Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2023.art23d
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Aktuelle Fachdiskurse: Frühe Hilfen - ein Arbeitsfeld und ein Programm
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2023
Ute Thyen
Die Frühen Hilfen in Deutschland bestehen seit 15 Jahren als kommunale Angebote für alle Familien ab der Schwangerschaft bis zum dritten Lebensjahr eines Kindes, die Hilfen sind insbesondere auf Familien mit besonderen psychosozialen Belastungen ausgerichtet. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem programmatischen Ansatz, der von den Akteuren im Rahmen der Wissensplattform des vom BMFSFJ geförderten Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) entwickelt wurde und den kommunalen Netzwerken der Frühen Hilfen, die das Arbeitsfeld konstituieren. In diesem Feld sind die Fachkräfte aus den Gesundheitsberufen und der sozialen Arbeit tätig und handeln abgestimmt mit allen anderen Akteuren der Gesundheitsförderung in Familien.
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209 Frühförderung interdisziplinär, 42.-Jg., S.-209 - 216 (2023) DOI 10.2378/ fi2023.art23d © Ernst Reinhardt Verlag AK TUELLE FACHDISKURSE Frühe Hilfen - ein Arbeitsfeld und ein Programm Ute Thyen Zusammenfassung: Die Frühen Hilfen in Deutschland bestehen seit 15 Jahren als kommunale Angebote für alle Familien ab der Schwangerschaft bis zum dritten Lebensjahr eines Kindes, die Hilfen sind insbesondere auf Familien mit besonderen psychosozialen Belastungen ausgerichtet. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem programmatischen Ansatz, der von den Akteuren im Rahmen der Wissensplattform des vom BMFSFJ geförderten Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) entwickelt wurde und den kommunalen Netzwerken der Frühen Hilfen, die das Arbeitsfeld konstituieren. In diesem Feld sind die Fachkräfte aus den Gesundheitsberufen und der sozialen Arbeit tätig und handeln abgestimmt mit allen anderen Akteuren der Gesundheitsförderung in Familien. Schlüsselwörter: Frühe Hilfen, Gesundheitsförderung, Kinderschutz Early Preventive Services Summary: Early preventive services in Germany have been rolled out over the last 15 years as municipal support for all families from pregnancy to a child’s third year; the assistance is particularly geared towards families with increased psychosocial stress. A distinction must be made between the programmatic approach developed by the actors using the knowledge platform of the Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) funded by the BMFSFJ and the municipal networks of early preventive services, which constitute a field of work. This field includes health, social work and educational professionals who act in coordination with all other systems of health in families. Keywords: Early preventive services, health promotion, child protection Hilfen in der Frühen Kindheit: Konzepte für frühe Prävention und Intervention bei speziellem Unterstützungsbedarf für Familien D ie Frühen Hilfen beschreiben zunächst ein Arbeits- und Aufgabenfeld, das sich durch eine Zielsetzung und Adressatengruppe beschreiben lässt: „Ziel der Frühen Hilfen ist das gesunde Aufwachsen von Kindern; sie tun dies insbesondere durch alltagspraktische Unterstützung und Förderung der Beziehungs- und Erziehungskompetenz von (werdenden) Müttern und Vätern (NZFH 2014).“ Dieses Arbeitsfeld gibt es in allen Ländern der Welt, es entspricht dem 4. Nachhaltigkeitsziel der Vereinten Nationen, das von UNICEF für die Altersgruppe 0 - 59 Monate ein weltweites Monitoring erfährt. Diese Ziele gelten für alle Kinder, wobei Nachteile in Bezug auf körperliche und geistige Behinderungen besondere Berücksichtigung erfahren sollen. In den reichen Ländern des Nordens sind hierfür bereits seit Jahrzehnten spezifische Strukturen entstanden, die in der Regel als „Early Intervention Services“ bezeichnet werden, zum Teil auch breiter als Early Childhood Care and Education Programmes (Jervis et al. 2023). Inklusive Konzepte Die Entwicklung pränatal und im frühen Kindesalter ist dynamisch, und Risikofaktoren wirken auf unterschiedlichste Weise ein - sie können 210 FI 4/ 2023 Ute Thyen kumulieren, sich verstärken, in bestimmten Zeitfenstern wirken, in anderen nicht und sind hochgradig verbunden mit den Ressourcen der Familien und Nachbarschaften. Die Ursache für die vielfältigen Auswirkungen der Risiken liegt in den neurobiologischen Entwicklungen des zentralen Nervensystems als steuerndes Organ für alle körperlichen und mentalen (geistigen und seelischen) Prozesse - Funktionsstörungen auf der Ebene der Körperzellen oder -organe spielen hier ebenso eine Rolle wie Erfahrungen von Gewalt und Deprivation (Thyen et al. 2023). Dies gilt für sich alterstypisch wie auch altersuntypisch entwickelnde Kinder; weder besondere psychosoziale Risiken noch neurologisch/ körperliche Funktionsstörungen sind statisch - der Unterstützungsbedarf ist daher sehr variabel. Das Aufwachsen in Armut ist dabei der Risikofaktor, der den größten Effekt auf Entwicklungs- und Gesundheitschancen hat (BMAS 2021). Die Effekte von Armut auf das unreife, sich entwickelnde Gehirn werden durch Erziehungskompetenzen der Eltern, verarmte soziale Beziehungen in Nachbarschaften und wiederholte negative Kindheitserfahrungen vermittelt. Daher brauchen alle Kinder Zugang zu inklusiv arbeitenden Frühen Hilfen im Sinne des Nurturing Care Frameworks, aber auch zu spezialisierten Programmen bei besonderem Hilfe- und Förderbedarf (WHO 2018). Dies kann bei Kindern mit sehr hohem gesundheitlichen Versorgungsbedarf zu besonderen Herausforderungen für die Integration der Leistungen führen (Cassidy et al. 2023). In einer aktuellen international geführten Diskussion werden die Risiken eines universellen Systems versus eines am Unterstützungsbedarf orientierten Vorgehens bei (drohender) Behinderung abgewogen (Olusanya et al. 2023). Insbesondere in Ländern mit wenig Ressourcen bietet das Konzept nur scheinbar eine Inklusion der Kinder mit Behinderungen an, verwirklicht sie aber nicht. Die Autoren des Artikels empfehlen daher eine Priorisierung im Sinne der Früherkennung und des Angebots früher Förderung und Bildung für Kinder mit (drohender) Behinderung. Ob und wie diese Unterstützung im Arbeitsfeld der Frühen Hilfen realisiert und organisiert wird, ist in den einzelnen Systemen der verschiedenen Länder sehr unterschiedlich und in der Regel durch historische Entwicklungen geprägt. Wesentlich ist, dass die Anforderungen sowohl der UN-Konvention über die Rechte der Kinder wie auch der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen darin aufgehen und bestmöglich umgesetzt werden. Dies hat sich die Reform des Jugendhilferechts aktuell auf die Fahnen geschrieben, deren inklusive Lösung bis 2028 umgesetzt werden soll. Die Frühen Hilfen in der Kommune Die Organisation der verschiedenen Unterstützungsangebote für junge Kinder mit und ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen und Behinderungen erfolgt entlang von sozialrechtlichen Bereichen (Iseke und Thyen 2020). Dies bietet insgesamt ein reiches System von Angeboten, und eine Benachteiligung von bestimmten Gruppen von Kindern sollte weitgehend vermieden werden; die Systeme sind zwar aufeinander bezogen, aber durch unterschiedliche Sozialgesetzgebungen und Finanzierungen abgesichert. In der Abbildung 1 werden einerseits bestimmte Zielgruppen beschrieben, andererseits die Intensität der notwendigen Unterstützung zum Ausgleich von Nachteilen. Das Arbeitsfeld der Unterstützungsangebote in der Frühen Kindheit umfasst alle Gruppen und alle Interventionsformen. Nach dieser Systematik wenden sich Fachkräfte, die in den Kommunen Angebote der Frühen Hilfen machen, im Wesentlichen an Familien mit psychosozialen Belastungen, um bei Bedarf gezielte Angebote zur Förderung der Eltern-Kind-Interaktion, der Beratung von Eltern bei psychischen Belastungen oder Armut und mangelndem gesellschaftlichen Zugang zu machen (NZFH o. J.). Die Fachkräfte in der Interdisziplinären Frühförderung wenden sich an alle 211 FI 4/ 2023 Frühe Hilfen - ein Arbeitsfeld und ein Programm Familien, die ein Kind mit einer (drohenden) Behinderung haben, und machen bei Bedarf spezifische Angebote der Entwicklungsförderung. Dies sind nur zwei von zahlreichen Unterstützungsangeboten für Familien mit jungen Kindern; genannt seien auch die Mutter-Vater- Kind-„Kuren“, Rehabilitationsmaßnahmen für Kinder mit chronischen Gesundheitsstörungen und ihre Eltern, Angebote für psychisch oder körperlich kranke Eltern und ihre Kinder, Säuglings- und Kleinkindpsychotherapie, Angebote der Beratungsstellen für Migration, unabhängige Teilhabeberatung sowie die Angebote frühkindlicher Bildung in Kindertagesstätten und kommunalen Angeboten. Die Frühen Hilfen verwirklichen einen „Health-in-All-Policies“-Ansatz, indem sie einerseits Zugänge aus allen Bereichen ermöglichen und andererseits in der interdisziplinären Zusammenarbeit sogenannte Co- Benefits herstellen. Wichtigste Akteure in einem partizipativen Ansatz sind die Familien selbst, die die Angebote zu einem Nutzen verwandeln (Thyen 2023). Das Tätigkeitsfeld der Fachkräfte in den Frühen Hilfen Die Fachkräfte (überwiegend Familienhebammen, Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegende und Sozialpädagog: innen) arbeiten multiprofessionell und sind in lokalen Netzwerken mit anderen Hilfesystemen vernetzt (Renner und Scharmanski 2016). Dabei soll vor allem ein wirklich früher Zugang gelingen. Die wesentlichen Zugangswege sind die Schwangerenberatungsstellen, die Kooperationen mit Geburtskliniken, insbesondere durch die sich zunehmend etablierenden Lotsensysteme, und die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzten, die über die Frühen Hilfen aufklären und den Zugang erleichtern. Die Prinzipien der fachlichen Arbeit beinhalten Freiwilligkeit in der Annahme des Unterstützungsangebotes, Vertraulichkeit, Partizipation und Empowerment der Familien, einen saluto- Families of children with additional needs MEETING FAMILIES’ AND CHILDREN’S NEEDS Universal support Families and children at risk Targeted support Indicated support All caregivers and children POPULATION COVERAGE INTENSITY OF INTERVENTION Specialised services Additional contacts and benefits National policies, information and basic support Abb. 1: Darstellung des Konzeptes von„universal access“ und„specialized interventions“ im Nurturing Care Framework. Quelle open access: https: / / nurturing-care.org/ nurturing-care-framework-toolkit/ 212 FI 4/ 2023 Ute Thyen genetischen Ansatz und Ressourcenorientierung. Diese Ausgangspunkte werden mit allen anderen - auch spezialisierten - Hilfesystemen geteilt, beispielsweise der Schwangeren- und Erziehungsberatung, der freiwilligen Jugendhilfe, der Frühförderung und jeglicher psycho- und anderer therapeutischer Arbeit. Daher bestehen keine wesentlichen Barrieren in der fachlichen Zusammenarbeit und Verständigung in den Netzwerken der Frühen Hilfen in den Kommunen (NZFH 2014 Leitbild, NZFH 2014 Qualitätskriterien, NZFH 2016 Qualitätsrahmen). Übergänge zu weiteren Systemen Zwei spezifische Übergänge zu anderen Systemen sollen besonders erwähnt werden. Alle Fachkräfte sollen in der Lage sein, Gefährdungen des Kindeswohls, die sie mit ihrer Arbeit mit den Familien nicht abwenden können, entsprechend zu erkennen und Kooperationen mit den Jugendämtern im individuellen Fall zu suchen. Dies gilt eigentlich gleichermaßen für alle Fachkräfte und Institutionen, die mit Kindern arbeiten, im Rahmen des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (§ 4 KKG) bzw. als zivilgesellschaftliche Aufgabe. Allerdings haben die Fachkräfte der Frühen Hilfen hier eine besondere Expertise durch ihre Einbindung in das System der Jugendhilfe (Barth 2022). Eine weitere Nahtstelle, die gepflegt werden muss, ist der Übergang zur Interdisziplinären Frühförderung (Thyen und Simon 2020). Die im Vergleich zur Frühförderung sehr viel größere Zahl von Säuglingen und Kleinkindern in den Frühen Hilfen und das deutlich frühere Eintrittsalter macht es erforderlich, dass die Fachkräfte der Frühen Hilfen auf Entwicklungsstörungen achten und die Familien in die Angebote der Frühförderung vermitteln. Die Tatsache, dass ganz überwiegend Gesundheitsfachkräfte und insbesondere Familiengesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen sowie als Familienhebammen weitergebildete Hebammen hier tätig sind, erleichtert die Wahrnehmung dieser Aufgabe in den multiprofessionellen Teams der Frühen Hilfen in der Kommune. Wahrnehmung der Frühen Hilfen in der Öffentlichkeit Da es sich in den Frühen Hilfen um ein Arbeitsfeld handelt, das ein sehr breites Angebot von Hilfen vorhält, die den Bedarfen der Familien entsprechend gemacht oder mit ihnen entwickelt werden, gibt es keine „Marke“ Frühe Hilfen. Die Erfahrung zeigt, dass Familien benennen können, dass sie Unterstützung erhalten, z. B. ein Eltern-Café besuchen, eine Stillberatung oder eine videogestützte Interaktionsberatung in Anspruch nehmen, Begleitung durch eine Fachkraft zum Jugendamt, Gespräche über das schwierige Temperament des Säuglings usw., aber sie würden selten sagen: „Ich bin bei den Frühen Hilfen“. Dies unterscheidet das Tätigkeitsfeld von anderen, spezialisierteren Angeboten, insbesondere für solche, wo sozialgesetzlich ein Leistungsanspruch besteht, der genauer benannt und beschrieben werden kann. Frühe Hilfen sind kein System, in das die Familie aufgenommen wird, sondern eine Angebotsstruktur, wo sie sich selbst das für sie Passende aussucht. Die Angebote werden an vielen Orten noch erweitert durch ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, deren Arbeit durch die Fachkräfte begleitet wird. Zentral ist das Prinzip der Angemessenheit (Passgerechtigkeit) der Hilfen; in einem partizipativen Ansatz werden Familien gestärkt: was Familien brauchen, müssen sie selbst herausfinden; ihre Vorstellungen davon werden zum Teil von kulturellen und biografischen, oft transgenerationalen Erfahrungen, aber vor allem auch von ihren Aspirationen für ihre Kinder geprägt sein (Straßburger und Rieger 2023). 213 FI 4/ 2023 Frühe Hilfen - ein Arbeitsfeld und ein Programm Inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit Die Zusammenarbeit aller Hilfesysteme im Arbeitsfeld Frühe Kindheit verlangt einerseits Klarheit über Aufgaben, Kompetenzen und Grenzen der eigenen Fachlichkeit, andererseits aber auch die Befähigung zur transdisziplinären Zusammenarbeit. Kernstück dieser Zusammenarbeit ist die Auflösung eines starren Rollenverständnisses zugunsten der Übernahme von Aufgaben aus anderen Tätigkeitsfeldern, um eine Überlastung und Konfusion der Familie zu vermeiden. Diese betrifft insbesondere Familien mit besonders komplexen Problemlagen und speziellem Unterstützungsbedarf, oft auch im Hinblick auf mehrere Kinder in einer Familie. Transdisziplinäre Zusammenarbeit verlangt Vertrauen und persönliche Kontakte untereinander, Freude am Austausch und gemeinsamen Lernen, Klärung von Nähe und Distanz unter den Fachkräften und sehr gute Kommunikation und Dokumentation. Während die Zusammenarbeit innerhalb von multiprofessionellen Teams interdisziplinär im Rahmen der konkreten Alltagsarbeit und der Teamarbeit oft gut gelingt, müssen auch Teams eines Tätigkeitsfeldes mit Teams aus anderen Tätigkeitsfeldern in einen Austausch gelangen (King et al. 2009). Letztendlich geht es um einen integrierten Ansatz, der sich an den Bedarfen der Kinder und Familien orientiert und diese beteiligt (Neumann und Renner 2016, Cassidy et al. 2023). Governance Strukturen: Die Organisation der Frühen Hilfen in Deutschland Die Frühen Hilfen werden seit 2007 bundesweit in den Kommunen als niedrigschwellige Unterstützung für Familien ab der Schwangerschaft bis zum 3. Lebensjahr des Kindes angeboten; die Finanzierung erfolgt zu wechselnden Anteilen aus der Bundesstiftung Frühe Hilfen sowie Mitteln der Länder und der Kommunen. Zur Unterstützung des Arbeitsfeldes wurde das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) als bundeszentrales Informations-, Kompetenz- und Wissenszentrum vom BMFSFJ auf den Weg gebracht. Träger des NZFH ist die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Kooperation mit dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) (NZFH 2021). Das NZFH ist als Ressource für das Arbeitsfeld der Frühen Hilfen in Deutschland zu verstehen. Da es sich um Angebote der Kommunen unter länderrechtlicher Kompetenz handelt, besteht eine Governance-Aufgabe darin, die Bundesstiftung Frühe Hilfen in der qualitätsgesicherten und evidenzbasierten Verwendung der Mittel und entsprechende Weiterleitung an die Länder zu beraten und zu unterstützen. Auf die übrige Ausgestaltung hat das NZFH keinen direkten unmittelbaren Einfluss, aber sehr wohl einen mittelbaren durch die Bereitstellung exzellenter Materialien zur Qualitätsentwicklung in den Kommunen, Fortbildungsangebote, Zukunftswerkstätten und Vorschläge zu Aus- und Weiterbildung. Probleme im Tätigkeitsfeld der Frühen Hilfen und der Governance Im Arbeitsfeld der Frühen Hilfen spielt die Angst vor sozialer Stigmatisierung eine besonders große Rolle, insbesondere die Angst, keine guten Eltern zu sein und dafür von der Gesellschaft verurteilt zu werden (Staa und Renner 2020). Viele Eltern in diesen Lebenslagen verfügen bereits über Erfahrungen vielfältiger Diskriminierung und gesellschaftlicher Ächtung. Dies führt wiederum dazu, dass sie vor allem öffentlichen Institutionen, die ihnen Unterstützung anbieten, eher kritisch gegenüberstehen und Sorge haben, bevormundet und wenig wertschätzend behandelt zu werden (Geene et al. 2021, Hippmann et al. 2022). Um das Präventionsdilemma wirklich zu lösen, braucht es umfassende Maßnahmen auf allen Ebenen: die Makro-Ebene, die die Behebung von Armut- und Bildungsbenachteiligung adressiert; die 214 FI 4/ 2023 Ute Thyen Meso-Ebene, die die einzelnen Milieus, familiären Netzwerke, die soziale Unterstützung und das familiäre Wohnumfeld berücksichtigt, und die Mikro-Ebene, die die individuellen Kompetenzen und Einstellungen der einzelnen Familienmitglieder berücksichtigt. Das Arbeitsfeld Frühe Hilfen folgt daher dem Konzept „Health in all Policies“ sowohl in der individuellen Arbeit mit Familien, aber auch als konzeptuelle Ausrichtung. Der Ansatz bedeutet eine Reflexion der Verortung der eigenen Arbeit, der Wunsch nach Zusammenarbeit mit anderen Hilfesystemen und nach einem das Sozialgesetz überschreitenden Beratungsansatz sowie eine Anwaltschaft für die Priorisierung der Unterstützungswünsche der Familien selbst. Allerdings darf der Weitblick nicht zu einer Überforderung der Fachkräfte führen: nicht alle Anliegen müssen selbst aufgegriffen und bearbeitet werden, sondern es sollten Aktivitäten zur Zusammenarbeit mit anderen Hilfesystemen und kommunalen Angeboten vor Ort gestaltet werden. Problematisch kann eine Überforderung der Fachkräfte werden, wenn der Wunsch besteht, alle Hilfen aus einer Hand anbieten zu wollen. Durch die fachliche und koordinierte Zusammenarbeit der unterschiedlichen Akteure in den kommunalen Netzwerken Frühe Hilfen wird sichergestellt, dass passende Angebote für Familien in psychosozialen Belastungslagen zur Verfügung stehen. Diese Umsetzung Früher Hilfen auf örtlicher Ebene kann letztlich aber nur gelingen, wenn die Kommune ihre Steuerungsverantwortung wahrnimmt und ausfüllt. Hierzu muss die Grundidee der Frühen Hilfen konkret auf die lokalen Kontextbedingungen bezogen werden, um darüber ein eigenes Verständnis von Frühen Hilfen im Rahmen einer Kommunalpolitik im Sinne eines Health-in-all- Policies-Ansatzes auszufüllen. Denn die erfolgreiche Implementierung Früher Hilfen hängt maßgeblich von der Unterstützung der kommunalpolitischen Ebene und der damit verbundenen Ressourcenzuweisung ab (Fischer 2023). Zukünftige Perspektiven und Desiderate Die Frühen Hilfen in Deutschland sind ein sich dynamisch entwickelndes Arbeitsfeld, das sich konzeptionell ständig weiterentwickelt, den Bedarfen der Zielgruppe anpasst und wissenschaftliche Erkenntnisse aufnimmt. Beispielsweise steht die Frage im Raum, ob es notwendig ist, die kommunalen Präventionsketten über die Frühen Hilfen bis zum Grundschulalter auszuweiten. Auf der Agenda stehen zudem die systematische Ergänzung und der Ausbau der Netzwerke Frühe Hilfen um weitere wichtige Akteure der Frühen Kindheit. So sind die Kindertagesstätten und die Familienzentren ein wichtiger Partner in den Frühen Hilfen, da sie ebenfalls Eltern mit kleinen Kindern, beispielsweise in der U3-Betreuung, erreichen. Zum einen können Frühe Hilfen in ihrer Lotsenfunktion Familien in Belastungssituationen darin unterstützen, dass sie so früh wie möglich einen Kita-Platz für ihr Kind bekommen. Und zum anderen können Kitas Belastungen von Familien und deren Kindern erkennen, die dann wiederum im Netzwerk der Frühen Hilfen aufgefangen werden können mit dem Angebot passgenauer weiterer Hilfen. Damit Mütter und Väter mit ihren Kindern auch weiterhin passgenau unterstützt werden können, müssen ausreichend und gut qualifizierte Fachkräfte in den Netzwerken tätig sein. Dies gilt beispielsweise für die Familienhebammen und Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegenden, die Familien direkt im häuslichen Umfeld begleiten und beraten. In diesem Bereich ergeben sich große Herausforderungen durch die Veränderungen in den grundständigen Ausbildungen der Gesundheitsfachkräfte und auch angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels. Hier steht das Arbeitsfeld der Frühen Hilfen in Konkurrenz mit anderen Handlungsfeldern. Neben einer guten fachlichen Begleitung ist es daher maßgeblich, einem Mangel an Fachkräften in der ambulanten Ge- 215 FI 4/ 2023 Frühe Hilfen - ein Arbeitsfeld und ein Programm sundheitsversorgung entgegenzuwirken. Nur so wird das sinnvolle und wirksame Angebot durch die aufsuchenden Gesundheitsfachkräfte auch auf Dauer in den Frühen Hilfen in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen. Danksagung Ich danke den Kolleginnen und Kollegen des NZFH für die Informationen, Literaturhinweise und engagierte Diskussion über die Inhalte dieses Beitrages. Besonderer Dank geht an Mechthild Paul, Jörg Backes und Ilona Renner. Prof. Dr. Ute Thyen Universität zu Lübeck Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Ratzeburger Allee 160 23538 Lübeck E-Mail: Ute.thyen@gmail.com Literatur Barth, M. (2022): Gewichtige Anhaltspunkte für Kindeswohlgefährdung in der frühen Kindheit aus medizinischer und psychosozialer Perspektive. Expertise. Beiträge zur Qualitätsentwicklung im Kinderschutz 10. 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