die Frühförderung maßgeblich. ED - S. 165: „Und was heißt ,inklusiv‘? Dieses Wort stellt heute immer mehr eine leere Worthülse dar.“ Für das Konzept gilt dies keineswegs. In einem inklusiven System gehören alle Menschen dazu, ihre jeweiligen Hilfebedarfe werden individuell abgestimmt. Gerade weil viele Eltern eine subjektive Stigmatisierung ihres Kindes als „behindert“ vermeiden wollen, erfolgen Erstanmeldungen zur Frühförderung (zu) spät (FA - S. 142). „Inklusiv“ trägt einer Haltung Rechnung, bei der es einer solchen amtlichen Kategorisierung nicht mehr bedarf. Die Komplexleistung richtet sich gemäß § 6 a FrühV im Rahmen des offenen Beratungsangebotes an „alle Eltern, die ein Entwicklungsrisiko bei ihrem Kind vermuten“. Das Konzept führt diesen Anspruch darüber hinaus fort. ED - S. 166: „ Auffallend ist im Beitrag von A. Sohns … vor allem die negative Etikettierung der interdisziplinären Frühförderung.“ Der Fachartikel kritisiert in einem eigenen Kapitel „Problemanalyse“ ausführlich (FA - 140 -143) „erschwerte Rahmenbedingungen“ für die Frühförderung. Dies wird offenbar als „negative Etikettierung“ ihrer historischen Errungenschaften wahrgenommen. Das Gegenteil ist der Fall. Es darf gerade nicht verschwiegen werden, wenn ihre fachlichen Ansprüche in weiten Teilen der deutschen Frühförderung nie gewährleistet wurden oder gar wieder beschnitten werden. Die Problemanalyse des Fachartikels zeigt auf, wo noch besonderer Handlungsbedarf besteht. ED - S. 166: „Gesundheitsämter sind zu Recht keine Entscheidungsträger in der IFF.“ Nach all unseren Erkenntnissen ist es in Deutschland nach wie vor das überwiegend praktizierte Verfahren für die Gewährleistung einer laufenden pädagogisch-psychologischen Frühförderung, dass Eltern einen Antrag stellen müssen und die Behörden unter (obligatorischer) Amtshilfe der Gesundheitsämter überprüfen, ob bei dem Kind der Status einer (drohenden) Behinderung feststellbar ist. Damit sind die Gesundheitsämter wesentliche Entscheidungsträger. Es erscheint nicht angebracht, Rahmenbedingungen aus Bayern generell für ganz Deutschland als gegeben zu erklären. ED - S. 167: „Die Aussage, dass die IFF keine präventive Wirkung hat, beruht auf einem entwicklungspsychologischen Missverständnis. Die IFF arbeitet in höchstem Maße präventiv.“ Es geht nicht nur darum, was die Frühförderung inhaltlich macht, wenn sie Familien betreut. Präventive Angebote haben das Ziel, die Zugänge zur Frühförderung zu erleichtern oder den Bedarf an Frühförderung gar nicht erst entstehen zu lassen. Wenn die Kinder im Durchschnitt mit fast vier Jahren erstmals in der Frühförderung angemeldet werden, sind wesentliche Entwicklungsprozesse bereits abgeschlossen, die bei einer frühzeitigen familienorientierten Frühförderung anders hätten verlaufen können. 95 FI 2/ 2023 Aktuelle Fachdiskurse ED - S. 167: „Das Konzept und die Leistungen der IFF werden von A. Sohns fortlaufend negativ beschrieben, aber wenn es zur Aufwertung des NZFH passend erscheint, dann werden die allseits bekannten Kernmarken der IFF wie die ,Interdisziplinarität, Mobilität, Familienorientierung oder ICF-Orientierung‘ plötzlich als die entscheidenden (neuen) Ressourcen für die ,inklusive Frühförderung‘ dargestellt (S. 142)“. Das Konzept der Frühförderung wird nirgendwo als negativ beschrieben, die Kritik bezieht sich ausschließlich auf eine unbefriedigende Umsetzung. ED - S. 167: „Durch die Pläne der ,inklusiven Frühförderung‘ bekäme die IFF eine riesige neue Klientel hinzu.“ „Die IFF arbeitet aber heute schon am Leistungslimit, wie die Wartezeiten in der IFF in Bayern zeigen.“ Diese berechtigte Feststellung eines Missstandes kann kein Argument gegen eine Weiterentwicklung und einen Ausbau der Frühförderung sein. Das vorgestellte Konzept rechtfertigt doch gerade die steigenden finanziellen Zuwendungen, die einem Leistungslimit entgegenwirken. ED - S. 168: „Die Krankenkassen und andere Finanzgeber werden auch in Zukunft Leistungen für ,verunsicherte Eltern‘ ohne eine Diagnose des Kindes nicht finanzieren.“ Diagnose ist nicht gleichzusetzen mit administrativer Überprüfung. Die interdisziplinäre Diagnostik ist eine der wesentlichen Phasen des Konzeptes. Die obligatorischen Unterschriften von Eltern und der Hilfeplanerin des Landkreises unter den FuB können aber auch im administrativen Sinne weiterhin als Antragstellung und Bewilligung gedeutet werden, jedoch mit einer erheblichen Vereinfachung der Verwaltungsabläufe. Der Rechtsanspruch auf einen diagnoseunabhängigen Zugang zur Komplexleistung Frühförderung für alle verunsicherten Eltern (s. o.) muss trotzdem eingefordert werden. Eine Mentalität, „die Leistungsträger werden das ohnehin nicht zahlen“, erstickt jede Weiterentwicklung des Systems im Keim. Die Umsetzung des Konzeptes der inklusiven Frühförderung zeigt, dass Leistungsträger bereit sind, hierfür sehr viel Geld zu investieren, wenn ein selbstbewusstes und kompetentes System Frühförderung eine entsprechende Überzeugungsarbeit leistet. ED - S. 168: „Die IFF ist - wie selten ein anderes System - mit jedem der oben genannten Systeme schon heute bestens vernetzt (FranzLStudie 2010), sodass für sie jede zusätzliche Administration - wie im ,inklusiven Konzept‘ vorgesehen - wichtige personelle Ressourcen von ihren originären Aufgaben abziehen würde.“ Daten einer Studie aus Bayern können nicht für ganz Deutschland generalisiert werden. Andere Studien zeigen bezüglich einer Vernetzung das Gegenteil auf. Der „zusätzliche(n) Administration“ durch die inhaltliche Arbeit einer Hilfeplanerin im Team stehen erhebliche administrative Einsparungen durch das Wegfallen jeglicher Antragsbearbeitungen und Überprüfungstätigkeiten gegenüber. Insgesamt wird der administrative Aufwand reduziert. ED - S. 168: „Die vorgeschlagene ,inklusive Frühförderung‘ ist ohne Zweifel geeignet, erfolgreiche Strukturen der Kindförderung in der IFF zu zerstören.“ Wodurch? De facto wird nicht nur der Fokus von Frühförderung um eine umfeldorientierte (Eltern-) Arbeit erweitert, auch die „Kindförderung“ profitiert von dem System durch bessere Standards und mehr Personal. Allerdings kritisiert das Konzept in der Tat die Haltung zahlreicher Rehabilitationsträger (z. B. der Landesrahmenvereinbarung in NRW), wonach als direkte Leistung der Frühförderung ausschließlich die Förderung „am Kind“ akzeptiert wird. Für die Frühförderung ist seit der Stellungnahme des Deutschen Bildungsrates 1973 die Arbeit mit den Eltern ebenfalls elementarer Bestandteil. Wieso ihr fachlicher Anspruch, über den engen Rahmen der Förderung „am Kind“ hinaus zu denken, „befremdlich“ (ED - S. 166) sein soll, kann nicht nachvollzogen werden. 96 FI 2/ 2023 Aktuelle Fachdiskurse ED - S. 168: „In der ,inklusiven Frühförderung‘ sollen die niedergelassenen medizinischen Therapeut*innen nur noch als ,verbindliche Kooperationspartner*innen‘ einbezogen werden, weil sie ,eigene Finanzmittel‘ haben (Praxen) (S. 143). Das kann nur bedeuten, dass die heute in den interdisziplinären Frühförderstellen tätigen medizinischen Therapeut*innen entlassen werden sollen. Und es bedeutet wohl auch, dass damit die interdisziplinären Teams in den Frühförderstellen aufgelöst werden müssen.“ Es ist nicht nachvollziehbar, warum hier das medizinisch-therapeutische Personal in den Frühförderstellen und in freier Praxis gegeneinander ausgespielt werden. Die zitierte Passage fordert ein „Einbeziehen“ der Praxen zur Aufwertung der Sozialräume. Diese Kooperationen werden über „eigene Finanzmittel“ des Modellprojektes finanziert, da freie Praxen andernfalls Verdienstausfälle haben. Dies wird beispielsweise in Hessen seit 30 Jahren durch eine freiwillige Finanzierung des Landes gewährleistet. Entlassungen oder gar Auflösungen von Teams gab es keine. ED - S. 168: „Alle Aussagen zeigen, dass die anerkannt hohen Qualitätsstandards der IFF gerne als Modell und Vorbild für die ,inklusive Frühförderung‘ kopiert werden sollen (S. 142). Ein eigenes fachlich-inhaltliches Einbringen ist nicht zu erkennen. Neu ist nur die starke Priorisierung der Prävention; eine radikale Absage an ,Diagnosen‘ für die zu fördernden Kinder; die strikte Verneinung einer Förderung ,am Kind‘ und daher eine primäre Fokussierung auf Elternberatung/ Elterntraining…“ In der Tat ist das Konzept der Inklusiven Frühförderung geprägt von den über Jahrzehnte entwickelten fachlichen Qualitätsstandards einer interdisziplinären Frühförderung und möchte sie gerne auf andere Systeme übertragen. Eine radikale Absage an eine administrative Kategorisierung als „behindert oder von Behinderung bedroht“ bedeutet jedoch keine „radikale Absage an Diagnosen“ - ebenso wenig eine „strikte Verneinung einer Förderung am Kind“, die allerdings um eine umfeldorientierte Arbeit erweitert werden muss, um wirkungsvoll zu sein. ED - S. 169: In der Schlussbemerkung wird eine präventive Arbeit der Frühförderung, die als „fallunspezifische Arbeit“ nicht an einen Förderplan eines Kindes geknüpft ist und einen neuen eigenen Arbeitsschwerpunkt der Frühförderung begründet, mit dem Kommentar abgelehnt: „In der traditionellen IFF gibt es keine solchen sogenannten ,fallunspezifischen Arbeiten‘.“ Vielleicht wäre es hier sinnvoll, die Tradition der Frühförderung weiterzuentwickeln. Kein anderes System wäre mit seiner hohen Fachkompetenz und seiner interdisziplinären und lebensweltorientierten Ausrichtung so prädestiniert dafür, auch in Kooperation mit Einrichtungen der Jugendhilfe (z. B. Familienzentren oder Kindertagesstätten) Angebote einer verbesserten Früherkennung vor Ort qualifiziert auszugestalten. Nordhausen am Harz, 16. Dezember 2022 Prof. Dr. Armin Sohns
