eJournals Frühförderung interdisziplinär 44/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2025.art02d
11
2025
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Stichwort: Zone der nächsten Entwicklung

11
2025
Sofiya Karnovska
Markus Paulus
Die Zone der nächsten Entwicklung (ZNE), in der Literatur oftmals auch unter der englischen Bezeichnung zone of proximal development bekannt, beschreibt das Entwicklungsniveau, das im sozialen Prozess der Entwicklung in Reichweite des Kindes ist: „[Der] Unterschied im geistigen Alter oder aktuellen Entwicklungsniveau, das durch selbstständig gelöste Aufgaben bestimmt wird, und dem Niveau, das das Kind beim Lösen von Aufgaben zwar nicht selbstständig, aber in Zusammenarbeit erreicht, bestimmt die Zone der nächsten Entwicklung” (Vygotskij 2002, 327). Die ZNE ermöglicht es, die aufkommenden Entwicklungsprozesse des Kindes zu identifizieren, und reflektiert „den Bereich der dem Kind zugänglichen Übergänge“ (Vygotskij 2002, 331).
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23 Frühförderung interdisziplinär, 44.-Jg., S.-23 - 26 (2025) DOI 10.2378/ fi2025.art02d © Ernst Reinhardt Verlag STICHWOR T Zone der nächsten Entwicklung Sofiya Karnovska, Markus Paulus Definition Die Zone der nächsten Entwicklung (ZNE), in der Literatur oftmals auch unter der englischen Bezeichnung zone of proximal development bekannt, beschreibt das Entwicklungsniveau, das im sozialen Prozess der Entwicklung in Reichweite des Kindes ist: „[Der] Unterschied im geistigen Alter oder aktuellen Entwicklungsniveau, das durch selbstständig gelöste Aufgaben bestimmt wird, und dem Niveau, das das Kind beim Lösen von Aufgaben zwar nicht selbstständig, aber in Zusammenarbeit erreicht, bestimmt die Zone der nächsten Entwicklung” (Vygotskij 2002, 327). Die ZNE ermöglicht es, die aufkommenden Entwicklungsprozesse des Kindes zu identifizieren, und reflektiert „den Bereich der dem Kind zugänglichen Übergänge“ (Vygotskij 2002, 331). Theoretische Hintergründe und Zusammenhänge der ZNE Die ZNE wird in Vygotskijs Gesamtwerk im Zusammenhang von obuchenie 1 und psychologischer Entwicklung beschrieben (Dafermos 2018). Speziell wird ZNE in Vygotskijs Schriften als eine Methode zur Entwicklungsdiagnostik im Kontext von obuchenie entwickelt (Veresov 2017). Obwohl die ZNE nicht das leitende Entwicklungskonzept Vygotskijs ist (Chaiklin 2003), spiegelt sie zentrale Aspekte seiner Theorie wider (Veresov 2004). Aus diesem Grund muss die ZNE im Zusammenhang mit den weiteren theoretischen Ausführungen Vygotskijs betrachtet werden. Der theoretische Schwerpunkt der ZNE ist die ganzheitliche Betrachtung des Kindes als aktiven Agenten, der seine soziale Umwelt formt und von ihr gleichermaßen geformt wird. Eine der grundlegenden Annahmen Vygotskijs ist, dass Entwicklung durch qualitative Veränderungen in den Beziehungen psychologischer Funktionen (z. B. Wahrnehmung, Gedächtnis und Sprache) charakterisiert wird (Chaiklin 2003). Die Beziehungen psychologischer Funktionen untereinander sind altersspezifisch (Vygotsky 2019). Als Beispiel führt Vygotsky (2019) die Beziehung zwischen Wahrnehmung, Gedächtnis und abstraktem Denken bei zweijährigen Kindern an. In diesem Alter sind abstraktes Denken und das Gedächtnis laut Vygotsky eng an die unmittelbare Wahrnehmung und an das situationale Handeln des Kindes geknüpft. Im Verlauf der Entwicklung werden die Funktionen des abstrakten Denkens und des Gedächtnisses zu eigenständigen Funktionen ausdifferenziert. Diese Veränderungen resultieren einerseits aus dem aktiven Handeln des Kindes im zwischenmenschlichen Raum, andererseits aus dem sozialen Kontext der Entwicklung. Das Individuum wird in jeder Altersperiode mit neuen Erwartungen und Anforderungen innerhalb dessen sozialer Umwelt konfrontiert. Daraus taucht in jeder Altersperiode eine charakteristische Tätigkeit oder ein charakteristischer Widerspruch auf, der 1 Obuchenie (oбучение; Vygotskij 1934) wird in der englischsprachigen Literatur häufig als learning oder instruction übersetzt (Cole 2009). Die deutsche Übersetzung (Vygotskij 2002) wählt den Begriff Unterricht. Allergings gibt es keine vollständig sinngemäße Übersetzung des Begriffs für das Englische oder das Deutsche. Obuchenie ist als ein Prozess des Lehrens und Lernens zu verstehen. Obuchenie legt dabei den Schwerpunkt auf das Leiten des Lernprozesses und die Lernerfahrung über die Ausgestaltung der Lernumgebung durch Lehrpersonen (Cole 2009). 24 FI 1/ 2025 Stichwort die Handlungen des Kindes organisiert. Aus dem Widerspruch der bestehenden Fähigkeiten des Kindes und den Erwartungen und Anforderungen, die sich aus den subjektiven Interessen und der objektiven sozialen Realität ergeben, entstehen Neuformationen (Chaiklin 2003). Zum Beispiel beschreibt Vygotsky (2021) folgenden charakteristischen Widerspruch für das Säuglingsalter: obwohl der Säugling in jeder Hinsicht von der Fürsorge durch seine soziale Umwelt abhängig ist, verfügt er nur über sehr rudimentäre Fähigkeiten zur Kommunikation. Dieser Widerspruch leitet im Säuglingsalter die Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten ein. Im Werk Vygotskijs kann die ZNE als Anwendung des allgemeinen Gesetzes der genetischen Entwicklung auf den Zusammenhang von Lernen und geistiger Entwicklung betrachtet werden (Veresov 2017). Das allgemeine Gesetz der genetischen Entwicklung beschreibt, dass jede Funktion in der Entwicklung erst auf einer zwischenmenschlichen Ebene als Beziehung (z. B. eine Debatte unter Freunden), und danach auf einer intrapsychischen Ebene als Kategorie (z. B. in Form von Selbstreflexion über die Debatte) erscheint. In diesem Prozess werden zwischenmenschliche Beziehungen zu psychologischen Funktionen (Veresov 2010). Hierbei besteht die Annahme, dass soziale Beziehungen innerhalb der soziokulturellen Realitäten die Quelle von Entwicklung darstellen. Ohne den sozialen Kontext der Entwicklung, in dem das Kind mit einem kompetenteren Peer oder Erwachsenen interagieren kann, kann es keine ZNE geben (Veresov 2017). Das soziale Umfeld wird folglich als die wesentliche Voraussetzung für Entwicklung innerhalb der ZNE konzeptualisiert. Abgrenzung von ZNE und Scaffolding Oftmals wird die ZNE mit dem Konzept von Scaffolding (Wood et al. 1976) gleichgesetzt, das von Jerome Bruner entwickelt wurde. Scaffolding wurde zwar konzeptuell von der ZNE beeinflusst (Shvarts/ Bakker 2019), allerdings liegt der Schwerpunkt von Scaffolding auf der Kompetenz und Effizienz in der Ausführung einer Aufgabe. Dabei wird vorausgesetzt, dass der Lernende die Aufgabe versteht, bevor er sie lösen kann. Die Metapher ist die eines Gerüsts, mit dessen Hilfe ein vorherbestimmtes Objekt konstruiert wird. Im Kontrast dazu geht es im Rahmen der ZNE um allgemeine Entwicklungsprozesse, anstelle von aufgabenbezogenen Fähigkeiten. Die Entwicklungsniveaus, die in der ZNE erreichbar werden, sind generalisierbar und eröffnen Möglichkeiten im Umgang mit zukünftigen Ereignissen und Herausforderungen. Die ZNE konzentriert sich dementsprechend auf das Erreichen globalerer Entwicklungsniveaus anstelle von spezifischen Fähigkeiten und Aufgaben. Die Metapher ist die eines Früchte tragenden Baums, mit Knospen und Früchten, der unter der Fürsorge eines Gärtners gedeiht. Dieser Vergleich macht ersichtlich, dass die ZNE einen zieloffenen und zukunftsgerichteten Entwicklungsprozess meint, der mit Scaffolding nicht gleichzusetzen ist (Xi/ Lantolf 2021). Implikationen der ZNE für Diagnostik und Förderung Für eine Entwicklungsdiagnose und Förderung ist es für Vygotskij (2002) nicht ausreichend, das aktuelle Entwicklungsniveau zu bestimmen, das ein Kind erreicht, während es eine Aufgabe selbstständig löst. In seiner Auslegung der ZNE verwendet Vygotskij (2002) die Metapher eines Gärtners, der versucht, den Zustand seines Gartens festzustellen. Ähnlich wie ein Gärtner den Zustand seines Gartens nicht nur an den ausgereiften und Ernte tragenden Bäumen bestimmen kann, ohne die noch reifenden Bäume mit einzubeziehen, müssen für eine vollständige Bewertung des Entwicklungsstandes auch die noch unreifen Entwicklungsprozesse des Kindes berücksichtigt werden. Neben dem aktuellen Entwicklungsniveau muss auch das erreichbare Entwicklungsniveau in Zusammenarbeit mit anderen betrachtet werden (Vygotskij 2002). Vygotskij (2002) nimmt als Beispiel den hypothetischen Fall zweier Kinder, die 25 FI 1/ 2025 Stichwort eigenständig Aufgaben lösen können, die für das Alter von 8 Jahren bestimmt sind. Wenn nun diese beiden Kinder Aufgaben unter Anleitung lösen, die über ihr aktuelles Entwicklungsniveau hinausgehen, kann das erste Kind Aufgaben bis zum Alter von 12 Jahren lösen, das zweite Kind bis zu 9 Jahren. Obwohl beide Kinder über das gleiche aktuelle Entwicklungsniveau von 8 Jahren verfügen, weicht das Niveau der Aufgaben, die sie unter Anleitung lösen, voneinander ab. Die Abweichung der Niveaus der Aufgaben, die sie selbstständig und unter Anleitung lösen können, beträgt beim ersten Kind 4 Jahre und beim zweiten Kind 1 Jahr. Vygotskij (2002) beschreibt die Abweichung des aktuellen Entwicklungsniveaus und des Entwicklungsniveaus, das in Zusammenarbeit erreicht werden kann, als ZNE. Die ZNE zeigt auf, dass bei beiden auf den ersten Blick ähnlich entwickelten Kindern Entwicklungsunterschiede bestehen, die erst unter Anbetracht der noch nicht abgeschlossenen Entwicklungsprozesse ersichtlich werden. Das bedeutet wiederum, dass für beide Kinder unterschiedliche Interventionen innerhalb ihrer Entwicklungsreichweite liegen und entwicklungsförderlich für sie wären (Vygotskij 2002). Ausgehend vom Konzept der ZNE von Vygotskij (2002) sollte Entwicklungsförderung innerhalb der ZNE eines jeweiligen Kindes ansetzten. Für die Praxis bedeutet es, dass Interventionen sich darauf konzentrieren sollten, wozu das Kind zwar noch nicht selbstständig in der Lage ist, aber was in dessen Reichweite ist: „[W]as das Kind heute in Zusammenarbeit leisten kann, wird es morgen selbständig können. Es erscheint deshalb wahrscheinlich, dass Unterricht und Entwicklung in der Schule sich zueinander verhalten wie die Zone der nächsten Entwicklung zum Niveau der aktuellen Entwicklung. Nur der Unterricht im Kindesalter ist gut, der der Entwicklung vorauseilt und sie nach sich zieht. … Die Möglichkeiten des Unterrichts werden vor allem durch die Zone der nächsten Entwicklung bestimmt.“ (Vygotskij 2002, 331) Sofiya Karnovska Prof. Dr. Markus Paulus Ludwig Maximilians Universität München Department für Psychologie, Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie Leopoldstr. 13 80802 München E-Mail: Sofiya.Karnovska@psy.lmu.de Markus.Paulus@psy.lmu.de Literatur Chaiklin, S. (2003): The Zone of Proximal Development in Vygotsky’s Analysis of Learning and Instruction. In: Kozulin, A., Gindis, B., Ageyev, V. S., Miller, S. M. (Hrsg.): Vygotsky’s Educational Theory in Cultural Context, 1. Aufl., Cambridge University Press, 39 - 64, https: / / doi.org/ 10.1017/ CBO9780511840975.004 Cole, M. (2009): The Perils of Translation: A First Step in Reconsidering Vygotsky’s Theory of Development in Relation to Formal Education. 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Springer, Singapore, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-981-16-1907-6 Wood, D., Bruner, J. S., Ross, G. (1976): The role of tutoring in problem solving. Journal of child psychology and psychiatry 17(2), 89 -100, https: / / doi.org/ 10.1111/ j.1469-7610.1976.tb00 381.x Xi, J., Lantolf, J. P. (2021): Scaffolding and the zone of proximal development: A problematic relationship. Journal for the Theory of Social Behaviour 51(1), 25 - 48, https: / / doi.org/ 10.1111/ jtsb. 12260