Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2024.art16d
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2024
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Tests und Screenings: Dynamisches Testen zur Förderung der Sprach- und Kommunikationsfähigkeit tauber, gebärdender Kinder
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2024
Wolfgang Mann
Tobias Haug
Joanna Hoskin
Hilary Dumbrill
Die unterschiedlichen Bedürfnisse der heterogenen Gruppe tauber Kinder in der Frühförderung stellen Frühförder:innen und Forscher:innen gleichermaßen vor eine Herausforderung, insbesondere wenn es um die Überprüfung bzw. das Testen von gebärdensprachlichen Kompetenzen geht. Zwar hat es auf diesem Gebiet Fortschritte gegeben in Form von standardisierten Tests, die für taube, gebärdende Kinder entwickelt wurden, dennoch gibt es auch bei Gebärdensprachtests Einschränkungen insofern, dass diese Informationen über das Lernergebnis eines Kindes, aber nicht über den Lernprozess liefern. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Dynamischen Testen (Dynamic Assessment), einem diagnostischen Ansatz, bei dem Testen und Fördern verbunden werden als Teil des diagnostischen Prozesses. Dynamisches Testen ist ein relativ neuer Bereich innerhalb der (sonder-)pädagogischen Forschung in Deutschland sowie in der Sprachtestforschung generell. In diesem Beitrag soll das Potenzial Dynamischen Testens für taube, gebärdende Kinder in der Frühförderung beleuchtet sowie der Forschungsstand zu diesem Thema dargestellt werden.
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166 Frühförderung interdisziplinär, 43.-Jg., S.-166 - 173 (2024) DOI 10.2378/ fi2024.art16d © Ernst Reinhardt Verlag Dynamisches Testen zur Förderung der Sprach- und Kommunikationsfähigkeit tauber, gebärdender Kinder Wolfgang Mann, Tobias Haug, Joanna Hoskin, Hilary Dumbrill TESTS UND SCREENINGS Die unterschiedlichen Bedürfnisse der heterogenen Gruppe tauber Kinder in der Frühförderung stellen Frühförder: innen und Forscher: innen gleichermaßen vor eine Herausforderung, insbesondere wenn es um die Überprüfung bzw. das Testen von gebärdensprachlichen Kompetenzen geht. Zwar hat es auf diesem Gebiet Fortschritte gegeben in Form von standardisierten Tests, die für taube, gebärdende Kinder entwickelt wurden, dennoch gibt es auch bei Gebärdensprachtests Einschränkungen insofern, dass diese Informationen über das Lernergebnis eines Kindes, aber nicht über den Lernprozess liefern. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Dynamischen Testen (Dynamic Assessment), einem diagnostischen Ansatz, bei dem Testen und Fördern verbunden werden als Teil des diagnostischen Prozesses. Dynamisches Testen ist ein relativ neuer Bereich innerhalb der (sonder-)pädagogischen Forschung in Deutschland sowie in der Sprachtestforschung generell. In diesem Beitrag soll das Potenzial Dynamischen Testens für taube, gebärdende Kinder in der Frühförderung beleuchtet sowie der Forschungsstand zu diesem Thema dargestellt werden. Welche Herausforderungen gibt es bei der Entwicklung und Anwendung von Gebärdensprachtests bei tauben Kindern? Weltweit gibt es nur eine geringe Anzahl an Sprachtests, die speziell für taube Kinder mit Gebärdensprachen als primärer Form der Kommunikation konzipiert wurden. Für die Deutsche Gebärdensprache (DGS) gibt es mittlerweile verschiedene Tests, die aber noch nicht alle für die Praxis verfügbar sind (s. zur Übersicht Haug et al. 2023). Für Kinder im Vorschulalter gibt es zurzeit nur einen verfügbaren Test: den Test zur Überprüfung der narrativen Kompetenz in Deutscher Gebärdensprache für taube Kinder im Alter von vier bis elf Jahre (NaKom DGS; Kolbe und Becker 2023, siehe https: / / nakom.hu-berlin.de/ de). Andere Tests sind der DGS-SRT-Kids - ein Satzwiederholungstest für taube Kinder im Alter von vier bis 13 Jahren (Wienholz et al., in Vorbereitung) oder der DGS-Verständnistest (eine Adaption des britischen BSL-Receptive Skills Test von Herman, Holmes und Woll 1999), der rezeptive Fähigkeiten bei tauben Kindern im Alter von drei bis elf Jahren testet (Haug 2011). Ebenfalls in Bearbeitung ist das Communicative Development Inventory (CDI-DGS) - ein Online-Elternfragebogen zur Erfassung des frühen Wortschatzes von Kindern bis zu einem Alter von drei Jahren (s. Haug et al. 2023). Genauere Informationen können über die Entwickler: innen der jeweiligen Tests eingeholt werden (siehe Haug et al. 2023). Personen, die im (vor-)schulischen (z. B. Frühförder: innen, Sonderpädagog: innen) oder im klinischen Kontext (z. B. Logopäd: innen) Gebärdensprachkompetenz überprüfen, sind häufig hörend und verfügen meist nur über ungenügende Gebärdensprachkenntnisse, um einen Test in Gebärdensprache durchzuführen (Mann und Prinz 2006). Dadurch kann es zu Missverständnissen zwischen dem/ der hörenden Testleiter: in und dem tauben Kind kommen, die dazu führen, dass DGS-Äußerungen von Kindern möglicherweise falsch interpretiert und bewertet werden. Dies ist besonders problematisch bei Tests, die produkti- 167 FI 3/ 2024 Tests und Screenings ve Fähigkeiten messen. Dynamisches Testen („Dynamic Assessment“), hier als „mediated learning“ bezeichnet, bietet einen sinnvollen Förderansatz, da es zusätzlich zu den üblichen Testmaßnahmen eingesetzt werden kann und dazu beiträgt, die Auswirkungen begrenzter Erfahrung auf das Testergebnis zu reduzieren. Dies soll im folgenden Abschnitt genauer erklärt werden. Was ist Dynamisches Testen? Dynamisches Testen kombiniert Testen und Fördern im Rahmen des diagnostischen Prozesses und evaluiert die daraus resultierenden Lernfortschritte (Mann und Haug 2014). Statt der Messung des Lernergebnisses geht es beim Dynamischen Testen darum, das Lernpotenzial einer Person zu ermitteln. Dabei spielt das Alter der Person keine Rolle. Lernpotenzial wird in diesem Zusammenhang verstanden als das Ausmaß der Verbesserung durch unterstütztes Lernen („mediated learning“). Beim dynamischen Testen geschieht dies durch systematische Variation der Testsituation durch den/ die Testleiter: in mit dem Ziel, die Reaktion der Lernenden auf die Unterstützung sowie den Umfang der notwendigen Unterstützung zum Erreichen des angestrebten Lernziels zu ermitteln. Dabei geht es darum, das durch die Interaktion mit dem/ der Lernpartnerin erreichte Lernpotenzial zu beschreiben (Börnert- Ringleb 2018). Mit anderen Worten, Dynamisches Testen ist mehr daran interessiert, was (und wie) ein Kind lernen kann, als daran, wie viel ein Kind weiß. Dynamisches Testen baut auf Vygotsky‘s (1978) soziokultureller Theorie auf, insbesondere auf der Vorstellung, dass ein Kind durch soziale Interaktion lernt und höhere kognitive Fähigkeiten entwickelt, indem es mit einem weiter fortgeschrittenen Gleichaltrigen oder Erwachsenen zusammenarbeitet. Diese Person unterstützt das Kind in einem ko-konstruktiven Prozess beim Wissenserwerb. Hier kommt dem Begriff der „Zone der nächsten Entwicklung“ („Zone of Proximal Development“) eine entscheidende Rolle zu. Diese beschreibt das Entwicklungspotenzial eines Kindes mit angemessener Unterstützung im Vergleich zu einem Kind, das allein arbeitet (Zone der eigentlichen Entwicklung; s. Abbildung 1). Dynamisches Testen betont die Interaktion zwischen dem/ der wissenden Lernpartner: in (pädagogische Fachkraft) und dem/ der Lernenden. Dabei wird die Unterstützung seitens der unterstützenden Person im Kontext des „mediated learning“ den jeweiligen Bedürfnissen angepasst, um das Lernpotenzial des individuellen Kindes besser zu verstehen und für zukünftige Interventionen zu berücksichtigen (Landor et al. 2007). Befürworter des Dynamischen Testens haben Vygotsky‘s Ideen zur Förderung höherer kognitiver Funktionen innerhalb der Zone der nächsten Entwicklung angewandt, um die Förderung zu beschreiben, die während der Phase des „mediated learning“ stattfindet. Wie kann Dynamisches Testen in der Frühförderung angewendet werden? Die folgenden zwei Situationen sollen einen Eindruck vermitteln, wie Dynamisches Testen mit Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren angewendet werden kann. Potenzieller Entwicklungsstand Zone der nächsten Entwicklung (Anleitung durch andere Person) Aktueller Entwicklungsstand Abb. 1: Zone der nächsten Entwicklung (nach Vygotsky 1978) 168 FI 3/ 2024 Tests und Screenings Situation 1: Setting: 1 : 1 Materialien: 2 Sets mit identischen Bildkarten (Memory) Kommunikationsform: Gebärdenund/ oder Lautsprache Zielgruppe: Taube/ schwerhörige Kinder mit einem eingeschränkten Wortschatz und Verständnisproblemen Ziel des „mediated learning“: Erweiterung des Wortschatzes und Förderung des Aufgabenverständnis Aktivität: Modifiziertes Memory Auf dem Tisch liegen zwei Stapel mit identischen Bildkarten. Die pädagogische Fachkraft nimmt eine Karte vom ersten Stapel, benennt das Bild und legt die Karte umgedreht vor sich ab. Sie nimmt sich die nächste Karte, benennt auch diese und legt sie neben die erste Karte. Das Prozedere wird wiederholt, bis der Stapel leer ist. Als Nächstes nimmt sie eine Karte vom zweiten Stapel mit identischen Bildern, deckt diese auf und denkt laut darüber nach, wo sich die passende verdeckte Bildkarte auf dem Tisch befinden könnte („Mmmhh…, wo könnte das passende Bild sein? “). Das Kind schaut bei den beschriebenen Handlungen erst einmal nur zu, ohne dass die Erwartung besteht, dass es aktiv wird. Nachdem das Kind der pädagogischen Fachkraft mehrere Runden lang zugeschaut hat, steigt das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, sich jede Karte zu merken. Das Kind fängt an, der pädagogischen Fachkraft zu „helfen“, indem es Karten für diese benennt oder für sie findet. Dadurch demonstriert das Kind ein wachsendes Aufgabenverständnis durch Zuschauen sowie ein zunehmendes Verstehen des für die Erledigung der Aufgabe relevanten Wortschatzes. Bei jedem weiteren Spieldurchlauf können zusätzliche Schritte hinzukommen, z. B. Mischen der Karten, Hinzufügen zusätzlicher Karten (und Begriffe), wodurch sich neben der Herausforderung möglicherweise auch das Frustrationspotenzial erhöht. Durch die schrittweise Erhöhung der Komplexität der Aufgabe kann die pädagogische Fachkraft das Engagement des Kindes, in seinem eigenen Tempo zu lernen, unterstützen. Wichtig dabei ist, dass aufseiten des Kindes kein Gefühl von „Überprüfung“ entsteht oder von Beurteilung seiner Antworten als richtig oder falsch; dies nimmt ihm die Angst, sich an der Aufgabe zu beteiligen. Dazu bedarf es einer erfahrenen pädagogischen Fachkraft, die „vermittelt“ und nicht „belehrt“. Situation 2 Setting: 1 : 1 Materialien: Papier und Stift Kommunikationsform: Gebärdenund/ oder Lautsprache Zielgruppe: Taube/ schwerhörige Kinder mit Einschränkungen im kohärenten Erzählen von Geschichte oder beim Berichten von Ereignissen sowie mit dem Bewusstsein und Ausdrücken von Gedanken und Gefühlen Ziele des „mediated learning“: Verstehen der sequenziellen Anordnung von Ereignissen durch Verwendung von „zuerst“, „dann“, und „am Ende“ („cognitive learning“) sowie Erweiterung des Wortschatzes zum Ausdruck von Emotionen (Wie sieht das Kind sich selbst als Lernende: r? - „affective learning“) Aktivität: (Nach-)Erzählen von Geschichten anhand von (selbstgezeichneten) Bildern Je nach Alter und Fähigkeit können die Geschichten zur Herstellung eines persönlichen Bezugs auf Ereignissen basieren, an denen das Kind selbst teilgenommen hat (z. B. an einem Einkaufsbummel) oder die frei erfunden sind. Die Aufgabe wird anfangs von der pädagogischen Fachkraft in Gebärdensprache (oder Lautsprache) mit „zuerst“ * , „dann“ und „am Ende“ für jeden Abschnitt der Geschichte vorgemacht, z. B. „Gestern bist du Einkaufen gegangen. Zuerst bist du zum Bäcker gegangen. Dann bist du in das Spielwarengeschäft gegangen. Am Ende warst du richtig müde vom vielen Laufen“. * „“ =„ein gebärdetes Wort oder eine gebärdete Phrase“ 169 FI 3/ 2024 Tests und Screenings Dabei skizziert der/ die pädagogische Fachkraft (z. B. mittels Strichmännchen) die Geschichte zeitgleich auf Papier. Am Ende wird das Kind als Teil des unterstützten Lernens („mediated learning“) dazu angeregt, die Geschichte nachzuerzählen. Wenn es sich dazu bereit erklärt, kommentiert die pädagogische Fachkraft dies entsprechend mit „Aha, jetzt fühlst du dich wohl/ sicher“. Gleichermaßen kommentiert die pädagogische Fachkraft, wenn sich das Kind dagegen entscheidet, die Geschichte nachzuerzählen, mit „Sieht so aus, als würdest du dich (gerade) nicht so wohl fühlen“, und erledigt die Aufgabe selbst. Als Alternative kann die pädagogische Fachkraft mittels des Worts/ der Gebärde „Hilfe“ anbieten, die Geschichte zusammen mit dem Kind nachzuerzählen. Je öfter die Aktivität wiederholt wird, desto mehr sollte das Kind besser in der Lage sein, das modellierte Vokabular „sich wohl fühlen“, „sich unwohl fühlen“ und „Hilfe“ zu verwenden, um der pädagogischen Fachkraft seine Bedürfnisse mitzuteilen. Darüber hinaus kann das Kind durch diese Aktivität auch lernen, die skizzierten Bilder zu bearbeiten und ein Ereignis mit den modellierten Wörtern bzw. Gebärden „zuerst“, „dann“ und „am Ende“ nachzuerzählen. In der Literatur zum Dynamischen Testen gilt das soziale-emotionale Verhalten (Motivation, das Engagement und das Wohlbefinden) von Kindern als ein wichtiger Indikator für die Sprachkompetenz (‚language ability level‘). In dem hier aufgeführten Beispiel geht es darum, das Kind in solchen Verhaltensweisen zu bestärken. Welche Forschung gibt es zum Dynamischen Testen? Bisher gibt es nur wenig Literatur über den Einsatz vom Dynamischen Testen bei tauben, gebärdenden Kindern, insbesondere bei Kindern im Vorschulalter. Der Großteil der vorhandenen Literatur bezieht sich auf Kinder ab sechs Jahre (Mann et al. 2014, 2015, 2021). Ein Blick auf die Forschung mit hörenden Kindern zeigt jedoch vielversprechende Ergebnisse. Eine Studie von Sittner- Bridges und Catts (2011) zur Früherkennung der phonologischen Bewusstheit von 47 Kindergartenkindern mit einem möglichen Risiko für eine Lese-Rechtschreibstörung zeigt, dass das verwendete dynamische Screeninginstrument (Dynamic Screening of Phonological Awareness, Bridges und Catts 2008) zur Vorhersage der frühen Leseleistung und des Leseerfolgs, gemessen durch zwei Untertests des Woodcock Reading Mastery Test-Revised/ NU (1998) beitragen kann. Dies wurde mithilfe einer linearen Regression untersucht, wobei die Ergebnisse der beiden Untertests als abhängige Variablen dienten. Trotz der Nützlichkeit des dynamischen Instruments empfehlen die Autoren, es mit anderen Screeninginstrumenten zur Messung der Leseleistung zu kombinieren. Gleichzeitig kann das dynamische Instrument dazu dienen, Kinder mit Schwierigkeiten im Lesenlernen zu identifizieren. Camillieri und Botting (2013) benutzten ein dynamisches Assessment der Wortlernfähigkeit, das Dynamic Assessment of Word Learning (DAWL), und testeten dieses hinsichtlich Reliabilität und Validität mit 15 Kindern im Alter zwischen 43 - 51 Monaten, von denen zehn zur Sprachtherapie überwiesen worden waren. Ergebnisse zeigten, dass die Information, die der DAWL liefert, zu einem besseren Verständnis der Lernprozesse, die der Leistung des Kindes zugrunde liegen, beitragen können. In einer weiteren Studie untersuchten Camillieri und Law (2014) den Einsatz von dynamischen Tests im Kontext Wortschatzwissen bei 37 Kindern im Alter von 41 - 60 Monaten. Auch hier zeigten die Ergebnisse das Potenzial des dynamischen Testformats bei der Beurteilung von Wortschatzkenntnissen der Teilnehmer: innen. Dies ist besonders wichtig bei Kindern mit geringen Sprachkenntnissen, da es bei diesen dazu beitragen kann, zukünftige rezeptive Wortschatzfähigkeiten vorherzusagen. Dadurch erhöht sich die Chance, Kinder, die fortlaufende Förderung benötigen, richtig zu identifizieren. Gerade im Vorschulalter ist der Erwerb von Fähigkeiten zum 170 FI 3/ 2024 Tests und Screenings Erlernen von Wörtern wichtig, weil diese Fähigkeiten alle anderen Aspekte des Spracherwerbs untermauern und damit auch bei der erfolgreichen Integration des Kindes in die Schule und beim Beginn des Lesens eine wichtige Rolle spielen (Camilleri und Law 2014). Trotz der unterschiedlichen Altersgruppe weisen die oben beschriebenen Ergebnisse eine gewisse Ähnlichkeit mit den Erkenntnissen von Studien mit tauben Kindern im Schulalter auf. So konnte z. B. in Untersuchungen von Mann und Kolleg: innen (2014, 2015) zur Differenzierbarkeit der Sprachkompetenz von tauben, gebärdenden Kindern während der Phase des „mediated learning“ und der Unterstützung durch die pädagogische Fachkraft (Modifizierbarkeit) eine deutliche Sensibilität für die Sprachkompetenz der Kinder festgestellt werden: Diese zeigte sich in Form der Einschätzung der Modifizierbarkeit in Bezug auf die Sprachlernfähigkeit durch die pädagogische Fachkraft, d. h. der Kombination aus der Reaktionsfähigkeit des Kindes, der Fähigkeit, neues Wissen zu transferieren und dem Ausmaß der Unterstützung durch die Lernpartner: innen. Die beschriebenen Ergebnisse sind für die Praxis relevant, da sie Frühförder: innen in die Lage versetzen, die vom Kind während des „mediated learning“ benutzten Strategien, z. B. wie das Kind auf Feedback reagiert, wie fokussiert das Kind ist, oder die Fähigkeit, Fehler selbst zu korrigieren, zu erfassen und mit in die Förderung zu integrieren. Wie lässt sich beurteilen, ob dynamisches Testen von Vorteil ist? Bei der Verwendung von Dynamischem Testen zur Ermittlung und/ oder Bereitstellung von Strategien während des „mediated learning“ ist es wichtig, sich zu überlegen, ob (und was) dieser Ansatz zu bereits benutzten, gängigen Testverfahren hinzufügen kann. Kann Dynamisches Testen neue oder detailliertere Informationen liefern? Sind die Testleiter: innen/ Lernpartner: innen in der Lage, diese (neuen) Informationen mit anderen Zielgruppen, z. B. Eltern, Frühförder: innen zu teilen, um so diesen zu helfen, das Lernpotenzial des individuellen Kindes besser zu verstehen ? Können Frühförder: innen im Vorschulsowie im klinischen Kontext diese Informationen und dieses Verständnis in ihre eigenen Interventionen und alltäglichen Interaktionen mit tauben Kindern integrieren? Um die oben genannten notwendigen Informationen zu sammeln, bedarf es der Dokumentation per Video und/ oder sehr detaillierter Notizen, um kleine, aber wichtige Veränderungen hervorzuheben. Eine Möglichkeit, die Sammlung von Informationen während des Testens für die Testleiter: in, z. B. die Frühförder: in, machbarer zu gestalten, könnte darin bestehen, sich auf bestimmte Aspekte zu konzentrieren, d. h. ein oder zwei Lernprinzipien, die während der Zusammenarbeit zwischen Testleiter: in/ Lernpartner: in-nen und Lerner: in besonders leicht/ schwer zu verändern sind und auf die sich alle Beteiligten vor der Durchführung geeinigt haben (Lauchlan und Carrigan 2013). Die zu diesen Aspekten gesammelten Informationen können dann für Folgegespräche über den bevorzugten Lernstil des Kindes genutzt werden, an denen andere Mitglieder des Frühförderteams und Eltern sowie das Kind selbst beteiligt sind. Durch einen solchen Ansatz wird der Beurteilungsprozess überschaubarer und die Ergebnisse lassen sich leichter vermitteln, sodass sie auch von Nicht-Fachkräften, etwa Eltern, verstanden werden. Wenn der Einsatz von Dynamischem Testen zu einer verbesserten Identifizierung von Lernpotenzial und der Entwicklung von individuell angepassten Interventionsmaßnahmen beitragen kann, wird der Prozess sowohl für das Kind als auch für diejenigen, die den Spracherwerb unterstützen, von Nutzen sein. Um eine Sprache zu lernen, müssen (hörende sowie taube) Kinder mit guten Sprachvorbildern in Kontakt kommen. Sie müssen sich auf Interaktionen einlassen, um ihre expressiven und rezeptiven Sprachkenntnisse zu entwickeln. Für die meisten Kinder ist hier ein sprachreiches und -anregendes Umfeld hilfreich. Manche Kinder mit besonderen Sprachlernbe- 171 FI 3/ 2024 Tests und Screenings dürfnissen sind jedoch mit einem solchen Umfeld überfordert. In dieser Situation können dynamische Tests und „mediated learning“ den Erwachsenen dabei helfen, die sprachliche Umgebung so zu verändern/ gestalten, dass das Kind andere verstehen, sich selbst ausdrücken und an positiven Interaktionen unter Verwendung von Sprache teilnehmen kann. Welche Möglichkeiten ergeben sich für den Einsatz des dynamischen Testens bei tauben, gebärdenden Kindern? Wie in den vorherigen Abschnitten beschrieben, unterstützen Dynamisches Testen und „mediated learning“ die Entwicklung von Zielen zur Förderung der Sprach- und Kommunikationsfähigkeiten von tauben, gebärdenden Kindern. Wenn Kinder, Eltern, frühpädagogische Fachkräfte und andere Personen sich alle auf dem angestrebten Sprachniveau bewegen, können die gesetzten Ziele im Alltag leichter verfolgt werden. Dafür ist es auch notwendig, ein gemeinsames Verständnis über den Entwicklungsstand des tauben Kindes herzustellen. Genau aus diesem Grund ist beim Dynamischen Testen ein wichtiges Ziel des/ der Lernpartners/ Lernpartnerin, dem Kind während des „mediated learning“ den Zusammenhang zwischen der Verwendung von Sprache im Kontext einer Aufgabe und im alltäglichen Sprachgebrauch zu verdeutlichen. Ein Kind in die Lage zu versetzen, die Förderziele zu verstehen und sie ggf. gemeinsam mit anderen zu erarbeiten, unterstützt die Fähigkeit des Kindes, Veränderungen wahrzunehmen und deren Bedeutung für den eigenen Lernprozess zu erkennen. Dies kann auf einfache Art und Weise geschehen, z. B. in Form kindgerecht formulierter Ziele, basierend auf dem Lernpotenzial. Eine solche Vorgehensweise kann Eltern und Frühförder: innen helfen, die Entwicklung von (neuen) Fähigkeiten zu erkennen und diese entsprechend zu unterstützen; dabei wird Sprache im Rahmen von „mediated learning“ verwendet, die das Kind mit seinen Fähigkeiten in Verbindung bringt. Bezogen auf den Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation lässt sich die Effektivität von Dynamischem Testen und „mediated learning“ durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit (z. B. von Frühförder: innen, Therapeut: innen, Sonderpädagog: innen) maximieren. So bietet eine solche Zusammenarbeit die Möglichkeit, ein Kind in verschiedenen formellen und informellen Settings von unterschiedlichen Kommunikationspartnern beobachten zu lassen. Hierdurch ergeben sich Einblicke, die zu einem genaueren Bild der Sprachkompetenz des Kindes beitragen. Im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit können die Teammitglieder eine oder mehrere Rollen übernehmen. Dies ist in Abbildung 2 veranschaulicht. Der hier beschriebene kooperative Ansatz kann durch ein gemeinsames Training innerhalb des interdisziplinären Teams gestärkt werden. Dies kann z. B. durch das gemeinsame Analysieren von Videosprachproben von Kindern in gesprochener und gebärdeter Sprache geschehen. Ein solches Training, das - je nach Bedarf - in Laut- oder Gebärdensprache durchgeführt wird, kann Teammitarbeiter: innen dabei helfen, die Wahrnehmung ihrer Fähigkeiten und Bedürfnisse bei Abb. 2: Rollen bei der dynamischen Bewertung und bei vermittelten Lernaktivitäten Testleiter: in - führt Test durch - erfasst und verfolgt Veränderungen Mediator: in - bietet ”mediated learning“ an - greift Strategien auf, die in den Tests benutzt wurden Informationsmanager: in - stellt den Austausch von Ergebnissen zwischen Fachkräften und Familien sicher - ermöglicht den Austausch von Strategien 172 FI 3/ 2024 Tests und Screenings der Durchführung von sprachbezogenen Aktivitäten im Rahmen von Dynamischem Testen zu erleichtern und sich dieser bewusst zu werden. Gleichzeitig soll es zu einem verbesserten Austausch zwischen tauben/ schwerhörigen und hörenden Teammitarbeiter: innen führen (Hoskin 2017). Fazit Dynamisches Testen und „mediated learning“ bietet Frühförder: innen, die mit tauben gebärdensprachlich kommunizierenden Kindern arbeiten, zusätzliche Hilfe bei der Einschätzung von Sprach- und Kommunikationsfähigkeiten. Durch den individualisierten Ansatz lässt sich das Lernpotenzial dieser Kinder mittels detaillierter Beurteilung und Beobachtung identifizieren und durch auf die Bedürfnisse des Kindes entsprechend zugeschnittene Unterstützung fördern. Gegenwärtig gibt es nur wenige solcher Listen oder Beobachtungsbögen, die für den kommerziellen Gebrauch zur Verfügung stehen. Interessierten Leser: innen wird der Artikel von Mann, Peña und Morgan (2015) empfohlen, insbesondere die im Anhang enthaltene ‚Mediated Learning Observation Form‘. Wolfgang Mann Klosterstr. 79 b 50931 Köln E-Mail: wmann@uni-koeln.de Literatur Börnert-Ringleb, M. (2018): Die Erfassung von Lernpotentialen und benötigter Unterstützung: Dynamisches Testen. Potsdamer Zentrum für empirische Inklusionsforschung (ZEIF) 4, 1-9 Bridges, M. S., Catts, H. W. (2008): Dynamic Screening of Phonological Awareness (Prepublication version). Linguisystems, Moline, IL Camilleri, B., Botting, N. (2013): Beyond static assessment of children‘s receptive vocabulary: the dynamic assessment of word learning (DAWL). International Journal of Language & Communication Disorders 48(5), 565 - 581, DOI: 10.1111/ 1460-6984.1 2033 Camilleri, B., Law, J. (2014): Dynamic assessment of word learning skills of pre-school children with primary language impairment. International journal of speech-language pathology 16(5), 507 - 516, https: / / doi.org/ 10.3109/ 17549507.2013.847497 Haug, T. (2011): Methodological and theoretical issues in the adaptation of sign language tests: An example from the adaptation of a test to German Sign Language. Language Testing 29(2), 181- 201, https: / / doi.org/ 10.1177/ 0265532211421509 Haug, T., Becker, C., Hänel-Faulhaber, B., Hennies, J., Kolbe, V., Mann, W., Wienholz (2023): Sprachentwicklung von Kindern in Deutscher Gebärdensprache diagnostizieren. Hörpäd 1, 28 - 35 Herman, R., Holmes, S., Woll, B. (1999): Assessing BSL Development - Receptive Skills Test. The Forest Bookshop, Coleford, UK Hoskin, J. (2017): Supporting the language needs of deaf children. Bulletin: Magazine of Royal College of Speech and Language Therapists (June), 13 -14 Kolbe, V., Becker, C. (2023): NaKom DGS - Sprachproduktionstest zu narrativen Kompetenzen in Deutscher Gebärdensprache. Humboldt-Universität zu Berlin Landor, M., Lauchlan, F., Carrigan, D., Kennedy, H. (2007): Feeding back the results of dynamic assessment to the child. Advances in Speech Language Pathology 9(4), 346-353, https: / / doi.org/ 10.1080/ 1441 7040701516530 Lauchlan, L., Carrigan, F. (2013): Improving learning through dynamic assessment. A practical classroom resource. Jessica Kingsley Publishers, London Lidz, C. S., Elliott, J. (Eds.). (2000): Dynamic assessment: Prevailing models and applications, 407 - 439. Amsterdam, Jai Mann, W., Haug, T. (2014): Mapping out guidelines for the development and use of sign language assessments: Some critical issues, comments and suggestions. In: Quinto-Pozos, D. (Ed.): Multilingual Aspects of Signed Language Communication and Disorder, 123-139, Bristol, Blue Ridge Summit, Multilingual Matters, http: / / dx.doi.org/ 10.21832/ 9781 783091317-008 Mann, W., Hoskin, J., Dumbrill, H. (2021): Dynamic Assessment of Learners of a Signed Language. In: Haug, T., Mann, W., Knoch, U. (Eds.) The Handbook of Language Assessment across Modalities, 101-112, 173 FI 3/ 2024 Tests und Screenings New York, Oxford University Press, http: / / dx.doi.org/ 10.1093/ oso/ 9780190885052.003.0009 Mann, W., Peña, E. D., Morgan, G. (2015): Child modifiability as a predictor of language abilities in deaf children who use American Sign Language. American journal of speech-language pathology 24(3), 374 -385, https: / / doi.org/ 10.1044/ 2015_AJSLP-14-0072 Mann, W., Peña, E. D., Morgan, G. (2014): Exploring the use of dynamic language assessment with deaf children, who use American Sign Language: Two case studies. Journal of communication disorders 52, 16 - 30, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.jcomdis.2014.05.002 Mann, W.,Prinz, P. M. (2006): An investigation of the need for sign language assessment in deaf education. American Annals of the Deaf 151(3), 356 - 370, https: / / www.jstor.org/ stable/ 26234392 Sittner Bridges, M., Catts, H.W. (2011): The use of a dynamic screening of Phonological awareness to predict risk for reading disabilities in kindergarten children. Journal of learning disabilities 44(4), 330 - 338, https: / / doi.org/ 10.1177/ 002221941140 Vygotsky, L. S. 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