mensch & pferd international
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Systemisches Arbeiten in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd dargestellt anhand eines Fallbeispiels
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Hildegard Stockhausen
Der Beitrag beschäftigt sich mit Grundlagen des systemischen Denkens und deren Integration in die Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd. Die Realisierung dieses Konzeptes wird anhand eines Fallbeispiels aus der Praxis veranschaulicht. Die Darstellung und Reflexion einer gemeinsamen Stunde von Mutter und Kind wird in den Mittelpunkt gerückt. Dieser Fachbeitrag besteht aus zwei Teilen. Den ersten theoretischen Teil des Artikels finden Sie auf der Homepage des Ernst-Reinhardt-Verlags zu Ihrer kostenlosen Verfügung. Er verdeutlicht, welche besonderen Eigenschaften des Pferdes es besonders geeignet für den Einsatz in der systemischen Arbeit machen, und gibt einen kurzen Überblick über die möglichen Formen der systemischen Arbeit mit dem Pferd. Der zweite Teil des Fachbeitrags findet sich auf den folgenden Seiten. Hier wird die systemische Arbeit mit dem Pferd anhand eines Fallbeispiels näher erläutert.
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mup 2|2010|63-69|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2010.art05d | 63 Systemisches Arbeiten in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd dargestellt anhand eines Fallbeispiels Der Fall Marie Hildegard Stockhausen Der Beitrag beschäftigt sich mit Grundlagen des systemischen Denkens und deren Integration in die Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd. Die Realisierung dieses Konzeptes wird anhand eines Fallbeispiels aus der Praxis veranschaulicht. Die Darstellung und Reflexion einer gemeinsamen Stunde von Mutter und Kind wird in den Mittelpunkt gerückt. Schlüsselbegriffe: Kontext, Beziehungsmuster, Perspektivenwechsel, Ressourcenorientierung, Hypothesen, systemische Fragen, Joining, Therapeutisches Reiten, Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd 64 | mup 2|2010 Stockhausen - Fallbeispiel: Systemisches Arbeiten in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd Anhand eines Fallbeispiels möchte ich verdeutlichen, wie die systemische Arbeit mit dem Pferd in der Praxis umgesetzt werden kann. Hierzu wurde ein Fall ausgewählt, bei dem sich die familiären Konstellationen als recht „verwickelt“ und als in besonderem Maße bedeutsam für das Verhalten des Kindes herausstellten. Der Schwerpunkt des Fallbeispiels liegt auf der gemeinsamen Stunde mit der Mutter und ihrer Tochter am Pferd. Erstkontakt und Vorstellung Marie*, acht Jahre, wurde mir von ihrer „Stiefgroßmutter“ (Frau O.) telefonisch vorgestellt. Der direkte Auftrag an mich lautete: „Marie braucht etwas, das ihr gut tut! “. Weiterhin berichtete sie, dass derzeit die Schwierigkeiten mit Marie derart eskalierten, dass die Lehrerin Marie an manchen Tagen einen Schulverweis erteilen müsse, der die Konflikte im Elternhaus jedoch potenzieren würde. Die Mutter sei mit dieser Situation überfordert und habe zudem noch einen dreijährigen Sohn aus der jetzigen Beziehung mit dem Sohn von Frau O. Marie beschrieb sie als ein liebenswertes, motorisch unruhiges Mädchen, das nicht gelernt habe, adäquat soziale Kontakte mit anderen Kindern aufzubauen. Wir vereinbarten einen unverbindlichen Informationstermin mit der Mutter, Frau O. und Marie auf dem Pferdehof. Die Mutter erschien nicht zu diesem Termin, da der jüngere Sohn plötzlich erkrankt sei. Die Anwesenheit des Stiefvaters stand aufgrund seiner Berufstätigkeit gar nicht zur Diskussion. Meine Aufmerksamkeit lag bei dieser ersten Vorstellung zunächst bei Marie, die - in ständiger Bewegung - einen eher unsicheren Eindruck machte, als erwarte sie von mir einen tadelnden Kommentar. Dem Pferd gegenüber verhielt sie sich sehr aufgeschlossen, eher vorsichtig, aber nicht ängstlich. Marie vermochte sich bei dem ersten Kennenlernen am Pferd bereits so weit in ihrem Bewegungsbedürfnis zurückzunehmen, dass sie sich auf das Pferd einlassen konnte und interessiert spezifische Themen des Pferdes erfragte. Ihre Konzentrationsspanne war recht kurz, so dass wir zum aktiven Reiten auf dem Reitplatz übergingen. Frau O. ließ Marie in Ruhe am Pferd agieren und zog sich beobachtend aus dem Prozess zurück. Aufgrund seiner Körpergröße und seines geduldigen Charakters setzte ich „Picasso“ für die Arbeit mit Marie ein. Bereits in der Gewöhnung an den Bewegungsrhythmus des Schritt gehenden Pferdes hatte Marie Schwierigkeiten, ruhig auf „Picasso“ sitzen zu bleiben. Auf der Suche nach der mittigen Position rutschte sie ständig hin und her. Nach einigen Übungen, die mir einen ersten Einblick in ihren motorischen und kognitiven Entwicklungsstand gaben, durfte Marie „ihr“ Pferd gemeinsam mit meiner Praktikantin versorgen. In dieser Zeit besprach ich mit Frau O. die für Marie in Frage kommende Form der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd sowie einige organisatorische Dinge. Maries Mutter hatte Frau O. den Auftrag zur Wahrnehmung des heutigen Termins und zur Informationsweitergabe erteilt. Liebe Leserinnen und Leser! Dieser Fachbeitrag besteht aus zwei Teilen. Den ersten - theoretischen - Teil des Artikels finden Sie auf der Homepage des Ernst-Reinhardt-Verlags zu Ihrer kostenlosen Verfügung. Er verdeutlicht, welche besonderen Eigenschaften des Pferdes es besonders geeignet für den Einsatz in der systemischen Arbeit machen, und gibt einen kurzen Überblick über die möglichen Formen der systemischen Arbeit mit dem Pferd. Der zweite Teil des Fachbeitrags findet sich auf den folgenden Seiten. Hier wird die systemische Arbeit mit dem Pferd anhand eines Fallbeispiels näher erläutert. Bitte nutzen Sie folgenden Link, um zum theoretischen Teil des Artikels zu gelangen: www. reinhardt-verlag.de > Zeitschriften > Mensch und Pferd international > Heft 2 (2010) > Hildegard Stockhausen: Systemisches Arbeiten in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd - Theoretische Grundlagen * Namen und Kürzel wurden geändert Stockhausen - Fallbeispiel: Systemisches Arbeiten in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd mup 2|2010 | 65 Am nächsten Tag setzte sich Maries Mutter mit mir telefonisch in Verbindung und gab ihre Zustimmung für die Teilnahme Maries am Therapeutischen Reiten und für ihre Teilnahme an der Familienarbeit. Auf meine Frage nach ihren Erwartungen an das Therapeutische Reiten äußerte sie in ähnlichen Worten wie Frau O., dass Marie etwas bräuchte, das ihr gut tue. Danach befragt, woran sie erkennen könne, wenn es Marie „gut“ gehe, erklärte sie mir, dass Marie dann ruhiger und ausgeglichener sei und sie dann auf sie (die Mutter) und die Lehrerin hören würde. Abschließend bat ich die Mutter, mir besondere Fähigkeiten von Marie zu nennen. Nach etwas Überlegungszeit beschrieb sie Marie als sehr liebebedürftig und fürsorglich im Umgang mit ihrem jüngeren Bruder. Marie erhielt einen festen Termin einmal pro Woche auf „Picasso“. Da Maries Mutter keinen Führerschein besaß und sich um den jüngeren Bruder kümmern musste, übernahm Frau O. die Begleitung Maries zu den Terminen und zusätzlich deren Finanzierung. Besonderheiten, Terminabsprachen auch für die Familienarbeit wurden telefonisch mit Maries Mutter geklärt. Familiärer Hintergrund Marie wechselte nach einem halben Jahr auf der Grundschule auf eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Sprache. Frau O. teilte mir in den Kurzkontakten auf dem Hof nähere Informationen über die Familienkonstellation mit, die im Genogramm (Abb. 1) in visualisierter Form zu finden sind. Vor Maries Geburt war ihre Mutter lange Zeit mit dem Sohn von Frau O. befreundet. Herr und Frau O. standen dieser Beziehung mit Skepsis gegenüber, da ihr Sohn A. zu dem damaligen Zeitpunkt 17 Jahre und Maries Mutter erst 14 Jahre alt war. Als die Beziehung in die Brüche ging, beendete A. den Kontakt zu seinen Eltern. Maries Mutter ging sehr bald eine Beziehung zu Maries Vater ein, wurde von ihm schwanger und heiratete ihn daraufhin. Diese Ehe hielt jedoch nur bis ein knappes halbes Jahr nach Maries Geburt. Ihre Mutter ging mit Marie zurück zu ihren Eltern und nahm den Kontakt zu A. wieder auf. Marie 8 Jahre Mutter 25 Jahre Lisa 2 Jahre Klaus 4 Jahre 2. Frau Vater 29 Jahre Opa Oma Opa Oma Herr O. Frau O. Psychologe A. 28 Jahre Marvin 3 Jahre 2000 2002 Abb. 1: Genogramm zur Familienkonstellation 66 | mup 2|2010 Stockhausen - Fallbeispiel: Systemisches Arbeiten in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd Schon bald zogen sie zu dritt in eine gemeinsame Wohnung. Allmählich nahm A. auch den Kontakt zu seinen Eltern wieder auf, der aber erst regelmäßiger wurde, als Maries Mutter von A. schwanger und Maries jüngerer Bruder Marvin geboren wurde. Frau O. benannte ihre Motivation zur Kontaktaufnahme mit mir: „Marie hätte auch sein (A.s) Kind sein können.“ Erstes Arbeiten mit Marie am Pferd Marie kam regelmäßig einmal in der Woche zur Einzelförderung auf „Picasso“. In der Einzelarbeit wurde schnell deutlich, dass Marie ihre rege Phantasie- und Wunschwelt mit den realen Begebenheiten „vermischte“, die auch, unter anderem bedingt durch die unstrukturierten Kontakte zur Familie väterlicherseits, nicht leicht zu differenzieren waren. Des Weiteren zeigte sich, dass sie am Pferd ihre motorische Unruhe kontrollieren konnte, wenn ich ihr Aufträge erteilte. Mein Zutrauen in ihre Kompetenzen, diese Aufträge zu bewältigen, steigerte ihr Selbstvertrauen. Zusätzliche Anerkennung suchte sie in Form von im Vergleich zu ihrem Leistungsvermögen unrealistischen Übungsideen, bei denen sie zudem kein Gefahrenbewusstsein zeigte. Mit zunehmendem Vertrauensaufbau zu mir verloren diese spektakulären Wünsche für sie immer mehr an Bedeutung. Stattdessen schaffte sie es immer besser, sich auf die Bewegung und die Gefühlslage des Pferdes einzustellen und Bezug zu ihrer momentanen Befindlichkeit zu nehmen. Dabei benannte sie als ihr Anliegen, dass ihre Mutter mit ihr alleine etwas unternehmen, diese mal nur für sie da sein solle. Auf meinen Vorschlag, eine Stunde gemeinsam mit ihrer Mutter am Pferd zu gestalten, ging Marie begeistert ein und wollte sie schnellstmöglich danach fragen. Da die gemeinsame Stunde am Pferd sowohl Maries Hauptanliegen war, als auch dem Umgang mit den (hypothetischen) Themen von Mutter und Marie diente, vereinbarten wir einen Termin für zwei Wochen später. Hypothesen Ausgehend von den telefonischen Kontakten mit der Mutter, der bisherigen Arbeit mit Marie sowie den Informationen von Frau O., bildete ich Hypothesen zu den einzelnen Familienmitgliedern, von denen an dieser Stelle nur einige zu Marie und ihrer Mutter aufgeführt werden. In der weiteren Arbeit mit der Familie und in der gemeinsamen Stunde am Pferd wurden diese auf ihren Nutzen hin überprüft und gegebenenfalls verändert. Marie … … ist in dem unklaren Beziehungsgefüge zwischen leiblicher und neuer Familie hin- und hergerissen. Diese innere Zerrissenheit wird bereits im „Nichtfinden“ des mittigen Sitzes auf dem Pferd sichtbar: „Wo gehöre ich hin? “. … benötigt Halt, Geborgenheit und liebevolle Zuwendung von Eltern, die für sie da sind, ihr den „Rücken stärken“, an die sie sich anlehnen kann. … mit ihrer hohen motorischen Aktivität (als ihre Art der Lösung) fordert sie klare Rahmenbedingungen und Grenzen ein, die mit ihrer konsequenten und beständigen Gültigkeit ihr die benötigte Sicherheit geben (z. B. Übernahme von Aufgaben im Alltag; feste Besuchsregelung zu ihrem leiblichen Vater). Bild 1: Ruhe und Entspannung auf dem Pferderücken Stockhausen - Fallbeispiel: Systemisches Arbeiten in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd mup 2|2010 | 67 Die Mutter … … ist in ihrer Mutterrolle unsicher. Sie fühlt sich hilflos gegenüber Maries Verhalten, durch das sie ihre Erziehungsinkompetenz zusätzlich bestätigt sieht. Als mögliche Lösung überträgt sie ihre elterliche Funktion auf Frau O. … wünscht sich einerseits mehr Abgrenzung zu ihren eigenen Eltern, sucht auf der anderen Seite jemanden, der ihr sagt, was sie tun soll, und sie aus der Verantwortung entlässt. „Ihre“ Psychologin übernimmt bisher diese Aufgabe. … sieht in Marie die negativen Anteile ihres Exmannes, die einer engen Beziehung zu ihrer Tochter im Wege stehen. Beschreibung einer gemeinsamen Stunde von Mutter und Kind am Pferd Zu Beginn des vereinbarten Termins wirkte Maries Mutter unsicher, fast ängstlich vor dem, was nun auf sie zukam. Marie hingegen war freudig aufgeregt und erklärte ihrer Mutter stolz einige Besonderheiten von „Picasso“. Auf meine Frage nach den gegenseitigen Erwartungen für die heutige Stunde erwiderte Marie, dass sie mit ihrer Mutter zusammen auf „Picasso“ reiten wolle. Fast im selben Moment entgegnete die Mutter, dass sie auf gar keinen Fall aufs Pferd ginge, das hätte sie Marie bereits zu Hause erklärt. Mein Nachfragen, was sie in dem Fall befürchten würde, beantwortete sie mit ihrer Höhenangst, die sie von Kindheit an habe. Marie reagierte sichtlich enttäuscht, nahm aber meinen Hinweis an, dass dies die erste Stunde für ihre Mutter sei und diese „Picasso“ erst einmal kennenlernen müsse. Die Mutter wirkte daraufhin erleichtert und konnte sich nun offener auf die Gestaltung der Stunde einlassen. Als erste gemeinsame Aktion schlug Marie das Putzen des Pferdes vor. Da für ihre Mutter alle Handlungen, die das Pferd betrafen, neu waren, half sie ihrer Mutter und instruierte sie. Dabei zeigte Marie über einen langen Zeitraum eine konzentrierte Mitarbeit und suchte häufig die Nähe und den Körperkontakt zur Mutter. So führte sie deren Hand beim Striegeln und stand meist dicht an ihrer Seite. Versuchte die Mutter zu Beginn noch, mit mir in Kontakt zu treten, ließ sie sich nach einiger Zeit immer mehr auf Marie, die Reaktionen des Pferdes und die für sie neuen Aktionen ein. „Picasso“ schien die Besonderheit dieser Situation zu spüren, indem er absolut ruhig stehen blieb, den Anweisungen Maries folgte und durch sanftes Anstoßen Maries Mutter zum Kontakt aufforderte. Im Anschluss an das gemeinsame Putzen machte Marie den Vorschlag, dass sie auf „Picasso“ reiten und ihre Mutter sie führen könne. Diese Vorgehensweise war, nach dem ersten Kennenlernen von „Picasso“, für die Mutter akzeptabel. Auch in dieser Situation erklärte Marie ihr, wie sie das Pferd zu führen habe und sie diesem Grenzen setzen müsse, sowie in welche Richtung sie mit dem Pferd gehen wollte. Abgesehen von ihrem Wissensvorsprung, durch den ihre bisherigen Instruktionen zu erklären waren, bekamen die Anweisungen immer mehr einen bestimmenden Charakter. Auf meine Frage an die Mutter, ob sie das von anderen Situationen her kenne, stellte diese fest, dass im Alltag in der Regel Marie den Weg vorgebe und sie auf ihr Verhalten hin reagiere. Das legte die Frage nahe, wer denn in der aktuellen Situation aktiv einen anderen führe, ergo die Führung innehabe. Erstaunt erkannte sie, dass sie selbst dies sei, zumindest für das Pferd. Ich bot ihr an, „Picasso“ an bestimmten Punkten anzuhalten, das von ihr ein deutliches Agieren mit dem Pferd erforderte. „Picasso“ zeigte jedoch nicht direkt das gewünschte Verhalten. In der konträren Reflexion was sie tun müsse, damit das Pferd auf gar keinen Fall stehen bleibe, wurde ihr klar, dass sie „Picasso“ gegenüber keine eindeutigen Anweisungen gegeben hatte, ihre Körpersprache zudem gegensätzlich zu ihren verbalen Aufforderungen gewesen war. Maries Mutter versuchte erneut das Pferd anzuhalten, achtete diesmal jedoch konzentriert auf „Picassos“ Reaktionen und auf klares und konsequentes Agieren ihrerseits. Als „Picasso“ ihren Anweisungen folgte, lobte Marie spontan ihre Mutter. Bestärkt durch dieses positive Erlebnis, hielt sie das Pferd mit zunehmender Sicherheit noch 68 | mup 2|2010 Stockhausen - Fallbeispiel: Systemisches Arbeiten in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd einige Male an. Marie wurde dies inzwischen zu langweilig, und sie begann ihrer Mutter erneut die Richtung vorzugeben. Im ersten Moment reagierte diese auch gewohnheitsmäßig darauf, doch mit einem Male begann sie auch Marie gegenüber mit einem „Nein, später! “, erste Grenzen zu setzen. Von dieser Reaktion überrascht, ließ Marie ihre Mutter zunächst agieren, bis sie eine mögliche Lösung für die Interessen beider vorschlug: Drei Stationen darf jeder abwechselnd bestimmen. Auf diesem Weg fand eine erste kommunikative Annäherung von Mutter und Tochter statt, bei der die Wünsche des anderen wahrgenommen und letztendlich respektiert wurden. Bei der Verabschiedung von „Picasso“ wurde nicht nur dieser liebevoll gestreichelt, auch Marie drückte ihre Mutter, die diese spontane Reaktion erwiderte. Beide äußerten den Wunsch, die Gestaltung einer gemeinsamen Stunde mit dem Pferd zu wiederholen. Reflexion der Stunde In dem anschließenden Gespräch über den Verlauf der Stunde wurde das gemeinsame Erleben am Pferd, mögliche Ideen und Beobachtungen dazu von jedem Einzelnen thematisiert. Hierbei wurde deutlich, dass Maries Mutter ihre Tochter aus einem ganz anderen Blickwinkel heraus wahrgenommen und ihr die Konzentration und die Ruhe am Pferd nicht zugetraut hatte. Die Bedeutung ihrer motorischen Unruhe und ihr Streben nach Aufmerksamkeit verloren innerhalb dieses neuen Kontextes, mit dem Pferd als wichtigem Bezugspunkt, ihren Sinn. Sie waren in diesem Rahmen nicht mehr „nützlich“. Der Einsatz des Pferdes bedeutete für beide einen Unterschied zum Bekannten, der eine Veränderung ihrer gegenseitigen Wahrnehmung und der bisherigen Beziehungsmuster möglich machte. Auf meine Frage, welche Stärken des anderen jeder von ihnen entdeckt habe, benannte Marie die eindeutige Führungsposition ihrer Mutter gegenüber „Picasso“. Die Übernahme von Verantwortung und damit einer elterlichen Funktion von Seiten der Mutter war für Marie entlastend. Sie konnte sich durch diese neuen Rahmenbedingungen von ihrer bisherigen Rolle lösen und die sichere Führung und die Geborgenheit auf dem Pferd eine Zeit lang genießen. Als Maries Stärke benannte ihre Mutter zusätzlich Maries Fähigkeit, zum Schluss der Stunde auf verbalem Wege einen Dialog unter Berücksichtigung beiderseitiger Interessen mit ihr einzugehen. Dies warf die Frage auf, wie beide ihre Beziehung in Zukunft gerne gestalten wollten, welche Faktoren dafür hilfreich oder hinderlich seien. Die Erfahrungen der gemeinsamen Stunde, die eine beidseitige Annäherung und die Neugestaltung der bisherigen Beziehungsmuster initiiert hatte, wollten beide versuchen, als wertvolle Ressource in den familiären Alltag zu übertragen. Meine Rolle in diesem Prozess bestand zunächst in der Beobachtung der Kommunikations- und Beziehungsmuster zwischen allen Beteiligten, aus denen sich mehrere Interventionsmöglichkei- Hildegard Stockhausen Dipl. Sozialpädagogin, Reitpädagogin (DKThR), Systemische Beraterin (SG), Ausbildung in klientenzentrierter Gesprächsführung und Psychomotorik, langjährige Erfahrung in der Heimerziehung und im Therapeutischen Reiten, seit 1996 eigene Praxis für Therapeutisches Reiten und Systemische Beratung, Referentin im Bereich der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd unter psychomotorischen Aspekten sowie unter systemischen Gesichtspunkten Anschrift: Hildegard Stockhausen Ruttscheiderstraße 28 53639 Königswinter E-Mail: StockhausenHilde@aol.com Die Autorin Stockhausen - Fallbeispiel: Systemisches Arbeiten in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd mup 2|2010 | 69 ten meinerseits ergaben. Einerseits bot sich auf der Handlungsebene die Gelegenheit, bestimmte Themen durch den gezielten Einsatz des Pferdes zu vertiefen (z. B. Führen und Folgen). Andererseits erhielt ich auf der verbalen Ebene mit Hilfe systemischer Fragen weitere Informationen über den Beziehungskontext, die für die Überprüfung und Neubildung meiner Hypothesen und für die weitere Arbeit nützlich waren. Außerdem dienten diese dazu, Marie und ihre Mutter in ihren bekannten Denkmustern zu irritieren, ihren Blickwinkel zu erweitern und den Fokus mehr auf die Ressourcen und Kompetenzen des Anderen zu richten. Ihre gemeinsame Stunde am Pferd hatte somit ihren „Möglichkeitsraum“ an Perspektiven und Handlungen erweitert, sowie ihnen mit dem Pferd einen neutralen und wertfreien Aktionsraum für die Entwicklung und Erprobung neuer Beziehungsmöglichkeiten gegeben. Der Wechsel vom „Kontext des Versagens zum Kontext der Kompetenz“ wurde hier vollzogen. Fazit In diesem Artikel wurde anhand eines Fallbeispiels beschrieben, wie der Einbezug des Pferdes in die Familienberatung wirksam gestaltet werden kann. Für welche Anzahl an Fällen sich dies in der Praxis realisieren lässt und auf welchen Einsatzbereich dabei der Schwerpunkt liegt, hängt von der Indikation und den jeweiligen Aufträgen ab. Wie bereits erwähnt, verändert sich häufig die Auftragsstellung der Familie von der individuellen pädagogischen Förderung des „Problemkindes“ zur Arbeit mit dem Gesamt- oder Teilsystem. Des Weiteren macht die Vielschichtigkeit der Klientel in der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd nicht in jedem Fall ein systemisches Arbeiten mit dem Familienkontext erforderlich. In einigen Fällen reicht die „normale“ Form pädagogischer Elternarbeit. Die Übertragung der positiven Erfahrungen und Blickfelderweiterungen in den Alltag erfolgt in der systemischen Arbeit mit dem Pferd ebenso wie bei anderen Formen systemischer Familienarbeit. Das Setting ist für die beteiligten Familienmitglieder in beiden Arbeitsweisen „alltagsfremd“, mit einer unbekannten Person in einem anderen Umfeld. In der systemischen Arbeit mit dem Pferd erweitert sich diese Konstellation durch die besonderen Einsatzmöglichkeiten des Pferdes; die alleinige Beraterfunktion wird zur Teamarbeit. Das Pferd verändert in der systemischen Arbeit die bisherigen familiären Beziehungsstrukturen und -muster in vielfältiger Weise und ermöglicht so die Veränderung respektive Erweiterung der jeweiligen Blickwinkel und Handlungsmöglichkeiten. Bild 2: Beziehung als wertvolle Ressource
