eJournals Frühförderung interdisziplinär 44/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2025.art08d
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Aus der Praxis: Aus. Ende. Amen. Abgrenzung als komplexe Herausforderung im Frühförderalltag

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Martina Wolf
Wenn ein Kind die Frühförderung verlässt, werden Akten weggeräumt, Daten von der Festplatte gelöscht und das Gehirn der Fachkraft heruntergefahren. Abgeschlossen. Weggeklickt. Bereit für den Neustart. Zwischenspeichern? Ja. Aber unmittelbar nach Beendigung jeder Therapie- oder Fördereinheit werden sorgfältig die offenen „Dateien“ geschlossen. Spätestens um 17:00 Uhr ist alles offline und der Ruhemodus sorgt dafür, dass die zuständigen Areale für Mitgefühl und Sorge einfach abgeschaltet werden. Die Wiederaufnahme abgelegter Erinnerungen in den Arbeitsspeicher ist nur möglich, wenn Berichte angefordert werden, Lehrkräfte anrufen oder sich Familien melden, um stolz von den Erfolgen des Kindes und seiner weiteren Entwicklung zu berichten. Das Gespräch sollte jedoch nicht allzu lange dauern, denn dafür ist kein Leistungsnachweis und somit keine Form der Abrechnung vorgesehen. (Schade eigentlich …!)
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83 Frühförderung interdisziplinär, 44.-Jg., S.-83 - 85 (2025) DOI 10.2378/ fi2025.art08d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS Aus. Ende. Amen. Abgrenzung als komplexe Herausforderung im Frühförderalltag Martina Wolf Wenn ein Kind die Frühförderung verlässt, werden Akten weggeräumt, Daten von der Festplatte gelöscht und das Gehirn der Fachkraft heruntergefahren. Abgeschlossen. Weggeklickt. Bereit für den Neustart. Zwischenspeichern? Ja. Aber unmittelbar nach Beendigung jeder Therapie- oder Fördereinheit werden sorgfältig die offenen „Dateien“ geschlossen. Spätestens um 17: 00 Uhr ist alles offline und der Ruhemodus sorgt dafür, dass die zuständigen Areale für Mitgefühl und Sorge einfach abgeschaltet werden. Die Wiederaufnahme abgelegter Erinnerungen in den Arbeitsspeicher ist nur möglich, wenn Berichte angefordert werden, Lehrkräfte anrufen oder sich Familien melden, um stolz von den Erfolgen des Kindes und seiner weiteren Entwicklung zu berichten. Das Gespräch sollte jedoch nicht allzu lange dauern, denn dafür ist kein Leistungsnachweis und somit keine Form der Abrechnung vorgesehen. (Schade eigentlich …! ) Berührtsein? Vielleicht. Aber nur bis zum wohlverdienten Feierabend. Engagement über den Dienstschluss hinaus? Nicht professionell. Unbedingt abgewöhnen. Ganz und gar abgewöhnen, wenn sich das Gefühl des Helfen-Müssens breit macht. Eine emotionale Bewegung, die nur dazu dient, die eigenen Bedürfnisse nach Anerkennung und Zugehörigkeit zu erfüllen. Beten? Wünsche ans Universum? Kann man machen. Insbesondere dann, wenn das mit dem Herunterfahren der Gefühle ausnahmsweise nicht so gut funktioniert. Entspricht das Ihrer Vorgehensweise und dem, wie Sie sich professionelles Handeln im Arbeitsfeld Frühförderung vorstellen? Dann brauchen Sie hier nicht weiterzulesen. Sie handeln fachlich richtig und das Verhältnis von Nähe und Distanz im Beziehungsgeflecht zu den betreuten Familien ist im Gleichgewicht. Sie sind eher nicht gefährdet, einen Burnout zu erleiden. Zwar fällt es Ihnen vermutlich nicht immer leicht, sich in Menschen und Situationen einzufühlen, aber dafür haben Sie eine gute Work-Life-Balance und können nachts gut schlafen. Bei mir klappt das zunehmend schlechter. Das mit dem Abgrenzen. Und das mit dem Abschließen. Kinder, die keinen Kitaplatz bekommen, nur unzureichend betreut werden können, aus Einrichtungen fliegen. Familien mit komplexen Problemlagen. Fachkräftemangel. Kumulation und Wechselwirkungen von Belastungsfaktoren. Ich versuche es mit Selbstfürsorge und dem wertschätzenden Umgang mit mir selbst, was aber unweigerlich dazu führt, dass ich mir Gedanken über diejenigen mache, welche Anerkennung und Wertschätzung eher selten erfahren. Ich kämpfe darum, mich von gesellschaftspolitischen Entwicklungen nicht allzu sehr bestimmen zu 84 FI 2/ 2025 Aus der Praxis lassen, und höre die wohlmeinenden Worte, die mir zurufen: „Wir können ja nicht die ganze Welt retten! ” Familien in diversen Notlagen lassen mich zuweilen genauso wenig los, wie Menschen, die in einem anderen Leben durchaus Freunde sein könnten, weil sie ähnliche Interessen und Einstellungen haben wie ich selbst. Auch nach vielen gemeinsamen Jahren, in denen wir uns regelmäßig sehen, halten und aushalten, was ist oder auch nicht ist, wäre es unprofessionell, sich freundschaftlich zu begegnen. Das ist nicht immer leicht. Keinen mitzunehmen auf den eigenen Lebensweg. Nur die Erfahrungen und die Eindrücke, die mich nicht nur in meiner professionellen Rolle, sondern auch als Mensch geprägt haben. Sehr wohl mitgenommen habe ich einige Dinge, die mich zum Teil schon Jahrzehnte begleiten und an die betreuten Kinder und ihre Familien erinnern. Dazu gehören eine groß gewachsene Rosmarinpflanze, ein leckeres Rezept für Nussmakronen, die Liebe zu Alvar Alto oder manch eine meiner Erziehungsvorstellungen. Zu Weihnachten packe ich eine heterogene Gruppe kleiner Engel aus, die sich wie einige andere Abschiedsgeschenke in meinen Haushalt geschlichen haben. Von der rot-weißen Porzellankutsche konnte ich mich dann doch trennen. Sie ist samt Nikolaus und seinen Rentieren im Sozialkaufhaus gelandet. Die zahlreichen Topfpflanzen als kleine Aufmerksamkeit haben es nicht überlebt - aber das liegt wohl eher an meinem nicht vorhandenen grünen Daumen. Haften bleiben werden meine Erinnerungen an diverse Lebenswelten zwischen Stadtvillen und Unterkünften für Geflüchtete. Die Suche in düsteren Gängen nach einer Klingel, die es gar nicht gibt, oder der Blick in eine Gemeinschaftsküche mit leeren Alkoholflaschen in überquellenden Mülleimern. Bleiben wird auch die Frage nach dem Umgang mit Abschiedsbriefen oder Leporellos voller Bilder von Kindern, die man über einen langen Zeitraum begleitet hat. Was soll geschehen mit persönlicher Post, die von der ganzen Familie signiert ist? Wo ist der geeignete Aufbewahrungsort? Vielleicht hofft die Familie auf einen lebenslangen Ehrenplatz. Ob sie ahnt, dass sich für mich ein grundsätzliches Problem mit dem Datenschutz ergibt, weiß ich nicht. Bleiben werden die Begegnungen auf der Straße, im Supermarkt. Abschätzen, ob die Familie für eine Kontaktaufnahme bereit ist, die über ein simples „Hallo“ hinausgeht. Der Blick auf meine eigene Familie im Schlepptau. (Sie könnten fragen, wen ich da getroffen habe …) Und die Neugier zu erfahren, was so geworden ist aus dem Kind und seiner Familie. Spätestens hier werden sich diejenigen, die dann doch weitergelesen haben, fragen, wann in diesem Artikel endlich konkrete Vorgehensweisen aufgezeigt werden, die Abhilfe schaffen können, wenn man es mit den „Ab’s” nicht so hat. Abschied, Abschluss, Abgrenzung. Jetzt bitte dringend die Lösungsansätze! Sätze, um sich zu lösen, zu lösen von dem, was uns beschäftigt, wenn wir uns einlassen. „Darum können wir uns nicht auch noch kümmern.“ „Man darf nicht alles mit nach Hause nehmen.“ „Du musst Dich nur besser abgrenzen.” Wie das genau gehen soll, ist mir auch nach über 30 Jahren Frühförderung noch weitgehend verborgen geblieben. Vielleicht versuchen Sie es hiermit: Atmen Sie! Gehen Sie spazieren, machen Sie Yoga. Sorgen Sie für sich. Mit allem, was Ihnen guttut. Lassen Sie Papierschiffchen fahren, die Sie zuvor (… in Gedanken natürlich …) mit einem Namen beschriftet haben. Sagen Sie Ihrer eigenen Familie, dass Sie jetzt ein wenig Ruhe brauchen und menschliche Ansprache (… egal wie nett! ) gerade nur in Maßen aushalten können. Das Limit für persönliche Kontakte ist erreicht. Stellen Sie die 85 FI 2/ 2025 Aus der Praxis Personen, die Sie nach Dienstschluss noch beschäftigen, mit einer Handbewegung neben sich (…ihr Leben ist nicht mein Leben …). Streifen Sie mit den Händen vom Körper ab, was Sie belastet, oder erzählen Sie Ihrem Partner schonungslos einfach alles (…ohne Nennung personenbezogener Daten versteht sich …)! Und mir fällt noch was ganz Wichtiges ein: Bitten Sie um eine Gehaltserhöhung! Gehalt für die Geschichten, die Sie noch Jahrzehnte später in Ihrem Kopf haben werden. Eine Vergütung für den Stress, wenn Sie durch die Straßen gehen und Ihnen Leute begegnen, bei denen Sie nicht wissen, wie Sie sich verhalten sollen. Geld für den Yogakurs und Geld für die Zeit, die Sie brauchen, um sich Stück für Stück von dem zu lösen, was Sie gesehen, gehört, gerochen oder erahnt haben. Bares für das schlechte Gewissen, wenn Sie liebevoll gestaltete Kunstwerke oder nicht zu Ihnen passende Geschenke wegwerfen. Eine Zuwendung für alle Momente, in denen Sie sich verabschieden müssen, nicht helfen können oder in denen Menschen weitergezogen sind, die in Ihrem eigenen Leben Bedeutung hatten. Die prägend waren, weil sie Sie vor Probleme und Herausforderungen gestellt haben, an denen Sie Erfahrungen sammeln konnten und gewachsen sind. Perfekt geschult für die nächsten Kinder. Die nächsten Familien. Üben Sie Einlassen, Auslassen und Loslassen! Denn die Gehaltserhöhung werden sie nicht bekommen. Vielleicht ein wenig mehr Raum und Zeit, um von Erlebtem zu berichten. Gelegenheit, um zu trauern oder um sich gemeinsam von etwas oder jemandem zu verabschieden. Vielleicht können Sie erreichen, dass Ihnen mit Verständnis begegnet wird, wenn sie Familien über den professionellen Rahmen hinaus unterstützt haben. Wenn Sie nicht widerstehen konnten und den ganzen Nachmittag telefoniert haben, um eine Hilfe oder einen Kindergartenplatz für das Kind und seine Eltern zu bekommen. Weil Sie es nicht anders ausgehalten haben. Vielleicht ist es zumindest möglich, die Komplexität von Abschieden und Abgrenzung anzuerkennen. Zu wissen, dass es nicht in allen Fällen leicht ist, klare Grenzen zu ziehen, obwohl man es besser wüsste. Vielleicht ist es dann auch leichter, sich selbst zu vergeben, insbesondere dann, wenn die Wünsche ans Universum und Gebete nicht erhört werden und das Gehirn sich nicht abschalten lässt. Martina Wolf Arbeitsstelle Frühförderung Bayern Seidlstraße 18 a 80335 München E-Mail: m.wolf@affby.de