eJournals Frühförderung interdisziplinär 43/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2024.art11d
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Rezension: Rüdiger Kißgen, Kathrin Sevecke (Hrsg.): Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten in den ersten Lebensjahren

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Lothar Unzner
Eine frühe Erkennung von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Problemen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern ist von zentraler Bedeutung, wenn langfristige Schäden und Chronifizierung vermieden werden sollen. Sie sind erstaunlich häufig mit einer Prävalenz von 14–26 Prozent. Zu einem verstärkten Interesse trug die Herausgabe des Klassifikationsschemas DC:0–5 (Klassifikationssystem zur Diagnose von psychischen Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern, Zero to Three) im Jahre 2016 bei.
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108 FI 2/ 2024 Rezensionen Es ist zu beachten, dass die Inhalte zum Großteil aus der persönlichen Erfahrung und Bewertung der Autorin dargestellt sind, auf was diese jedoch auch im Vorwort hinweist. Stellenweise bleibt die Darstellung der Themen daher etwas einseitig (z. B. bzgl. der (Un-)fähigkeit Sprache zu lernen) und undifferenziert (z. B. hinsichtlich der unkritischen Empfehlung von Süßigkeiten als Belohnung oder der Verwendung von Tokenplänen, die auch mit Formen der „Bestrafung“ arbeiten) und trifft wohl nur auf einen Teil des autistischen Spektrums (mit stärker ausgeprägter Symptomatik) zu. Die sprachliche Formulierung entspricht zudem an einigen Stellen nicht den heutigen Standards, beispielsweise wenn von „behinderten Menschen“ statt von Menschen mit Behinderung gesprochen wird. Für pädagogisches Fachpersonal bleibt das Buch an vielen Stellen wohl zu allgemein und subjektiv, um professionell und evidenzbasiert arbeiten zu können. Eltern, die Anregungen und Denkanstöße für die alltägliche Begleitung autistischer Kinder und Jugendlicher suchen, sind aber sicherlich gut mit diesem Buch beraten. Dr. Marina Kammermeier & Victoria Lang DOI 10.2378/ fi2024.art10d Rüdiger Kißgen, Kathrin Sevecke (Hrsg.) Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten in den ersten Lebensjahren Lehrbuch zu Grundlagen, Klinik und Therapie Hogrefe 2023, 400 S., € 69,95 Eine frühe Erkennung von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Problemen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern ist von zentraler Bedeutung, wenn langfristige Schäden und Chronifizierung vermieden werden sollen. Sie sind erstaunlich häufig mit einer Prävalenz von 14 - 26 Prozent. Zu einem verstärkten Interesse trug die Herausgabe des Klassifikationsschemas DC: 0 - 5 (Klassifikationssystem zur Diagnose von psychischen Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern, Zero to Three) im Jahre 2016 bei. Im Teil 1 des Lehrbuches wird die normale kindliche Entwicklung dargestellt. Obwohl die Kapitelüberschrift „pränatale Entwicklung und Geburt“ lautet, wird die Entwicklung der ersten sechs Lebensjahre behandelt (Gehirn, Sinne, Motorik, Sprache, sozial-emotionale Entwicklung, Kognition, Ich-Entwicklung und Selbstständigkeit). Es findet sich auch ein Unterkapitel zu Entwicklungstests. Das Kapitel enthält eine umfassende tabellarische Darstellung dieser Bereiche entlang einer Lebensaltersskala. Es folgt eine kurze Besprechung der psychosexuellen Entwicklung und Konzepten der Diversität. Im Teil 2 werden die Klassifikationssysteme psychischer Störungen besprochen, kurz ICD-10 und DSM-5, ausführlich DC: 0 - 5 mit seinen 5 Achsen. An dieser Stelle hätte ich mir im Rahmen eines biopsychosozialen Modells auch eine kurze Darstellung der ICF gewünscht. Im dritten (Haupt-)Teil des Buches werden klinische Störungen nach Achse 1 DC: 0 - 5 nach einem einheitlichen Schema besprochen: Definition und Klassifikation, Epidemiologie, Symptomentwicklung und Komorbidität, Ätiologie und Pathogenese, Diagnose und Differenzialdiagnostik, Behandlung und Prävention, Verlauf und Prognose, Forschungsdesiderate und Ausblick. Es beginnt mit Autismus-Spektrum-Störungen. Es werden neuere Erkenntnisse der Gehirnentwicklung berichtet. Besondere Bedeutung wird der Früherkennung und der Diagnostik zugesprochen. Die Translation wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis sei noch nicht gelungen, der 109 FI 2/ 2024 Rezensionen Abstand sei groß und es gäbe bisher keine befriedigende direkte Umsetzung. Herausgestellt wird die hohe Vulnerabilität von Geschwisterkindern. In diesem Zusammenhang ist das Kapitel zur Frühen Atypischen Autismus-Spektrum-Störung sehr interessant für die Frühförderung; wichtig wie auch für die Hochrisikogruppe der Geschwisterkinder sei eine frühzeitige Intervention. Hilfreich ist, dass Früherkennungsindikatoren in einer Tabelle zusammengefasst werden. Im nächsten Kapitel wird die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung behandelt. Obwohl in den Klassifikationssystemen die Diagnose erst in einem höheren Alter (z. B. ab 12 Jahren) gegeben werden soll, sei es legitim und sinnvoll, die Diagnose auch in der frühen Kindheit zu erwägen, wenn die entsprechenden Symptome vorliegen, damit die Kinder und die Familien früh notwendige Hilfen und Unterstützung erhalten können, Bei sicherer Diagnose könne Pharmakotherapie ergänzend notwendig sein. Dies erfordere aber eine engmaschige Kontrolle, da sie weniger wirksam sei und mehr Nebenwirkungen habe als bei Schulkindern. Neu eingeführt in DC: 0 - 5 ist die Überaktivitätsstörung im Kleinkindalter. Ein schwieriger Begriff ist die Globale Entwicklungsverzögerung, da er oft auch unrealistische Erwartungen bei Eltern wecken kann. Eine große Verantwortung kommt den diagnostizierenden Personen zu. Die Abweichungen in Motorik, Sprache und Kognition sollten nach dem Grenzsteinkonzept bewertet werden. In der Behandlung sind im Rahmen eines biopsychosozialen Modells die Grundsätze der Familienorientierung in der Frühförderung von besonderer Bedeutung. Hier könnte die interdisziplinäre Frühförderung im Rahmen der Komplexleistung ein Ansprechpartner für Eltern sein. Störungen der Sprachentwicklung zählen zu den häufigsten Problemen der Entwicklung von Kindern im Vorschulalter. Auch hier ist frühzeitige Identifikation wichtig. Im Weiteren werden die entwicklungsbezogene Koordinationsstörung (Fein- und Grobmotorik) und sensorische Verarbeitungsstörungen besprochen. Bei den Angststörungen werden Trennungsangst, soziale Angststörung, generalisierte Angststörung und andere Angststörungen in der frühen Kindheit unterschieden. Darüber hinaus werden auch der selektive Mutismus (als schwere Angststörung) und die Störung der Inhibition gegenüber Neuem behandelt. Zu den affektiven Störungen gehört die depressive Störung in der frühen Kindheit, die lange nicht berücksichtigt wurde und auf die auch die Frühförderung ein Augenmerk haben sollte. Eine neue, aber bedeutsame Klassifikation ist die dysregulierte Ärger- und Aggressionsstörung, für die es noch wenige gesicherte Aussagen zu längerfristigen Therapieerfolgen und Prognosen gibt. Im Kapitel zu Zwangsstörungen werden auch die Tourette-Störung, motorische oder Vokale Tic- Störungen, Trichotillomanie, pathologisches Hautzupfen und andere verwandte Störungen besprochen. Die nächsten Kapitel haben wieder für die Frühförderung sehr relevante Störungen zum Thema, Schlaf-, Ess- und Schreistörungen. Zu all diesen Bereichen wird einleitend jeweils die normale Entwicklung bei Schlafen, Essen und Schreien vorangestellt. Bei den Schlafstörungen werden Einschlaf- und Durchschlafstörungen sowie partielle Aufwachstörungen und Albträume unterschieden, bei den Essstörungen solche mit Überessen und solche mit Einschränkungen der Nahrungsaufnahme. Umfassend werden Trauma-, Belastungs- und Deprivationsstörungen (posttraumatische Belastungsstörung, Anpassungsstörung, komplizierte Trauerstörung, reaktive Bindungsstörung, soziale Bindungsstörung mit Enthemmung) besprochen. Davon unterschieden wird die spezifische Bindungsstörung, die spezifisch nur auf eine Person bezogen ist. Hilfreich ist es, dass zu jedem Störungsbild die diagnostischen Kriterien (Algorithmen) nach DC: 0 - 5 110 FI 2/ 2024 Rezensionen in Tabellenform präsentiert werden, wobei auch die notwenige Dauer und das spezifische Alter angegeben ist. Zudem wird jeweils kurz die entsprechende (oder fehlende) Erfassung in ICD-10 und DSM-5 angesprochen. Wichtig ist in allen Störungsbildern eine umfassende und differenzierte Anamnese, die Erfahrung der diagnostizierenden Person u. a. bei Verhaltensbeobachtungen und in der Behandlung Einbeziehung und Psychoedukation der Eltern. Wichtig ist auch die Koordinierung der jeweiligen Hilfen. Für die in diesem Buch erfasste Altersgruppe kommt u. a. der interdisziplinären Frühförderung eine wichtige Rolle zu. Obwohl das Wissen zur Erkennung und Behandlung zwar rasant zugenommen hat, bestehen trotzdem noch viele Lücken. Der Forschungsbedarf in dieser Altersgruppe wird differenziert herausgearbeitet. Es braucht in vielen Fällen eine breitere Wissenslage (besonders auch Langzeitstudien) für Früherkennung, Diagnostik, Präventions- und Interventionsangebote. Dafür müssen die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Ebenso braucht es für die Therapien der Kinder und die Hilfen für die Eltern ausreichende Ressourcen. Dies wird erfreulicherweise immer wieder deutlich angesprochen. Insgesamt ist es Rüdiger Kißgen und Kathrin Sevecke zusammen mit 19 weiteren Autorinnen und Autoren gelungen, ein - auch für die interdisziplinäre Frühförderung - sehr praxisrelevantes Lehrbuch vorzulegen. Lothar Unzner DOI 10.2378/ fi2024.art11d VORSCHAU n Von der bimodal-bilingualen Sprachförderung zur bimodal-bilingualen Sprachtherapie - eine bezugswissenschaftliche Grundlegung n Vorlesepraktiken von Eltern tauber und schwerhöriger Kinder