eJournals Frühförderung interdisziplinär 43/3

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2024.art15d
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Aus der Praxis: Bimodal-bilinguale Förderung im Förderschulkindergarten "Gronewaldzwerge"

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Annika Dankers
Katinka Trauth
Der Förderschulkindergarten „Gronewaldzwerge“ entstand aus der im Jahre 1831 gegründeten heutigen LVR-Johann-Joseph-Gronewald-Schule in Köln und ist auch heute noch Teil der Schule. Seit 2017 gilt der Kindergarten offiziell als bimodal-bilingualer Kindergarten, in dem die Deutsche Gebärdensprache (DGS) und Deutsch gleichwertig genutzt und gefördert werden. Bevor das bimodal-bilinguale Konzept des Kindergartens vorgestellt und die Besonderheiten der Förderung beleuchtet werden, folgt eine kurze Beschreibung der Kinder, die den Förderkindergarten besuchen, die Gronewaldzwerge.
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Frühförderung interdisziplinär, 43.-Jg., S.-162 - 165 (2024) DOI 10.2378/ fi2024.art15d © Ernst Reinhardt Verlag 162 AUS DER PRAXIS Bimodal-bilinguale Förderung im Förderschulkindergarten „Gronewaldzwerge“ Annika Dankers und Katinka Trauth Der Förderschulkindergarten „Gronewaldzwerge“ entstand aus der im Jahre 1831 gegründeten heutigen LVR-Johann-Joseph-Gronewald-Schule in Köln und ist auch heute noch Teil der Schule. Seit 2017 gilt der Kindergarten offiziell als bimodal-bilingualer Kindergarten, in dem die Deutsche Gebärdensprache (DGS) und Deutsch gleichwertig genutzt und gefördert werden. Bevor das bimodal-bilinguale Konzept des Kindergartens vorgestellt und die Besonderheiten der Förderung beleuchtet werden, folgt eine kurze Beschreibung der Kinder, die den Förderkindergarten besuchen, die Gronewaldzwerge. Die Gronewaldzwerge Die Aufnahme in den Förderschulkindergarten kann erfolgen, wenn eine Hörbeeinträchtigung diagnostiziert wurde oder eine Kommunikationsbeeinträchtigung vorliegt, die eine gebärdensprachliche Förderung erforderlich macht. Eine Feststellung des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs gemäß § 13 AO-SF erfolgt erst zur Einschulung. Die Gronewaldzwerge werden derzeit von 35 Kindern im Alter von zwei bis sieben Jahren in vier Gruppen besucht. Betreut werden die Kinder von 13 hörenden, DGS kompetenten Lehrkräften und einer tauben Lehrkraft. Die unter dreijährigen Kinder starten in einer „Willkommensgruppe“, in der die Abläufe für jüngere Kinder angepasst sind, z. B. stärkere Individualisierung in Spiel- und Lernsituationen, kürzere Angebote für die gesamte Gruppe. Ab etwa drei Jahren wechseln die Kinder in die Stammgruppen, die in einem teiloffenen Konzept zusammenarbeiten. Alle Kinder sind in der Regel schwerhörig oder taub. Die Kinder bringen heterogene Lernvoraussetzungen mit. Diese sind u. a. auf das Alter, den Zeitpunkt des Eintritts in den Kindergarten und weitere potenzielle Beeinträchtigungen zurückzuführen. Die hörtechnische Versorgung der Kinder ist vielfältig: Sie tragen Hörgeräte, Cochlea Implantate, weisen eine kombinierte Versorgung auf oder nutzen keine Hörhilfen. Die meisten Kinder wachsen in einem lautsprachlichen Umfeld mit hörenden Eltern und/ oder Geschwistern auf. Obwohl die Kinder heute meist früh hörtechnisch versorgt werden, kann der Zugang zu einer Sprache erschwert und/ oder verzögert erfolgen. Nur wenige Kinder haben taube oder schwerhörige Eltern, die ihren Kindern von Anfang an einen barrierefreien Zugang zur DGS bieten können (Urbann und Kaul 2023 b). Wie das bimodal-bilinguale Konzept der Gronewaldzwerge gestaltet ist, wird im folgenden Abschnitt beschrieben. Zum Hintergrund des bimodal-bilingualen Konzepts Um ein für alle Kinder sprachlich und inhaltlich passendes Sprachbildungsangebot zu schaffen, wurde ein bimodal-bilinguales Konzept entwickelt. Bimodal-bilinguale Zweisprachigkeit beschreibt die alltägliche Nutzung von Laut- und Gebärdensprachen, wobei zwei Sprachen in unterschiedlichen Modalitäten produziert werden - Gebärdensprachen visuell und Lautsprachen akustisch. Kinder, die zwei oder mehr Spra- 163 FI 3/ 2024 Aus der Praxis chen erlernen, können diese vielseitig im Alltag einsetzen. Individuelle Unterschiede zeigen sich in den Kompetenzen, Präferenzen und Kontexten, in denen Sprachen verwendet werden. Bimodal-bilinguale Bildung zielt darauf ab, Kinder darauf vorzubereiten, ein mehrsprachiges Leben führen und in verschiedenen Sprachen und Kommunikationsformen flexibel kommunizieren zu können. In Anlehnung an das Konzept des Translanguaging (García 2009) werden im bimodal-bilingualen Konzept der Gronewaldzwerge die individuellen Unterschiede der Kinder berücksichtigt und als Ressource betrachtet, indem die Lehrkräfte und Kinder ihr gesamtes sprachliches Repertoire in verschiedenen Modalitäten (gebärden, sprechen, zuschauen, zuhören) anwenden und sich an unterschiedliche Kommunikationspartner: innen anpassen, um gemeinsam zu lernen. Durch das offene bimodal-bilinguale Angebot werden verschiedene Sprachen und Kommunikationsformen zugänglich (Becker et al. 2017). Formen der bimodal-bilingualen Bildung im schulischen Bereich werden von Krausneker et al. (2017) beschrieben, darunter z. B. das Modell „zwei Lehrkräfte - zwei Sprachen“ im Sinne eines Teamteachings von tauben und hörenden Lehrkräften. Die schulischen Formen bimodalbilingualer Bildung lassen sich jedoch nicht eins zu eins auf Kindergärten übertragen, da dort Bildungsangebote individueller umgesetzt werden als in der Schule mit festen Unterrichtsstunden und vorstrukturierten Sozialformen. Im Gegensatz zur Schule wurden bislang Formen der bimodal-bilingualen Bildung für Kindergärten noch nicht genauer beschrieben. Unabhängig davon, welche Form der bimodal-bilingualen Bildung gewählt und umgesetzt wird, steht diese u. a. in einem engen Zusammenhang mit der Förderung der Identität der Kinder und setzt diese ein entsprechendes sprachliches Input durch die Lehrkräfte voraus. Wie das bimodalbilinguale Konzept bei den Gronewaldzwergen realisiert wird, wird im folgenden Abschnitt beschrieben. Die Umsetzung des bimodal-bilingualen Konzepts Zur Umsetzung eines bimodal-bilingualen Konzepts stellt die Beschäftigung von gebärdensprachlich kompetenten Lehrkräften eine wichtige Voraussetzung dar. Entsprechend sind bei den Gronewaldzwergen in allen Stammgruppen mindestens zwei Lehrpersonen über den gesamten Kindergartentag anwesend, die nach Möglichkeit sowohl in der Lautals auch Gebärdensprache kommunizieren können. Die Umsetzung des bimodal-bilingualen Konzepts fußt auf einer wertschätzenden Haltung gegenüber beiden Sprachen (Becker und Jaeger 2019), um vielfältige Zugänge zur Sprache und zum Verstehen zu ermöglichen. Mit dieser Haltung geht einher, dass Kinder zwar angeregt werden, beide Sprachen auszuprobieren und zu nutzen, jedoch immer selbst wählen, in welcher Sprache sie mit wem in welcher Situation kommunizieren möchten. Die wertschätzende Haltung gegenüber beiden Sprachen wird u. a. daran erkennbar, dass soweit möglich in allen Situationen und in allen Räumen beide Sprachen durchgängig sicht- und hörbar sind. Ergänzt wird die Gebärden- und Lautsprache durch die Schriftsprache und Gebärdenbilder. Alle Räume, z. B. Gruppenräume, Forscherraum, Atelier oder Sporthalle sind mit Piktogrammen, Schrift und einem Gebärdenbild markiert. Auch Lernspiele und der Kalender werden durch Schrift und Gebärdenbilder visualisiert. Die Trennung beider Sprachen erfolgt in vorstrukturierten Gruppenphasen, in denen bestimmte Situationen einer Sprache zugeordnet werden (Bachmann 2017). Es kann bspw. der Begrüßungsspruch im Morgenkreis immer in DGS gebärdet werden. Im Morgenkreis werden auch Lieder gesungen, was bei den Kindern auf große Begeisterung stößt. Die Kinder nutzen je nach individuellen Kompetenzen und Vorlieben ihre Stimme oder Hände oder beides parallel oder abwechselnd. Der flexible Umgang der Lehrkräfte mit DGS und Deutsch während der Begleitung von Alltags-, Spiel- und Lernsituationen zeigt sich konkret, 164 FI 3/ 2024 wenn eine Lehrkraft ein Kind in DGS anspricht und ein anderes in Lautsprache. Eine andere Möglichkeit ist der Einsatz der sogenannten Sandwich- Technik (Butzkamm 2002) - eine Lehrkraft adressiert ein Kind zunächst in DGS, dann wiederholt die Lehrkraft den Inhalt in Lautsprache und bietet die Aussage anschließend erneut in DGS an. Die sprachliche Flexibilität der Lehrkräfte wird insbesondere in freien Spielsituationen gefordert, da sie diese meistens allein begleiten. Ihre Aufgabe besteht darin, die Handlungen eines Kindes zu versprachlichen oder (sprachliche) Interaktionen zwischen mehreren Kindern mit unterschiedlichen Erstsprachen und/ oder voneinander abweichenden Sprachniveaus sprachlich zu unterstützen, um so das gemeinsame Spiel zu ermöglichen. Da die Kinder überwiegend in selbstgewählten Sozial- und Organisationsformen spielen und lernen und dadurch die Gruppengröße kontinuierlich variiert, ist es auch bei idealer personeller Besetzung nicht möglich, alle offenen Spiel- und Lernsituationen durchgehend mit zwei Lehrpersonen im Sinne des Teamteachings zu begleiten. Hörende Kolleg: innen setzen im Kindergartenalltag adressatenbezogen lautsprachunterstützende Gebärden (LUG) ein, die die sinntragenden Inhaltswörter eines Satzes mit aus der DGS entliehenen Gebärden abbilden. Durch die Selektion bestimmter Schlüsselwörter ermöglicht der Einsatz von LUG, die natürliche Sprechgeschwindigkeit beizubehalten. Allerdings setzt der sinnvolle Einsatz von LUG eine gewisse Hörfähigkeit und ein Lautsprachverständnis voraus, da die einzelnen Gebärden lediglich das Verständnis von Schlüsselwörtern innerhalb einer Kommunikation unterstützen können (Hänel-Faulhaber 2018). Zudem besteht beim Einsatz von LUG mit tauben Kindern, die keine Lautsprache wahrnehmen und verstehen, das Risiko, dass die als wichtig gewertete klare Trennung zwischen beiden Sprachen insbesondere in der frühen Erwerbsphase nicht mehr gewährleistet wird und es dadurch zu sprachlichen Vermischungen kommen kann (Becker und Jaeger 2019). Daher sollte LUG nur als Ergänzung zur DGS genutzt werden und nicht als Ersatz dieser. In der Praxis ist zu beobachten, dass insbesondere jüngere Kinder ihre bevorzugte Sprache unabhängig von der bevorzugten Sprache ihres Gegenübers verwenden. So kommt es vor, dass ein lautsprachlich kommunizierendes Kind ein taubes Kind anspricht. Erst mit zunehmendem Alter und größerer Spracherfahrung wächst die metasprachliche Bewusstheit und es gelingt den Kindern, zwischen den beiden Sprachen zu unterscheiden und ihre Sprachmodalität der des Gegenübers anzupassen. Zur vollständigen Umsetzung eines bimodal-bilingualen Konzeptes ist es neben der sprachlichen Förderung im Kindergarten eine wichtige Aufgabe, die Kultur tauber Menschen kindgerecht zu vermitteln und so einen Beitrag zur Identitätsförderung der Kinder zu leisten. Durch den Einsatz von tauben Lehrkräften fließen kulturelle Aspekte beiläufig in den Kindergartenalltag ein. Beispiele hierfür sind das Herstellen von Aufmerksamkeit, die Vermittlung besonderer Kommunikationsstrategien oder der Einblick in die Kunst und Kultur der Taubengemeinschaft. Zukunftsaussichten Durch die Umsetzung des bimodal-bilingualen Konzepts entsteht eine „Dynamik der Mehrsprachigkeit“ (Urbann und Kaul 2023 a, 243), in welcher Kinder bereits im Kindergarten lernen, sich flexibel an Kommunikationssituationen bzw. Kommunikationspartner: innen anzupassen, „um möglichst effektiv zu kommunizieren und zu lernen - auch über die [Kindergartenund] Schulzeit hinaus“ (siehe ebenda). Dies setzt voraus, dass bimodal-bilinguale Konzepte in der Schule fortgeführt werden. Durch die räumliche Nähe zur Schule sind die Bedingungen bei den Gronewaldzwergen diesbezüglich optimal. Hinsichtlich der personellen Ressourcen wäre eine paritätische Besetzung aus tauben und hörenden Pädagog: innen und Lehrkräften mit hoher DGS-Kompetenz wünschenswert. Dies ist mit der momentanen Personalstruktur nicht Aus der Praxis 165 FI 3/ 2024 gegeben. Ebenso sollten verstärkt Begegnungen mit tauben und schwerhörigen Erwachsenen außerhalb des Kindergartens ermöglicht werden - bspw. durch Kooperationen mit externen Partner: innen wie dem Gehörlosensportverein. Diese Kooperationen würden das Angebotsspektrum des Förderschulkindergartens in Richtung eines spezialisierten Beratungszentrums ähnlich den wohnortnahen Familienzentren lenken und somit dem erhöhten Beratungs- und Begleitungsbedarf vieler Familien entgegenkommen. Denkbar wäre eventuell auch eine Erweiterung in Richtung der sogenannten „umgekehrten Inklusion“, also der Aufnahme hörender Kinder in den Förderschulkindergarten. Ein exklusives System wie das des Förderschulkindergartens bringt Nachteile mit sich: Durch die kleinen Gruppen fehlt es einzelnen Kindern immer wieder an passenden Spiel- und Kommunikationspartner: innen. Für Kinder aus gebärdensprachlich kommunizierenden Familien ist das Sprach- und Wissensniveau der anderen Kinder zum Teil nicht ausreichend, während eher lautsprachlich kommunizierenden Kindern hörende Kinder als Sprachvorbild in der Lautsprache fehlen. Durch die Öffnung eines Förderschulkindergartens auch für hörende Kinder und hörende Kinder tauber Eltern (sog. CODA - children of deaf adults) könnte eine Erweiterung des sprachlichen Inputs in beiden Sprachen und ein breiteres Anregungsspektrum unter den Kindern erreicht werden (Goppelt-Kunkel et al. 2022). Literatur Bachmann, P. (2017): Bilinguales Konzept für die Arbeit an der bilingualen Oberstufe der Sek 3. In: https: / / www.sek3.ch/ wp-content/ uploads/ 2017/ 06/ BILINGUALES-METHODIK-KONZEPT_170618.pdf, 8.11. 2023 Becker, C., Audeoud, M., Krausneker, V., Tarcsiová, D. (2017): Bimodal-bilinguale Bildung für Kinder mit Hörbehinderung in Europa. Teil I: Erhebung des Ists-Stands. Das ZEICHEN 105, 60 - 72 Becker, C., Jaeger, H. (2019): Deutsche Gebärdensprache. Mehrsprachigkeit mit Laut- und Gebärdensprache. Narr Francke Attempto, Tübingen Butzkamm, W. (2002): Psycholinguistik des Fremdsprachenunterrichts. Von der Muttersprache zur Fremdsprache. Francke, Tübingen, http: / / dx.doi. org/ 10.1515/ infodaf-1989-165-612 García, O. (2009): Bilingual Education in the 21st Century: A Global Perspective. Basil/ Blackwell, Malden, MA, Oxford Goppelt-Kunkel, M., Wienholz, A., Hänel-Faulhaber, B. (2022): Sign learning and its use in a co-enrollment kindergarten setting. Frontiers in Psychology 13, 920497, http: / / dx.doi.org/ 10.3389/ fpsyg.2022.920497 Hänel-Faulhaber, B. (2018): Gebärdensprache, lautsprachunterstützende Gebärden und Bildkarten. Inklusive sprachliche Bildung in Kindertageseinrichtungen unter Berücksichtigung alternativer Kommunikationssysteme. Deutsches Jugendinstitut e.V. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, München Krausneker, V., Becker, C., Audeoud, M., Tarcsiová, D. (2017): Bimodal-bilinguale Bildung für Kinder mit Hörbehinderung in Europa - Teil II: Good-Practice- Beispiele. Das Zeichen 106, 262 - 277 Urbann, K., Kaul, T. (2023 a): Bimodal-bilingualer Unterricht. In: Leonhardt, A., Kaul, T. (Hrsg.): Grundbegriffe der Hörgeschädigtenpädagogik. Ein Handbuch. Kohlhammer, Stuttgart, 242 - 245 Urbann, K., Kaul, T. (2023 b): Gebärdenspracherwerb. In: Leonhardt, A., Kaul, T. (Hrsg.): Grundbegriffe der Hörgeschädigtenpädagogik. Ein Handbuch. Kohlhammer, Stuttgart, 167 - 169 Annika Dankers Koordinatorin Kindergarten Gronewaldzwerge Bimodal-bilingualer Kindergarten der LVR-Johann-Joseph-Gronewald-Schule Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation Biggestr. 1- 5 50931 Köln E-Mail: annika.dankers@gronewaldschule.de Katinka Trauth Kindergarten Gronewaldzwerge Bimodal-bilingualer Kindergarten der LVR-Johann-Joseph-Gronewald-Schule Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation Biggestr. 1- 5 50931 Köln E-Mail: katinka.trauth@gronewaldschule.de Aus der Praxis