mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Pferdegestützte Bewegungstherapie bei Essstörungen
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Katharina Alexandridis
Inhalte und Methoden des Natural Horsemanship (nach Pat Parelli) werden beschrieben und in der Verbindung mit aktuellen bewegungstherapeutischen Behandlungsmethoden bei Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und "Binge-Eating"-Störung dargestellt. Diese Zusammenführung ergibt eine pferdgestützte bewegungstherapeutische Methode zur Behandlung von Essstörungen, welche anhand konkreter Praxisbeispiele beschrieben wird. Der Ausblick auf eine laufende Evaluationsstudie schließt den Artikel ab.
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Katharina Alexandridis Inhalte und Methoden des Natural Horsemanship (nach Pat Parelli) werden beschrieben und in der Verbindung mit aktuellen bewegungstherapeutischen Behandlungsmethoden bei Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und „Binge-Eating“-Störung dargestellt. Diese Zusammenführung ergibt eine pferdgestützte bewegungstherapeutische Methode zur Behandlung von Essstörungen, welche anhand konkreter Praxisbeispiele beschrieben wird. Der Ausblick auf eine laufende Evaluationsstudie schließt den Artikel ab. Schlüsselbegriffe: Pferdgestütze Bewegungstherapie, Essstörungen, Anorexia nervosa, Bulimia Nervosa, „Binge-Eating“-Störung, Natural Horsemanship Pferdgestützte Bewegungstherapie bei Essstörungen mup 1|2009|13 - 26| © Ernst Reinhardt Verlag München Basel | 13 Der im Folgenden beschriebene therapeutische Ansatz zur pferdgestützten Behandlung bei Essstörungen entstand aus der Zusammenführung von Natural Horsemanship (Pat Parelli 1995) und eines im stationären und ambulanten Bereich entwickelten bewegungstherapeutischen Konzepts (Alexandridis 2005; Alexandridis et al. 2007). Körper- und bewegungsorientierte Verfahren waren für Patientinnen mit Essstörungen in jüngerer Zeit Forschungsgegenstand einiger Studien (Alexandridis 2005; Wallin et al. 1999; Müller 1998; Laumer et al.1997). Die stationäre bewegungstherapeutische Behandlung ist in der Regel eine Komponente des multidisziplinären Therapieansatzes, die für die meisten Patienten empfohlen und angeboten wird. In der ambulanten Therapie verengt sich das Therapieangebot meist auf die Psychotherapie in der Form der Einzeltherapie. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Psychotherapie, Oecotrophologie, Sozialtherapie, Gestaltungstherapie, Musiktherapie und Bewegungstherapie, wie sie in den meisten psychosomatischen und psychiatrischen Kliniken angeboten wird, findet nur noch vereinzelt statt. Für den Bereich der pferdgestützten Psychotherapien lassen sich bezüglich der Indikationsgruppen „Angststörung“ und „Schizophrenie“ verschiedene Arbeiten von Scheidhacker (1991, 1992, 2002) nennen. Für den Bereich der pferdgestützten Therapie bei Anorexia Nervosa liegt eine quantitative Studie aus dem Heilpädagogischen Voltigieren (Gathmann / Leimer 2004) vor. Fallbeispiele aus der Sicht der Therapeuten (FAPP 2004) sind zu den Krankheitsbildern Depression, Angst und posttraumatische Belastungsstörung u. a. veröffentlicht. Das diesem Beitrag zugrunde liegende Konzept hingegen ist als ein bewegungswissenschaftliches zu sehen. Die Bezeichnung pferdgestützte Bewegungstherapie ist nicht geschützt. Sie soll deutlich machen, dass das hier vorgestellte Angebot von einer Bewegungstherapeutin mit einem abgeschlossenen Bewegungsfachberuf durchgeführt wird. Die Bewegungstherapie wird mit der „Unterstützung“ des Pferdes, besser durch die Integration des Pferdes in den therapeutischen Prozess, durchgeführt. Der Umgang mit dem Pferd ist stark durch das Natural Horsemanship nach Pat Parelli (NHS) geprägt. Bewegungstherapie kann als Überbegriff für verschiedene therapeutische Verfahren oder Richtungen gesehen werden, die die Ganzheitlichkeit des Menschen in den Vordergrund stellen. Es gibt historisch betrachtet drei Ent- Pferdgestütze Bewegungstherapie bei Essstörungen Die pferdgestütze Bewegungstherapie nutzt den Körper und die Bewegung in Kontakt mit dem Pferd als Ausgangspunkt und Medium der therapeutischen Intervention. Ausgewählte körperrelevante Themen der Erkrankung werden anhand von Körper- und Bewegungserfahrung in Kontakt und durch die Kommunikation mit dem Pferd bearbeitet. Der Umgang mit dem Pferd folgt den Prinzipien des Natural Horsemanship nach Pat Parelli. Die therapeutische Wirksamkeit wird durch ergänzende verbaltherapeutische Elemente optimiert. Die Zielbereiche der pferdgestützten Bewegungstherapie ergeben sich aus der allgemeinen Pathologie und dem mit Essstörungen assoziierten Körpererleben und Bewegungsverhalten. Die Behandlung kombiniert Psychomotorische Therapie, Sporttherapie und kognitive Therapie unter Berücksichtigung motivationaler Aspekte mit dem Einsatz des Pferdes. Definition 14 | mup 1|2009 Alexandridis - Pferdgestützte Bewegungstherapie bei Essstörungen stehungsquellen von körper- und bewegungstherapeutischen Verfahren, die heute in der stationären und eingeschränkt auch der ambulanten Behandlung psychischer Erkrankungen zum Einsatz kommen: aus der Psychotherapie entstandene Methoden aus den Leibesübungen entstandene Methoden Methoden aus der Sportwissenschaft Das bewegungswissenschaftliche Verständnis dieses Artikels ist sportwissenschaftlich geprägt und definiert die pferdgestütze Bewegungstherapie entsprechend den terminologischen Vorgaben des Deutschen Verbandes für Gesundheitssport und Sporttherapie. Das Natural Horsemanship (NHS) nach Parelli basiert wie andere Methoden des Horsemanships auf dem natürlichen Verhalten des Pferdes. Es geht um die Vermittlung von Kenntnissen und Einstellungen. Die dem NHS zugrunde liegenden Prinzipien ähneln verhaltenstherapeutischen Prinzipien, ihre strukturierte und anschauliche Darstellung sowie die methodisch exakt aufeinander aufbauenden Übungen prädestinieren das NHS als Struktur gebend für die pferdgestütze Therapie bei Essstörungen. Die Pferdeausbildung nach Pat Parelli deckt die hohen Ansprüche, die an ein sicheres Therapiepferd gestellt werden, ab. B ewe g u n g sth era pie b ei E s s störu n g e n Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und die „Binge-Eating“-Störung werden unter dem Begriff Essstörung zusammengefasst. Die in Tabelle 1 dargestellten Diagnosekriterien weisen neben harten Kriterien auch auf die Psychopathologie der Essstörungen hin: Negative Selbsteinschätzung und niedriges Selbstbewusstsein Sport- und Bewegungstherapie „Sport- und Bewegungstherapie ist ärztlich indizierte und verordnete Bewegung mit verhaltensorientierten Komponenten, die vom Therapeuten geplant, dosiert, gemeinsam mit dem Arzt kontrolliert und mit dem Patienten alleine oder in der Gruppe durchgeführt wird. Sie will mit geeigneten Mitteln des Sportes, der Bewegung und der Verhaltensorientierung bei vorliegenden Schädigungen gestörte physische, psychische und psychosoziale (Alltag, Freizeit und Beruf betreffende) Beeinträchtigungen rehabilitieren bzw. Schädigungen und Risikofaktoren vorbeugen. Sport- und Bewegungstherapie beruht dabei auf medizinischen, trainings- und bewegungswissenschaftlichen und insbesondere pädagogisch-psychologischen sowie soziotherapeutischen Elementen. Dabei dienen die trainingswissenschaftlichen Aspekte besonders der Auswahl und Dosierung der körperlichen Aktivität zur Erhaltung, Förderung und Wiederherstellung. Sport- und Bewegungstherapie folgt der ICF, ist epidemiologisch begründet sowie evidenzbasiert. Sport- und Bewegungstherapie intendiert die Erlangung der Handlungs- und Sozialkompetenz des Menschen und strebt Verhaltensstabilisation oder Verhaltensänderung mit dem Ziel einer besseren Lebensqualität und Ökonomisierung im Gesundheitswesen an.“ (Deutscher Verband für Gesundheitssport und Sporttherapie o.J.) Definition Alexandridis - Pferdgestützte Bewegungstherapie bei Essstörungen mup 1|2009 | 15 Negatives Körperkonzept Identifikation mit Schönheitsidealen Perfektionismus Angst vor dem Erwachsen werden (Anorexia nervosa) Ambivalenz zwischen dem Wunsch nach Autonomie und Sicherheit Dichotomes Erleben von Vertrauen und Misstrauen Angst vor Nähe und emotionalem Kontrollverlust Tabelle 1: Diagnostische Kriterien für Essstörungen (nach Fichter 2008) Anorexia nervosa (AN) ICD F 50.0 a 1. Untergewicht (Body Mass Index (BMI) von 17,5 kg/ m 2 bzw. Körpergewicht mindestens 15 % unter zu erwartendem Gewicht) 2. Selbst herbeigeführter Gewichtsverlust durch Vermeiden höher kalorischer Nahrung oder durch Erbrechen, Abführmittel, übertriebene körperliche Aktivität, Appetitzügler oder Entwässerungsmittel 3. Tief verwurzelte Angst, zu dick zu werden (Körperschemastörung) 4. Hormonelle Veränderungen (als Folge des Ernährungszustandes, Normalisierung mit Gewichtszunahme, Verzögerung der Hemmung der Entwicklungsschritte bei Erkrankungsbeginn in der Kindheit) Untertypen 50.00 Restriktive (asketische) Magersucht F50.01 Magersucht vom „Binge Eating“- und Purging-Typ mit „Purging“-Verhalten b zur Gewichtsabnahme in Verbindung mit Heißhungerattacken F50.1 Atypische Magersucht Bulimia nervosa (BN) ICD F 50.1 a 1. Übermäßige Beschäftigung mit Essen, Figur und Gewicht. Essattacken mit Verzehr großer Mengen von Nahrung in kurzer Zeit ( ≥ 2x / Woche) und Gefühl des Konzrollverlustes über das Essen 2. Selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, Fasten, Einnahme von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika, um einer Gewichtszunahme entgegenzuwirken („Purging“-Verhalten) b 3. Krankhafte Ängste davor, dick zu werden Untertypen F50.3 Atypische BN: Ein (oder mehrere) diagnostische(s) Merkmal(e) der BN F50.2 fehlen F50.4 Essattacken bei sonstigen Psychischen Störungen F50.5 Erbrechen bei sonstigen Psychischen Störungen „Binge Eating“ Störung (BES) DSM-IV c Symptomatik wie bei Bulimia nervosa, doch ohne „Purging-Verhalten“ (Erbrechen, Abführmittel etc.) 1. Wiederholte Episoden von Essattacken mit Essen von großen Mengen in relativ kurzer Zeit und Gefühl des Kontrollverlustes über das Essen 2. Die Essattacken gehen einher mit schnellerem Essen als üblich, Essen bis zu unangenehmem Völlegefühl, Essen größerer Nahrungsmengen ohne bestehendes Hungergefühl und/ oder Einnahme des Essens allein sowie Scham, Ekel, Depression oder Schuldgefühl 3. Es besteht ein deutliches Leiden wegen der Essattacken 4. Essattacken an mind. 2 Tagen / Woche über 6 Monate a ICD-10 = International Classification of Diseases der Weltgesundheitsorganisation WHO b Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, Appetitzüglern, Entwässerungsmitteln oder Klistieren c DSM-IV = Diagnostische Kriterien der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (APA) 16 | mup 1|2009 Alexandridis - Pferdgestützte Bewegungstherapie bei Essstörungen Disfunktionales Denken niedrige soziale Kompetenz, die sich im Vermeiden von Konflikten, im Konkurrenzdenken und in Schwierigkeiten sich sozial abzugrenzen zeigt Die Ziele der Bewegungstherapie bei Essstörungen stehen in enger Verbindung mit der Psychopathologie und lassen sich in Anlehnung an Hölter (1993) an den Polen Physio- und Psychotherapie ausrichten: Die Wirksamkeit einer an diesen Zielbereichen ausgerichteten bewegungstherapeutischen Intervention konnte in einer Evaluationsstudie (N=80) für Bulimia nervosa belegt werden (Alexandridis 2005). Die Inhalte und Methoden der Bewegungstherapie bei Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und „Bing-Eating“-Störung ähneln sich in den verschiedenen Behandlungszentren, da sie aus der therapeutischen Praxis entstanden. Sie werden von bewegungstherapeutischem Fachpersonal angeboten und weisen bei z. T. unterschiedlichen Schwerpunkten auch im internationalen Vergleich starke Ähnlichkeiten auf (Probst et al. 2005). Den Rahmen der Therapie bilden eine therapeutische (vgl. Ethic Codex APA, Ethikcodex DGVT), vertrauensvolle Beziehung, eine würdevolle und wertungsfreie Atmosphäre. Akzeptanz, Gleichheit, Mitbestimmung. Autonomieerleben, Freiwilligkeit und sichere Rahmenbedingungen. Erlebnisorientierte Zugänge über Musik, Spiele und Tanz sind geeignet, der Rigidität der Essstörung zu begegnen. Schwierigkeiten und Möglichkeiten sich auf Veränderungen einzulassen, sollten transparent gemacht werden. Nachbesprechungen der Erfahrungen sind ebenso wichtig wie die Kontinuität des therapeutischen Angebots. Praxisbeschreibungen von Wahrnehmungs- und Entspannungsübungen für die Bewegungstherapie bei Essstörungen sind bei Rytz (2006) und Alexandridis (2005) zu finden und sollen hier zunächst durch zwei Übungen aus der Bewegungstherapie verdeutlicht werden. Bewegungstherapeutische Übung Beispiel 1: „Übung zur Wahrnehmung von Nähe und Distanz“ (Alexandridis 2005) Die Übung wird als angeleitete Partnerübung ausgeführt. Aufeinander zugehen und bei verschiedenen Abständen (spontaner Wohlfühlabstand, sachlicher Gesprächsabstand) stehen bleiben und nachspüren. Es ist im Wechsel eine der beiden Patientinnen, die den Abstand verbal durch „Stopp sagen“ bestimmt. Sie kann solange korrigieren, bis sie sich sicher ist. Gibt es bei einem Paar individuell abweichende Abstände, so wird auch die Variante „Kompromiss“ erarbeitet. Aufmerksamkeitslenkungen werden angeleitet: Wie fühle ich mich in diesem Abstand? Sporttherapie Bewegungspsychotherapie Physische Fitness Kontrollregulation Gefühle erleben und ausdrücken Körperakzeptanz Spannungsregulation Erprobung eines gesunden Bewegungsverhaltens Realistische Körperwahrnehmung Erleben und Gestalten von Nähe und Distanz Abb. 1: Zielbereiche der Bewegungstherapie für Frauen mit Essstörungen zwischen Sporttherapie und Bewegungspsychotherapie Alexandridis - Pferdgestützte Bewegungstherapie bei Essstörungen mup 1|2009 | 17 Welche Empfindungen (Atmung, Muskeltonus, Temperaturempfinden u. a.) habe ich? Wie ändern sich die Empfindungen bei Annäherung und bei Entfernung? Mögliche Themen: Empfindungen für Nähe und Distanz sind gehemmt oder fehlen. Als therapeutische Maßnahme werden weitere Übungen zur Wahrnehmung von Nähe und Distanz angeboten. Mögliche Erklärungen für die Wahrnehmungsdefizite werden erarbeitet. Empfindungen für Nähe und Distanz sind deutlich, eigene Bedürfnisse werden aber nicht umgesetzt. Erarbeiten einer klaren Körpersprache. Überprüfung dieser Körpersprache hinsichtlich ihrer Alltagstauglichkeit. Bewegungstherapeutische Übung Beispiel 2: „Übung zur Wahrnehmung von Kraft und Zusammenhalt“ (Rytz 2006) Die Patientin stellt sich mit ausgestreckten Armen so vor eine Wand, dass die Finderspitzen die Wand berühren. Sie beugt die Knie leicht und stützt sich mit den ganzen Handflächen gegen die Wand. Durch ihr Gewicht gibt sie sowohl Druck in die Wand als auch in den Boden. Ihr Körper bildet eine flexible Verbindung zwischen Wand und Boden. Die Patientin spielt in dieser Verbindung mit Druck und Gegendruck, indem sie die Knie- und Ellenbogen Gelenke beugt und streckt, kleine Schritte vor und zurück macht, den Druck verstärkt, als ob sie die Wand wegschieben wollte. Mögliche Themen: Über die Wahrnehmung der Muskulatur wird Kraft und Zusammenhalt erlebbar. Grundlagen des Natural Horsemanship (NHS) nach Pat Parelli Seit den 80er Jahren nimmt die Verbreitung von Methoden des Umgangs mit Pferden (Horsemanship) in Deutschland deutlich zu. M. Roberts, L. Tellington-Jones, P. Pfister, H. Welz, S. Halfpenny, A. Ast, K.F. Hempfling, B. Zambeil, M. Bridges und A. Aguilar sind Namen einer fortsetzbaren Auflistung von Pferdefachleuten, die ähnliche „Philosophien“ im Umgang mit Pferden vertreten und Techniken des Umgangs und des Reitens definieren. Sie stellen nicht bestimmte Reittechniken, sondern die Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung mit dem Pferd in den Vordergrund. Pat Parelli ist einer der bekanntesten „Natural Horsemen“. Eine Systematik aller NHS-Richtungen zu erstellen überschreitet die Intention dieses Beitrags. Festzustellen bleibt, dass es zwischen den verschiedenen Richtungen bei z. T. deutlichen Unterschieden viele Überschneidungen gibt. So sind die im Folgenden beschriebenen Prinzipien des NHS nach Pat Parelli nicht abgrenzend, sondern beispielhaft zu verstehen. Pat Parelli (1995) formuliert seine Prinzipien unter dem Oberbegriff „Einstellung“. Eine Grundeinstellung des NHS ist, dass der Umgang mit dem Pferd weder aggressiv noch weichlich, sondern im Gleichgewicht zwischen den beiden Polen gestaltet wird. Der Mensch ist so sanft wie möglich und so bestimmt wie nötig. Es werden Dinge für das Pferd und mit ihm getan, ohne das Pferd zu benutzen, worunter im NHS z. B. die verbreitete Boxenhaltung und die ausschließliche Nutzung des Pferdes als Sportgerät verstanden wird. Bild 1: Therapiepferde mit Strickhalfter und 4-Meter-Seil 18 | mup 1|2009 Alexandridis - Pferdgestützte Bewegungstherapie bei Essstörungen Nach den Prinzipien des NHS wird das Pferd als Flucht- und Herdentier anerkannt. Die natürlichen Bedürfnisse Gefahr zu bemerken, bei Angst zu fliehen und in Herden zu leben, werden respektiert. D. h. der Mensch übernimmt als Leittier Verantwortung im Erkennen von Gefahren und gibt dem Pferd Sicherheit. Das Pferd lernt in vielfältigen Wahrnehmungs- und Bewegungsübungen nach dem Prinzip der Desensibilisierung (z. B. „Scheutraining“), dass es im Vertrauen auf den Menschen seinen Fluchtinstinkt kontrollieren kann. Der Mensch gewöhnt das Pferd an Angst auslösende Reize, indem er diese stufenweise steigert. Erst wenn das Pferd durch Ausbleiben von Stresssymptomen (motorische Unruhe, schnaubende Atmung, muskuläre Anspannung etc.) eine Reizstufe habituiert hat, wird mit der Steigerung fortgefahren. Das Vertrauen in den Menschen wird dadurch bestätigt, dass dem Pferd nichts passiert. Pferde binden sich an Menschen, mit denen sie Angst überwindende Erfahrungen machen konnten. Sie vertrauen ihnen dann in neuen Situationen eher als Fremden, z. B. beim Durchschreiten eines morastigen Untergrundes und wenn sie sich in enge Räume begeben. Um im Hier und Jetzt eine konzentrierte Beziehung zum Pferd zu haben, ist es wichtig den Kontakt mit dem Pferd abwechslungsreich zu gestalten. Diese Beziehung entwickelt sich über Kommunikation. Um dem Aspekt der Gegenseitigkeit von Kommunikation zu erfüllen, muss der Mensch sich für den meist körpersprachlichen Ausdruck des Pferdes öffnen und verhält sich in Anpassung an das Pferd. Die Wahrnehmung der aktuellen Bedürfnisse des Pferdes ist Vorraussetzung für den fairen Umgang. In einem partnerschaftlichen, spielerischen Rahmen sorgt der Mensch dafür, dass unerwünschte Dinge schwierig und erwünschte Dinge dem Pferd leicht erscheinen. Partnerschaftlich-spielerisch meint hier, dass das Pferd die Begegnung mit dem Menschen entsprechend seinen sozialen Kontakten in der Herde erlebt. Die im folgenden Text noch genauer beschriebenen Übungen des NHS werden auch als Spiele bezeichnet, weil sie den spielerischen Bewegungen der Tiere in der Herde entlehnt sind. Der Mensch vertraut darauf, dass das Pferd das tut, was er möchte, ist aber darauf eingerichtet einzugreifen. Das Pferd wird auf leichte Hilfen sensibilisiert, da jede Aufforderung über ein abgestuftes Vorgehen von zart bis deutlich konsequent kommuniziert wird und bei erwünschten Verhalten eine spontane Erleichterung geschaffen wird. In der Sprache der Verhaltenstherapie handelt es sich um eine Verhaltenformung durch operantes Konditionieren unter Einsatz von negativen Verstärkern, d. h. erwünschtes Verhalten des Pferdes führt dazu, dass ein als nicht angenehm empfundener Zustand beendet wird (Fumi 2008). Die Sensibilisierung ergibt sich daraus, dass die stufenweise Darbietung der negativen Verstärker auf jeder Stufe zu Gunsten der Erleichterung bei erwünschten Verhalten unterbrochen werden kann (klassische Konditionierung). Am Beispiel des „Rückwärts-Schickens“ eines Pferdes lässt sich das „Prinzip der Sensibilisierung“ (Pat Parelli) verdeutlichen. Ausgangsposition ist das frontal vor dem Menschen stehende Pferd am 4-Meter-Seil. Die abgestuften Zeichen sind: 1. Stufe: Rechts-Links-Bewegungen mit dem erhobenen Zeigefinger (Keine Auswirkung auf die Bewegung des Seils) 2. Stufe: Rechts-Links-Bewegungen mit der Hand (Keine Auswirkung auf die Bewegung des Seils) 3. Stufe: Rechts-Links-Bewegungen mit dem Unterarm (Leichte Auswirkungen auf die Bewegung des Seils) 4. Stufe: Rechts-Links-Bewegungen mit dem ganzen Arm, die Bewegung entsteht in der Körpermitte (Starke Auswirkungen auf die Bewegung des Seils) Alexandridis - Pferdgestützte Bewegungstherapie bei Essstörungen mup 1|2009 | 19 Da das Seil mit einem Metallhaken am Strickhalfter befestigt ist, ist der Seilschwung für das Pferd unangenehm. Ab Stufe 3 kann von der Darbietung eines negativen Verstärkers gesprochen werde. Bis Stufe 2 sind die Aufforderungsreize als neutral zu werten. Die Antizipation der negativen Reize, motiviert das Pferd die negativen Reize zu vermeiden, indem es rückwärts geht. Im Sinne der Sensibilisierung ist es wichtig, den Aufforderungsreiz so früh wie möglich zu unterbrechen. Hierbei wird eine Gewichtsverlagerung, die eine Vorraussetzung zum Rückwärtsgehen ist, sofort mit der Unterbrechung des Reizes „belohnt“. Die Körpersprache des Pferdes zu verstehen und sich der eigenen Körpersprache bewusst zu werden und diese zu modellieren ist für die gelungene Kommunikation mit dem Pferd von Bedeutung. Pferde lernen von Menschen und Menschen von Pferden. Die Kombination von erfahrenen Reitern und unerfahrenen Pferden und umgekehrt ist für eine funktionierende Beziehung günstig. Andererseits sollte ein ungeschulter Mensch möglichst nicht mit einem unausgebildeten Pferd arbeiten. Im NHS werden Techniken der Bodenarbeit und des Reitens vermittelt. Die methodische Vorgehensweise geht über die Bodenarbeit zum Reiten. Die Übungen sind so gestaltet, dass jede Wahrnehmungs- oder Bewegungsübung vom Boden ihre Verbindung zu reiterlichen Hilfen, der Haltung des Pferdes unter dem Reiter und der Qualität der Bewegung im Sinne der Gymnastisierung hat. Grundsätze, z. B. erwünschtes Verhalten einfach zu machen und unerwünschtes Verhalten schwierig zu machen, sind im NHS wichtiger als Lektionen. Trotzdem wird immer situationsangemessenes und flexibles Verhalten groß geschrieben. Im NHS spricht man in diesem Zusammenhang von mentaler, emotionaler und physischer Fitness, die erforderlich sind, um eben dieses situationsangepasste Verhalten zeigen zu können. Hierin zeigt sich die hohe Anforderung des NHS an die Lernfähigkeit des Menschen. Die Pferdgestützte Bewegungstherapie Die Verbindung von Bewegungstherapie und Natural Horsemanship bietet sich theoretisch aus verschiedenen Gründen an. Das Pferd gibt den Patientinnen Feedback darüber, wie sie in ihrem Selbstausdruck wirken. Sie erfahren, dass Präsenz, Klarheit und Durchsetzungsvermögen in der Beziehungsgestaltung zielführend sind. Die Rückmeldung des Pferdes wird eher ohne Kränkung angenommen als die von Menschen. Am Beispiel wird deutlich, dass das Pferd die Unruhe von Frau C. gespürt und gespiegelt Frau C., 22 Jahre, Patientin mit Bulimia nervosa & Borderlinepersönlichkeitsstörung Frau C. ist auch im klinischen Rahmen nicht in der Lage, ihr selbstverletzendes Verhalten zu kontrollieren. Die in der Fertigkeitengruppe (DBT nach Linehan) erarbeiteten „Skills“ lehnt sie als wirkungslos ab. In einem emotional instabilen Zustand kommt Frau C. in die Reittherapie und möchte heute mit dem „bestausgebildeten Pferd arbeiten, von dem sie schon so viel erstaunliche Dinge gehört hat“ (Summy). In der Bodenarbeit bleibt Summy nicht stehen, tänzelt, geht seitwärts, piaffiert. Frau C. wendet sich lachend an mich und gibt an „gar nichts zu machen“. Ich bitte sie, sich ganz auf das Stehen im „Hier und Jetzt“ zu konzentrieren und innerlich ruhig zu werden, in dem sie die Aufmerksamkeit auf ihre Füße am Boden zu lenkt und den Atem weit fließen lässt. Frau C. konzentriert sich und entwickelt eine innere und äußere Ruhe, die sich auf das Pferd überträgt. Sie ist stolz auf ihre Wirkung. Im weiteren Verlauf lasse ich sie Ziele fokussieren und mit Strickhalfter am langen Zügel, durch den Blick und Konzentration auf das Ziel anreiten. Frau C. kommt in eine ruhige und klare Verbindung zum Pferd und genießt die Harmonie. Beispiel 20 | mup 1|2009 Alexandridis - Pferdgestützte Bewegungstherapie bei Essstörungen hat. Hätte ein Therapeut das Gleiche durch eine verbale Rückmeldung getan, wäre vielleicht wie in anderen Bereichen der Therapie Widerstand entstanden. Perfektionismus ist ein wichtiges Thema in der Therapie von Essstörungen und lässt sich im Umgang mit dem Pferd gut thematisieren und bearbeiten. Auch Patientinnen, die noch nie mit Pferden gearbeitet haben, kommen mit hohen Ansprüchen im Sinne eines „Ich muss alles richtig machen“ in die Therapie. Sie erleben den Umgang mit dem Pferd dann aber so flexibel, dass es schwer möglich ist zu erkennen, was falsch oder richtig oder perfekt richtig ist. Das abgestufte Vorgehen wirkt auf verschiedene Weise dem Perfektionismus entgegen. Zum einen wird die Patientin damit konfrontiert, nach dem Prinzip der Sensibilisierung (s. o.) einen negativen Reiz sofort wegzunehmen und nicht erst dann, wenn das Pferd die gewünschte Strecke rückwärts gegangen ist. Sie erlebt aber dabei auch, dass gerade diese frühe Erleichterung das Pferd dazu bringt, auf sehr leichte Aufforderungen zu reagieren. An dieser Stelle bietet es sich an, mit der Patientin nach einem möglichen Transfer im Umgang mit sich selbst zu schauen. Der Dominanzanspruch des NHS im Umgang mit dem Pferd bereitet den Patientinnen mit Essstörungen zunächst oft Probleme. Das dominante Auftreten fordert eine klare Wahrnehmung des eigenen Raumes, Erdung, Präsenz, Klarheit, Zielgerichtetheit. Es setzt voraus, dass die Patientin ihre Bedürfnisse über die des Pferdes stellt. In der pferdgestützen Bewegungstherapie wird transparent gemacht, dass auf der einen Seite Unterordnung der Dominanz der Leitstute und ranghöheren Tieren in der Herde ein natürlicher Zustand für das Pferd ist, auf der anderen Seite das Reiten und das Pferd als Haustier als unnatürlich betrachtet werden kann. Es ist damit eine persönliche Entscheidung, ob und wie man sich dem Pferd gegenüber verhalten will. Im NHS wird der Weg verfolgt, sich möglichst in der Sprache und nach den Regeln der „Pferdewelt“ mit dem Pferd zu beschäftigen und in der Haltung dem Pferd einen möglichst natürlichen Freiraum zur Verfügung zu stellen. Als Anbieter stellen wir uns die Frage, wie viel Freizeit ein Pferd braucht, um gesund zu sein. Körperliche und psychische Gesundheit sind auch für Pferde ein gutes Mass um zu beurteilen, ob die Rahmenbedingungen stimmen. In der Essstörungstherapie geht es darum, die Patientinnen darin zu unterstützen, Kontrolle über ihre Gesundheit zu erlangen. Sie sollen lernen, wieder die Führung in ihrem Leben zu übernehmen und den Mut entwickeln, nach ihren gesunden Bedürfnissen und nicht nach denen der Essstörung zu richten. Die Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass Patientinnen den „Druck“, der auf das Pferd ausgerichtet wird, nicht in Spiegelwirkung gegen sich selbst erleben. Die Patientinnen erleben auch den „Druck“ der Therapie nicht als Druck gegen ihre Person, sondern gegen ihre Erkrankung. Wobei hier zu berücksichtigen ist, Bild 2: Gleichgewicht auf zwei Pferden Foto: Manuela Blöchinger Alexandridis - Pferdgestützte Bewegungstherapie bei Essstörungen mup 1|2009 | 21 dass es Stadien der Erkrankung gibt, in denen Patienten nicht in der Lage sind, zwischen gesunden Anteilen und der Erkrankung zu unterscheiden. Die Patientinnen sind dem Pferd gegenüber in der Regel sehr liebevoll zugewandt, Berührungen und körperliche Nähe sind spontan möglich. Dieses wird als Brücke genutzt, um wertfreie Selbstberührungen möglich zu machen. Zum Beispiel legt die Patientin beim „Verwurzeltem Stand“ beide Hände auf eine Seite des vorderen Rückens des Pferdes und spürt mit den Handinnenflächen die Atembewegung des Pferdes nach. Entsteht ein positives Gefühl, legt die Patientin eine Hand auf einen Atemraum des eigenen Körpers, die andere Hand bleibt am Pferd und die Patientin richtet ihre Aufmerksamkeit in gleicher zugewandter Weise auf sich und auf das Pferd. Rahmenbedingungen Die Therapieeinheiten finden auf dem Mesnerhof in Thalkirchen (Oberbayern) statt. Der Hof bietet Klassisch Iberisches Reiten, Natural Horsemanship, Pferdeausbildung und Beritt an. Insgesamt leben 17 Ponys und Pferde auf dem Hof. 6 Pferde sind für die pferdgestütze Bewegungstherapie und den Unterricht ausgebildet, 2 sind in Ausbildung. An das Pferd in der Therapie werden hohe Ansprüche in Hinblick auf Sicherheit und Verlässlichkeit gestellt um ein Vertrauen bildendes Setting zu bieten. Dieses wird zum einen durch die systematische Ausbildung und Weiterbildung der Pferde unter der Supervision einer Expertin im NHS erreicht und durch die Offenstallhaltung im Herdenverband. Zum anderen erlangen die Pferde ein großes Maß an Sicherheit und Ausgeglichenheit dadurch, dass der Umgang in Ausbildung, Unterricht und Therapie in gleicher Weise nach den Prinzipien und den Übungen des NHS gestaltet ist. Die Therapiepferde sind gleichzeitig auch „Schulpferde“ in der Klassisch Iberischen Reitschule, so dass sie nicht einseitig gefordert sind. Die Pferde gehen bis zu 3 Stunden täglich, Therapie und Unterricht finden auf dem Außenreitplatz oder im Gelände statt. Die pferdgestützte Bewegungstherapie wendet sich an Patientinnen mit Essstörungen in stationärer und ambulanter Behandlung. Während der stationären Therapie müssen die Patientinnen die Kosten selber tragen, im ambulanten Setting können die Kosten durch individuelle Absprachen z. T. von den Kassen übernommen werden. Die Zusammenarbeit mit den behandelnden Psychotherapeuten wird auf Wunsch der Patienten über Emailkontakte gepflegt und ist die Regel. Bei Bedarf wird telefonischer Kontakt aufgenommen, bei Krisen werden die Patienten den Absprachen entsprechend übergeben, Suizidalität wird abgefragt. Die pferdgestützte Bewegungstherapie wird nur bei Patienten mit ausreichender Stabilität als Monotherapie angeboten, die Verbindung mit klinischer oder ambulanter Therapie ist die Regel. Die pferdgestützte Bewegungstherapie wird für Patientinnen mit reiterlichen Vorerfahrungen jeglicher Richtungen und ohne jede Vorerfahrung angeboten. Patientinnen mit einem Körpergewicht von über 90 Kilogramm können nicht auf das Pferd, aber an der Bodenarbeit teilnehmen. Helm, feste Schuhe und dem Wetter angepasste Kleidung sowie ausreichender Sonnenschutz sind Teilnahmebedingung. Sich im Winter mit ausreichend warmer Kleidung zu versorgen ist für Patientinnen mit Anorexia nervosa häufig schwierig und wird im Rahmen der Therapie thematisiert. Struktur der Therapieeinheiten In der ersten Therapieeinheit werden der Hof und die Therapiepferde vorgestellt. Die Patientinnen dürfen sich in der ersten Stunde ihr Pferd aussuchen. Die Entscheidung für das Pferd wird ab der zweiten Stunde in Absprache mit der Therapeutin getroffen, da die Charaktere und individuellen Verhaltensweisen spezifische therapeutische Prozesse unterstützen oder 22 | mup 1|2009 Alexandridis - Pferdgestützte Bewegungstherapie bei Essstörungen behindern können. Wenn ein Pferd nicht mit einer Patientin zu Recht kommt, d. h. Stresssymptome wie motorisch Unruhe, muskuläre Anspannung, vermehrtes Äppeln und Fluchtverhalten oder aggressives Verhalten zeigt, was sehr selten der Fall ist, ist es meist auch für die Patientin nicht sinnvoll, in dieser Konstellation zu arbeiten. Aus Sicherheitsgründen holt immer die Therapeutin das Pferd aus der Herde. Ab dem Stall oder der Weide trägt das Pferd das Knotenhalfter mit dem 4,00 m langen Strick. Die Patienten führen selbständig oder unter Mithilfe der Therapeutin das Pferd zum Putzplatz und von dort auf den Reitplatz oder ins Gelände. Die Stunde beginnt mit einstimmenden Übungen am stehenden Pferd, Bewegungs- und Wahrnehmungsübungen folgen. Der Abschluss der Stunde wird durch Achtsamkeitsübungen im Stand gestaltet, die Patientin verabschiedet sich auf dem Platz, da auf der Wiese auch Privatpferde in der gleichen Herde stehen, die nicht für den therapeutischen Umgang versichert sind. Ob und welche therapeutischen Inhalte eher am Boden oder auf dem Pferd stattfinden, hängt vorrangig von den individuellen Wünschen und reiterlichen Vorerfahrungen der Patientinnen ab. Übungen aus dem NHS und der Bewegungstherapie bei Essstörungen Zunächst werden eine Übung aus dem NHS und eine Übung aus der Bewegungstherapie (genauer aus der Tanztherapie) in ihrer Adaption an die pferdgestützte Bewegungstherapie dargestellt. Darauf folgt eine tabellarische Aufzählung bewährter Übungen. Übungsbeschreibung 1 „Hinterhandweichen am Seil“ (Pferd trägt Horsemanhalfter) Stellen Sie sich mit dem Seil in der Hand vor das Pferd. Richten Sie sich in einer aufmerksamen gelassenen Spannung auf. Gehen Sie in eine deutliche Verbindung zum Boden und spüren Sie bei fließendem Atem Ihre Körpermitte. Sie nehmen Blickkontakt zum Pferd auf. Sie sind präsent und fokussiert. Wenn Sie sich in klarer Verbindung zum Pferd spüren, verstärken Sie den Blickkontakt und beginnen sich fast schleichend in Richtung Hinterbeine zu bewegen. Ihr Zeigefinger ist auf die Hinterhufe gerichtet. Ihre Körpersprache veranlasst so das Pferd sich mit seinen Hinterbeinen von Ihnen wegzubewegen. Reagiert das Pferd nicht, verstärken Sie Ihren Ausdruck, indem Sie das Seilende in Richtung Hinterteil des Pferdes schleudern. Falls dieses als Bewegungsimpuls nicht ausreicht, schleudern sie das Seil als Impulsverstärkung auf das Hinterteil des Pferdes. Soll das Pferd wieder stehen bleiben, beenden Sie Ihre Bewegungen und bleiben entspannt mit hängenden Armen stehen. Mögliche Themen und Wirkungen: Die Patientin wird sich ihrer Wirkung allein über die Körpersprache bewusst. Kompetenz erleben über den Körperausdruck, Konzentration auf den aktuellen Moment, achtsames Selbst- und Kontakterleben in unterschiedlichen Stärken und Mischungen des „Bei sich Seins“ und des „Im Kontakt Seins“ können möglich werden. Selbstbewusstsein und Beziehungsgestaltung werden positiv erlebt. Bild 3: Bei sich und in Kontakt: „Hinterhandweichen“ Alexandridis - Pferdgestützte Bewegungstherapie bei Essstörungen mup 1|2009 | 23 Übungsbeschreibung 2: „Ritual“ zur Ich-Stärkung (adaptiert aus der Bewegungstherapie/ Tanztherapie, Quelle unbekannt): Die Patientin sitzt auf dem Pferd und wird von der Therapeutin im Schritt geführt oder longiert. Geübte Patientinnen können auch selbständig Schritt reiten. Das Bewegungsritual besteht aus 10 Bewegungsabläufen, die verschiedene Aspekte des Ich- Erlebens ausdrücken. Die Therapeutin leitet in Ichform an, erklärt und demonstriert die Bewegungen im Gehen am Boden. Die Übungen sind in ihrer Reihenfolge und Bewegungsausführung variierbar. Die Erfahrung hat gezeigt, dass das erhöhte Sitzen und das Gefühl des „Getragenwerdens“ dazu führen, dass die Patientinnen sich leichter auf die Bewegungen zu Ich-Stärkung einlassen können als in der Tanztherapie. Mögliche Themen und Wirkungen: Verschiedene Aspekte des Ich-Erlebens werden ganzheitlich und individuell erfahren. Wirkungen: Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen, seelisches Gleichgewicht können entstehen. „Baustellen“ und Stärken können deutlich werden. Freude aber auch Trauer über Aspekte, die nicht zugänglich sind, werden erlebt. Bei Trauergefühlen bietet es sich an diese zu benennen und zu verstehen. Wenn zum Beispiel eine Patientin bei der Bewegung „Ich schütze mich“ zu weinen beginnt, kann der Therapeut tröstend fragen, ob sie ahnt, womit die Gefühle in Zusammenhang stehen. Welches Gefühl das deutlichste sei, usw. Oft ist es die Trauer darüber, dass die Patientin „Ich lasse mich fallen“ Oberkörper nach vorne neigen, Nacken, Kiefer, Zungengrund entspannen, abgerundete Wirbelsäule (geübte Reiter können sich nach vorne in Bauchlage oder nach hinten auf das Pferd legen) „Ich richte mich auf“ Wirbel für Wirbel aufrichten, Atem fließen lassen „Ich stütze mich“ Eine Handfläche auf den unteren Rücken legen und die andere Hand auf den Unterbauch. Der Raum zwischen den Händen dient als Zielraum der Atmung. „Ich schütze mich“ Arme vor der Brust kreuzen und die Handflächen auf die Schultern legen. Arme berühren den Oberkörper ohne zu drücken. „Ich grenze mich ab“ Die Arme in alle aus dem sicheren Sitz möglichen Richtungen ausstrecken; die Handballen führen die Bewegungen. „Ich wehre mich“ Hände zu Fäusten geballt, schützender Block der Hände und Unterarme vor dem Gesicht und Oberkörper. Eine Hand bleibt immer in der Deckung und mit der anderen Hand wird geboxt „Ich gebe, wenn ich mag (und soviel ich mag)“ Gesten des Gebens „Ich nehme und verleibe mir ein“ Weite Gesten des Nehmens. Unterarme umeinander rollen vor dem Körper abwärts zur Körpermitte. Hände als weite Schale vor der Körpermitte halten „Überprüfe was ich behalten möchte und was ich loslassen möchte“ Arme entspannt nach unten fallen lassen. Entspanntes weites Öffnen der Hände „Sichere was mir wichtig und wertvoll ist“ Sanft ineinander gelegte Hände in der Körpermitte (Symbol: „Schale für Kostbarkeiten“) „Ich wachse“ Räkeln, recken und strecken in alle Richtungen „Ich bin Ich“ Laut rhythmisch mitsprechen, eigene Stimme wahrnehmen; einen Sitzhöcker lösen (ich), anderen Sitzhöcker lösen (bin), auf beiden Sitzhöckern schwer werden (ich). 24 | mup 1|2009 Alexandridis - Pferdgestützte Bewegungstherapie bei Essstörungen sich annehmend schützen will, sich aber ablehnt und selbst verletzt. Es hat sich bewährt „Ich schütze mich“ umzuformulieren in „Ich möchte lernen mich zu schützen“. Das Ritual löst individuell aber auch situativ unterschiedlich verschiedene Empfindungen und Gefühle hervor. Nach dem körperlichen Erleben wird das Erfahrene mit der Patientin besprochen. In weiteren Übungen kann so auf die aktuellen Bedürfnisse der Patientin eingegangen werden. Als Nebeneffekt ist die Übung sehr gut geeignet, um bei Anfängern das Gleichgewicht auf dem Pferd zu fördern. Ausblick auf die Evaluationsstudie zur pferdgestützten Bewegungstherapie bei Essstörungen Eine erste laufende Studie untersucht in Form einer einzelfallanalytischen Pilotstudie die Auswirkungen der pferdgestützten Bewegungstherapie auf die Körperakzeptanz, die bewusste Selbstwahrnehmung, das Gefühlserleben, die soziale Kompetenz und das Selbstwertgefühl. 12 Patientinnen mit Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa diagnostiziert nach DSM IV werden in der von der Autorin in Zusammenarbeit mit der Universität Heidelberg durchgeführten Studie über einen Bild 4: Vom Pferd getragen schützend bei sich sein Tabelle 2: Übungssammlung Übungen adaptiert aus dem NHS Übungen adaptiert aus der Bewegungstherapie Führtechnik - Hufeauskratzen - Freundlichkeitsspiel mit und ohne Seil - Vorhandweichen als Stachelschweinspiel - * und übers Seil Hinterhandweichen als Stachelschweinspiel und über das Seil Rückwärtsschicken als Stachelschweinspiel und über das Seil Zu sich holen übers Seil und frei - Laterales Longieren - Halterreiten im Schritt frei oder geführt (Anhalten, - Rückwärts, Vorhandweichen, Rückhandweichen, Lenken, Laterale Biegungen) u. a. - * Als Stachelschweinspiel werden die Übungen bezeichnet, bei denen das Pferd über Berührungen mit den Händen , die es zum Weichen veranlassen, bewegt wird. Achtsamkeitsübungen wie: „Verwurzeltes Stehen“, - Mit den Handflächen neben der Wirbelsäule auf dem - Bauch des Pferdes die Atmung des Pferdes begleiten. Sich bäuchlings an das Pferd lehnen - Sich rücklings anlehnen - Aufmerksamkeitslenkungen von 100 % bei sich bis - 50 % bei sich und 50 % in Kontakt „Körperreisen“ auf dem Pferd - Atemübungen zum unteren Atemraum auf dem Pferd - Sich auf das Pferd helfen lassen - Selbständig auf das Pferd springen - Über das Hinterteil vom Pferd rutschen u.a - Alexandridis - Pferdgestützte Bewegungstherapie bei Essstörungen mup 1|2009 | 25 Zeitraum von 7 Wochen untersucht. Die Ergebnisse können im Frühjahr 2009 präsentiert werden. Weitere wissenschaftliche Projekte sollen folgen. Literatur Alexandridis, K. (2005): Bewegungstherapie und Bulimia nervosa - Evaluation einer stationären Körpertherapie. Diss. Deutsche Sporthochschule Köln. -, Schüle, K., Ehrig, C., Fichter, M. (2007): Bewegungstherapie bei Bulimia nervosa. Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2, 46-51 Deutscher Verband für Gesundheitssport und Sporttherapie (o. J.): Was ist Sport- und Bewegungstherapie? Definition. In: www.dvgs.de/ index. php? article_id=38&clang=0, 14.12.2008 Fachgruppe Arbeit mit dem Pferd in der Psychotherapie (FAPP) (2004): Psychotherapie mit dem Pferd. Beiträge aus der Praxis. FN Verlag, Warendorf Fichter, M. (2008): Magersucht und Bulimie. Mut für Betroffene, Angehörige und Freunde. Karger, Basel Fumi, M. (2008): Unveröff. Skript zur psychotherapeutischen Fortbildung, Medizinisch- Psychosomatische Klinik Roseneck, Prien am Chiemsee Gathmann, P., Leimer, G. (2004): Heilpädagogisches Voltigieren bei Anorexia nervosa. Peter Lang, Frankfurt a. M. Hölter, G. (1993): Mototherapie mit Erwachsenen, Sport, Spiel und Bewegung in der Psychiatrie, Psychosomatik und Suchtbehandlung. Hofmann, Schorndorf Laumer, U., Bauer, M., Fichter, M., Milz, H. 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European Eating Disorders Review 8, 200-205 Dr. Katharina Alexandridis Magister Sportwissenschaften, Master in Adapted Physical Activity (EMDAPA), seit 1996 Sport- und Bewegungstherapeutin in der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik Roseneck (Abteilung Sport- und Bewegungstherapie, Am Roseneck 6, 83209 Prien am Chiemsee), seit 2005 zusätzlich selbstständige Tätigkeit in „Pferdgestützter Entwicklungsförderung und Bewegungstherapie“ Anschrift: Dr. Katharina Alexandridis · Lindenstraße 22 · 83253 Rimsting · E-Mail: jk.alexandridis@web.de Die Autorin 26 | mup 1|2009 Alexandridis - Pferdgestützte Bewegungstherapie bei Essstörungen
