Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2025.art16d
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Rezension: Klaus Sarimski: Frühförderung bei schwerster Behinderung. Ein familienorientiertes Konzept für die Praxis
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Lothar Unzner
Klaus Sarimski nimmt Kinder in den Blick, die alle Beteiligten vor große Herausforderungen stellen, Kinder, bei denen schon in den ersten Lebensjahren eine schwerste Behinderung zu erkennen ist, und stellt ein familienorientiertes Konzept der Frühförderung bei schwerster Behinderung vor.
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145 FI 3/ 2025 REZENSION Klaus Sarimski Frühförderung bei schwerster Behinderung Ein familienorientiertes Konzept für die Praxis 2022. Kohlhammer, 167 S., € 34,- Klaus Sarimski nimmt Kinder in den Blick, die alle Beteiligten vor große Herausforderungen stellen, Kinder, bei denen schon in den ersten Lebensjahren eine schwerste Behinderung zu erkennen ist, und stellt ein familienorientiertes Konzept der Frühförderung bei schwerster Behinderung vor. Im ersten Kapitel definiert Sarimski die Zielgruppe. Schwerste intellektuelle und motorische Behinderungen treten häufig in Verbindung mit Sinnesbeeinträchtigungen und vielfach zusätzlichen gesundheitlichen Problemen auf. Es sind Kinder, die in ihren Lebensvollzügen in gravierendem Maße beeinträchtigt sind und bei denen lebenslanger Unterstützungsbedarf und ein hohes Maß an sozialer Abhängigkeit besteht. Er diskutiert den Begriff der Lebensqualität, die bei Kindern mit schwerster Behinderung untrennbar mit der Lebensqualität der Eltern und Geschwister verbunden ist. Übergeordnetes Ziel der Frühförderung ist es, emotionales Wohlbefinden, Teilhabe an Aktivitäten und die Qualität der emotionalen Beziehungen zu unterstützen. Das zweite Kapitel gibt einen Überblick über Studien zu familiären Alltagsaktivitäten und zum Belastungserleben. Diese zeigen, dass auch Kinder mit schwerster Behinderung Bindungen an ihre Eltern aufbauen, aber soziale Interaktionen hohe Anforderungen an die elterliche Feinfühligkeit stellen. Auch die Sichtweise der Geschwister ist wichtig, um auf die Bedürfnisse der gesamten Familie im Frühförderprozess einzugehen. Ausgehend von diesen Studien zur Lebensqualität können Ansatzpunkte für die Förderung des Kindes und der Beratung der Eltern abgeleitet werden (Kapitel 3). Die diagnostische Einschätzung der Ausgangssituation (z. B. der Responsivität des Kindes) bildet die Grundlage für die Unterstützung der Eltern. Hilfreich sind hier die Leitfragen für Elterngespräche. Eltern müssen sich in ihrer Kommunikation mit dem Kind auf dessen Unterstützungsbedarf einstellen. So bedarf es der Stärkung der Responsivität der Bezugspersonen und eine systematische Anbahnung kommunikativer Fähigkeiten beim Kind. „Intensive Interaction“, Videoaufzeichnungen, orientiert an EPB, STEEP oder Marte Meo, oder Unterstützte Kommunikation werden besprochen. Das schwerstbehinderte Kind braucht auch Hilfe, die Welt zu erkunden und Sinneserfahrungen zu machen. Es braucht eine „responsive“ Umgebung, die auch Eigeninitiative fördert und Erfahrungen der Selbstwirksamkeit ermöglicht, so durch Förderung der Motorik. Es werden Behandlungskonzepte der Physiotherapie beschrieben. Ein bedeutsamer Punkt ist die Früherkennung von Beeinträchtigungen des Sehens und des Hörens. Ebenso wichtig ist es, Eltern bei Problemen bei der Nahrungsaufnahme zu unterstützen. Im vierten Kapitel führt Sarimski in die Prinzipien und Wirkungen eines familienorientierten Konzeptes in der Frühförderung ein. Er referiert Studien zu Erwartungen der Eltern in die Zusammenarbeit mit den Fachkräften bei schwerster Behinderung des Kindes, zur Zufriedenheit mit der Unterstützung, und daraus abgeleitet Wünsche nach mehr Unterstützung in bestimmten Bereichen, für eine Partnerschaft mit den Fachkräften und der Anerkennung der Expertise der Eltern für das eigene Kind. Dann geht es aktiv und ausführlich in die Praxis: Familienorientierte Frühförderung beginnt mit dem Erstgespräch (Leitfragen), auch der Aspekt 146 FI 3/ 2025 Rezension Nachwirkungen der Diagnosevermittlung und die Frage nach Alltagsaktivitäten sind von Bedeutung. Hier dient die ICF als Leitlinie. Anschließend wird die Bedeutung des Hausbesuchs als Setting herausgearbeitet, auch schon für das Erstgespräch. Fachliche Beratung, aber auch Wertschätzung und Erkennen der Belastungen sind wichtige Elemente. Und nicht vergessen: der Vater, Geschwister und evtl. die Großeltern müssen einbezogen werden. Eine Aufgabe der Frühförderung ist ihre Lotsenfunktion, z. B. zu Selbsthilfegruppen. Sozialrechtliche Hilfen werden ausführlich dargestellt, u. a. auch der Ist-Stand für finanzielle Hilfen, die Aufgaben und Pflichten von Krankenkassen, Pflegekasse, Sozial- und Eingliederungshilfe. Weiterhin bedarf es der Sensibilität für Unterschiede bei Migrationshintergrund. In Kapitel 5 geht es um besondere Pflegebedürfnisse, z. B. Sondenernährung, Beatmung, Trachealkanüle. Diese stellen große Herausforderungen an und Belastungen für die Eltern dar. Sie haben einen großen Unterstützungsbedarf durch die Fachkräfte der Frühförderstelle. Diese Eltern erleben große Belastungen im familiären Alltag, sind besorgt bei außerhäuslichen Aktivitäten, fühlen sich dabei oft nicht genügend informiert oder unterstützt. Die Frühförderfachkraft ist oft die einzige kontinuierliche und langfristigste Unterstützung. Die Aufgaben der Frühförderung werden deutlich herausgearbeitet. Das letzte Kapitel thematisiert die Integration in Kindertagesstätten. Die Erwartungen und Einstellungen von Eltern und pädagogischen Fachkräften unterscheiden sich hinsichtlich inklusiver Betreuung, mit deutlicherer Skepsis bei Letzteren, besonders hinsichtlich Kinder mit schwerster Behinderung. Die Aufgabe der Frühförderstelle beginnt bei der Unterstützung der Eltern bei der Suche geeigneter Einrichtungen. Dann ist im inklusiven Kontext die Kooperation mit und Unterstützung durch Frühförderstellen notwendig und wichtig. Die Eltern sind in der Regel mit der Zusammenarbeit mit den pädagogischen Fachkräften sowohl im inklusiven Kontext wie auch in Schulkindergärten an Förderzentren zufrieden. In inklusiven Kontexten haben die Kinder mehr soziale Interaktionen als in Schulkindergärten an einer Förderschule; die Anwesenheit unbeeinträchtigter Kinder begünstigt soziale Kontakte. Der Einsatz von Assistenzkräften bietet nicht die Gewähr, dass die soziale Teilhabe wirksam gefördert wird; hier ist noch Verbesserungsbedarf. Wichtig ist die spezifische Anpassung der Umgebung und die Integration von Pflege und Pädagogik. Dafür gibt es noch Qualifizierungsbedarf der pädagogischen Fachkräfte. Sensibilität und Responsivität sind entscheidende Wirkfaktoren. Leitfragen und viele grafische Darstellungen von Zusammenhängen lockern den Text auf und unterstützen die Ausführungen. So ist ein Leitfaden entstanden, an dem sich Fachkräfte in Frühförderstellen, SPZ oder Therapiepraxen orientieren können, um den besonderen Bedürfnissen dieser Kinder, ihren Eltern und Geschwistern gerecht zu werden. Lothar Unzner DOI 10.2378/ fi2025.art16d
