eJournals mensch & pferd international 2/4

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2010.art11d
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Der Pferd-Komplex - über die psychodynamische Bedeutung von Pferden in der Therapie

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Michaela Scheidhacker
Der "Pferd-Komplex" wird als Begriff neu eingeführt und als multidimensionales Konstrukt in seiner Bedeutung für Patienten und Therapeuten im Sinne der analytischen Psychologie C. G. Jungs beschrieben. Dabei greift die Autorin auf ihre über 20-jährige persönliche, ärztlich-psychotherapeutische Erfahrung im Psychotherapeutischen Reiten in einem psychiatrisch-psychotherapeutischen Krankenhaus und auf ihre 12-jährige Erfahrung als Leiterin von Fort- und Weiterbildungen im Psychotherapeutischen Reiten zurück. Sie beschreibt Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene, die sich nicht nur in der Beziehung vom Patienten zum Therapeuten auswirken, sondern auch in der Beziehung des Therapeuten zum Therapiepferd einerseits und des Patienten zum Therapiepferd andererseits. Dies macht die psychotherapeutische Arbeit mit Pferden äußerst vielschichtig und anspruchsvoll, da das Pferd sowohl als Beziehungsobjekt im Hier und Jetzt, als Projektionsfeld und Identifikationsobjekt als auch als archetypisches Symbol mit Verbindung zum kollektiven Unbewussten für Patienten und Therapeuten gleichermaßen wirkt.
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136 | mup 4|2010|136-144|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378/ mup2010.art11d Schlüsselbegriffe: Pferd-Komplex, Beziehungsobjekt, Projektionsfeld und Identifikationsobjekt, Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene, archetypisches Symbol Michaela Scheidhacker Der „Pferd-Komplex“ wird als Begriff neu eingeführt und als multidimensionales Konstrukt in seiner Bedeutung für Patienten und Therapeuten im Sinne der analytischen Psychologie C. G. Jungs beschrieben. Dabei greift die Autorin auf ihre über 20-jährige persönliche, ärztlichpsychotherapeutische Erfahrung im Psychotherapeutischen Reiten in einem psychiatrisch-psychotherapeutischen Krankenhaus und auf ihre 12-jährige Erfahrung als Leiterin von Fort- und Weiterbildungen im Psychotherapeutischen Reiten zurück. Sie beschreibt Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene, die sich nicht nur in der Beziehung vom Patienten zum Therapeuten auswirken, sondern auch in der Beziehung des Therapeuten zum Therapiepferd einerseits und des Patienten zum Therapiepferd andererseits. Dies macht die psychotherapeutische Arbeit mit Pferden äußerst vielschichtig und anspruchsvoll, da das Pferd sowohl als Beziehungsobjekt im Hier und Jetzt, als Projektionsfeld und Identifikationsobjekt als auch als archetypisches Symbol mit Verbindung zum kollektiven Unbewussten für Patienten und Therapeuten gleichermaßen wirkt. Der Pferd-Komplex - über die psychodynamische Bedeutung von Pferden in der Therapie Scheidhacker - Der Pferd-Komplex mup 4|2010 | 137 Michaela Scheidhacker Die über 20-jährigen Erfahrungen und Beobachtungen im Psychotherapeutischen Reiten von jährlich ca. 350 bis 400 Patienten eines psychiatrisch-psychotherapeutischen Krankenhauses und von jährlich 10 bis 20 Fortbildungskandidaten und deren analytische Auswertung haben es notwendig gemacht, einen neuen Begriff zu definieren, der die vielschichtige und facettenreiche Wirksamkeit von Pferden in der Psychotherapie umschreibt. Die Einführung des Begriffs „Pferd-Komplex“ beruht auf der inhaltlichen Weiterentwicklung des Gedankengutes der analytischen Psychologie von C. G. Jung und deren Anwendung auf die psychotherapeutische und psychoanalytische Arbeit mit dem Pferd als Medium. Um diesen Entwicklungsschritt verständlich zu machen, habe ich in diesem Artikel an entsprechender Stelle ein paar Begriffe aus der analytischen Psychologie, die für das Verständnis des Pferd-Komplexes wesentlich sind, anhand von Originalzitaten von C. G. Jung, seiner Schüler und aus Sekundärliteratur erläutert. Definition des „Pferd-Komplexes“ Meine langjährigen Erfahrungen und Beobachtungen im Psychotherapeutischen Reiten und deren analytische Auswertung haben immer wieder gezeigt, dass Pferde sowohl bei Patienten als auch bei Fortbildungskandidaten neben ihrer Wirkung in der aktuellen Beziehung in besonderer Weise tieferliegende Gefühle, Bilder und Ideen mobilisieren, deren Ursprung nicht aus der aktuellen Situation zu erklären ist. Bei genauerer Analyse hat sich herausgestellt, dass diese Gefühle, Bilder und Ideen einerseits ihren Ursprung in der persönlichen Lebensgeschichte des Einzelnen haben, aber bisher nicht wahrgenommen wurden, also im persönlichen Unbewussten ruhten. Andererseits wiesen sie Strukturen auf, die an Archetypen im Sinne C. G. Jungs (Jung 1991a, Jung 1991b, GW 16, 164, § 347) erinnern, z. B. Anima, Animus oder auch die Große Mutter, wie ich es bereits andernorts mit einem Beispiel aus der Psychotherapie mit dem Medium Pferd beschrieben habe (Scheidhacker 1998, 60 f). Der Archetypus: „Die Begriffsbildung C. G. Jungs zum Archetypus ist aus langjährigen Erfahrungen in der Traumpsychologie und dem Studium der Mythologie erwachsen. In den vielfältigen Bildern und Materialien seiner Patienten erkannte er Grundmuster und Grundstrukturen, die er als Archetypus bezeichnete. Bei dem Begriff ist es wichtig, zwischen dem unanschaulichen Archetypus an sich und dem archetypischen Bild zu unterscheiden. Ersterer ist eine der menschlichen Psyche innewohnende Struktur, letzteres kommt in verschiedenen archetypischen Erscheinungsbildern zum Ausdruck (wie z. B. Vater-, Mutter-, Kind-Archetypus, Gottesbilder, Animus und Anima etc.). Die Archetypen sind unsichtbare und unanschauliche Wirkfaktoren im Unbewussten des Menschen. Sie bilden die Strukturdominanten der Psyche, indem sie das seelische Erleben ordnen und die Bilder und Motive im Unbewussten nach bestimmten Grundmustern anordnen.“ (Hark 1994, 25) Weiterhin legt die Tatsache, dass das Pferd seit Jahrtausenden - neueste archäologische Bodenfunde weisen auf die Domestikation des Pferdes im osteuropäisch-asiatischen Steppenraum in der Wende vom 5. zum 4. Jahrtausend v. Chr. hin (Benecke 1994, 292 f) - den Menschen begleitet, ihm in vielen Bereichen bei seiner Entwicklung zum selbst bestimmten und individuellen Lebewesen dienlich, ja ein treuer Freund und Gefährte war und so quasi mit zum menschlichen Erbe gehört, die Vermutung nahe, dass es eine Struktur „Pferd“ im kollektiven Unbewussten gibt, die den Archetypen ähnelt. Dafür spricht auch die Bedeutung von Pferden in Mythen und Märchen, sowie - beginnend in der Vorgeschichte und Antike bis zum heutigen Tag - in der bildenden Kunst (Baum 1991). Das persönliche und das kollektive Unbewusste: „Wir können ein persönliches Unbewusstes unterscheiden, welches alle Acquisitionen der persönlichen Existenz umfasst, also Vergessenes, Verdrängtes, unterschwellig Wahrgenommenes, Gedachtes und Gefühltes. Neben diesen persönlichen 138 | mup 4|2010 Scheidhacker - Der Pferd-Komplex unbewussten Inhalten gibt es aber andere Inhalte, die nicht aus persönlichen Acquisitionen, sondern aus der ererbten Möglichkeit des psychischen Funktionierens überhaupt, nämlich aus der ererbten Hirnstruktur stammen. Das sind die mythologischen Zusammenhänge, die Motive und Bilder, die jederzeit und überall ohne historische Tradition oder Migration neu erscheinen. Diese Inhalte bezeichne ich als kollektiv unbewusst.“ (Jung 1994, GW 6, 519, § 842) Das Pferd ist jedoch kein Archetyp per se, sondern eher ein archetypisches Symbol (Scheidhacker 1998, 55-63), da es die Qualitäten eines Symbols erfüllt und für die verschiedenen, auch gegensätzlichen Archetypen stehen kann (Baum 1991). Das Symbol: „Das Symbol ist immer ein Gebilde höchst komplexer Natur, denn es setzt sich zusammen aus den Daten aller psychischen Funktionen. Es ist infolgedessen weder rationaler noch irrationaler Natur. Es hat zwar eine Seite, die der Vernunft entgegenkommt, aber auch eine Seite, die der Vernunft unzugänglich ist, indem es nicht nur aus Daten rationaler Natur, sondern auch aus den irrationalen Daten der reinen inneren und äußeren Wahrnehmung zusammengesetzt ist. Das Ahnungsreiche und Bedeutungsschwangere des Symbols spricht eben sowohl das Denken wie das Fühlen an, und seine eigenartige Bildhaftigkeit, wenn zu sinnlicher Form gestaltet, erregt die Empfindung sowohl wie die Intuition.“ (Jung 1994, GW 6, 512, § 828) „Symbole sind Brennpunkte menschlicher Entwicklung. In ihnen verdichten sich existentielle Themen, in ihnen sind Entwicklungsthemen und damit verbunden auch immer Hemmungsthemen angesprochen. Das wird dann deutlich, wenn wir bedenken, dass Symbole Komplexe abbilden.“ (Kast 2002, 44) Dieser gedankliche Hintergrund macht die psychotherapeutische Arbeit mit Pferden äußerst anspruchsvoll und facettenreich. „Man könnte sich die Archetypen behelfsmäßig als nuclei oder Knotenpunkte eines mehrdimensionalen Netzwerkes oder Feldes vorstellen, … doch ist ein solches Modell insofern unzulänglich, als es keine festen ‚Distanzen‘ zwischen den Archetypen gibt, da ja oft in Mythen die ‚entferntesten‘ Archetypen, wie ‚Schlange‘ und ‚Licht‘, ‚Mutter‘ und ‚Phallos‘, ‚Tier‘ und ‚Geist‘ unerwartet identisch auftreten oder auch mehrere Archetypen, die man sich getrennt vorzustellen pflegt, plötzlich verschmelzen“ (von Franz 2005, 229). Ich kann in der täglichen Praxis immer wieder beobachten, dass sich in der Begegnung mit einem bestimmten Pferd bei dem einen Menschen ein Mutter-Komplex konstelliert (Sehnsucht nach Geborgenheit und Getragen-Werden), bei einem anderen Menschen mit demselben Pferd ein Heiler-Komplex aktiviert wird (Wunsch nach Fürsorge und liebevoller Berührung). Beide können sich im psychotherapeutischen Prozess jeweils kurzfristig oder auch langfristig ändern und sogar mit anderen Komplexen verschmelzen. In der Konfrontation mit einem Pferd werden demzufolge unterschiedliche Komplexe konstelliert, hinter denen unterschiedliche Archetypen stehen, die, solange sie unbewusst bleiben, unpassende Verhaltensweisen autonom ablaufen lassen. Derartige „unpassende Verhaltensweisen“ gegenüber Pferden kann man nicht nur in der Therapie, sondern in jedem Reitstall beobachten. Der Komplex: „Als Komplex (von complexus = Umfassung, Umschließung, Umschlingung) bezeichnet man Inhalte des Unbewussten, die durch die gleiche Emotion und einen gemeinsamen Bedeutungskern (Archetyp) verbunden sind und die in gewissen Grenzen stellvertretend füreinander stehen können. Jedes affektgeladene Ereignis wird zu einem Komplex. Es sind nicht nur die großen traumatischen Ereignisse, die Komplexe hervorbringen, es sind auch die immer wiederkehrenden kleinen Begebenheiten, die uns verletzen. Werden diese Inhalte des Unbewussten auf der Ebene der Emotion oder auf der Bedeutungsebene angesprochen, dann wird Scheidhacker - Der Pferd-Komplex mup 4|2010 | 139 das Gesamte dieser unbewussten Verknüpfung aktiviert (konstelliert) samt der dazugehörenden Emotionen aus der ganzen Lebensgeschichte und den daraus resultierenden unangepassten Verhaltensweisen, die stereotyp ablaufen. Dieser Vorgang läuft, solange der Komplex unbewusst ist, autonom ab.“ (Kast 2002, 45) In der Weiterführung des Gedankengutes der psychologischen Psychologie C. G. Jungs ist der Pferd-Komplex somit ein multidimensionales Konstrukt, das alle im Gedächtnis verankerten Inhalte zum Thema „Pferd“ betrifft. Lässt man sich auf diesen Gedankengang ein, dann beinhaltet der Pferd-Komplex sowohl Erinnerungen an eigene Erlebnisse mit Pferden und Erinnerungen an Bilder jeglicher Art von Pferden als auch Erinnerungen an Erzählungen und Märchen mit Pferden, die teils bewusst, teils unbewusst im Gedächtnis ruhen. Geht man diesen Gedankengang weiter, dann umfasst der Pferd-Komplex zusätzlich alle kollektiven Erfahrungen von Menschen mit Pferden, die als archetypisches Symbol undefiniert gleichsam wie eine bedeutungsschwangere und ahnungsreiche Berührtheit wirken, sobald sie durch die aktuelle Begegnung mit einem Pferd aktiviert werden. Bedeutung für die praktische, psychotherapeutische Arbeit mit dem Pferd als Medium Das Pferd ist als Herdentier auf Beziehung angewiesen und hat so seine Beziehungsfähigkeit im Laufe der Domestizierung auch auf den Menschen ausgeweitet. Diese Fähigkeit der Pferde zu Beziehung und eigener, individueller Beziehungsgestaltung, die durch den Charakter, die Erfahrungen in der ursprünglichen Herde und die erlebten Kontakte zu Menschen geprägt sind, stellt eine Herausforderung an jeden Menschen dar, der ihm begegnet. In der ihm eigenen Art, in Beziehung zu treten, lässt sich ein Pferd nicht manipulieren. In über 20 Jahren psychotherapeutischen Arbeitens mit dem Pferd als Medium, als Trigger, als Co-Therapeut und Freund, hat es mich immer wieder fasziniert, wie es nicht nur meine Patienten, sondern auch mich, meine Fortbildungskandidaten und Mitarbeiter an jedem Tag und zu jeder Stunde neu berühren und emotional aus eingefahrenen Bahnen werfen kann. Pferde leben - wie alle Tiere - im Hier und Jetzt und kommen nur unseren Wünschen und Fantasien entgegen, wenn es der aktuellen Situation entspricht und die Beziehung stimmig ist. Sie halten uns und unsere Patienten unbestechlich im aktuellen Geschehen, in der Realität, in der Echtheit unserer Beziehungsfähigkeit. Neben den besonderen Beziehungsqualitäten, die Pferde anbieten und die im psychotherapeutischen Prozess genutzt werden können, konnte ich noch weitere Beobachtungen machen. Es kann z. B. passieren, dass bei der Begegnung von Menschen und Pferden im Psychotherapeutischen Reiten ein und dasselbe Pferd sowohl von Menschen, die konkret schon einmal mit Pferden zu tun hatten, als auch von Menschen, die das erste Mal in ihrem Leben einem lebendigen Pferd gegenüberstehen, vollkommen unterschiedlich erlebt wird. Das beginnt schon damit, dass die Farbe eines Pferdes bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Emotionen auslösen kann. So kann ein weißes Pferd aufgrund seiner Farbe als besonders vertrauensbildend als auch als Angst erregend erlebt werden. Genauso kann es sich aber auch mit einem schwarzen, braunen oder roten Pferd verhalten, so dass man daraus schließen kann, dass die Bedeutung der Farbe eines Pferdes individuell ist und mit der persönlichen Geschichte und den Assoziationen des Betrachters in Zusammenhang steht. Das ist ein sehr vereinfachtes Beispiel für ein umfangreiches und vielseitiges psychodynamisches Geschehen, das nur im Einzelnen in seiner Bedeutsamkeit aufgeschlüsselt werden kann. Die Bedeutung einer Farbe in Zusammenhang mit einem Pferd aufzuschlüsseln ist hier jedoch nicht meine Absicht. Ich will damit nur zeigen, dass es nicht einmal bei einer vergleichsweise einfachen Eigenschaft, wie der Farbe eines Pferdes, eine eindeutige und vorhersehbare emotionale 140 | mup 4|2010 Scheidhacker - Der Pferd-Komplex Berührtheit gibt. Die Farbe eines Pferdes stellt jedoch nur einen Bruchteil seiner Gesamterscheinung dar, so dass man sich die mannigfachen, vielschichtigen Möglichkeiten von emotionaler Berührung durch ein Pferd vorstellen kann (vgl. Bild 1). Die Qualität der Gefühle bei der Begegnung mit einem Pferd kann also nicht nur mit dem konkreten Pferd zu tun haben - denn dann wäre ja weiß gleich weiß oder schwarz gleich schwarz -, sondern beruht daneben auf Wahrnehmungen, die möglicherweise nur zum Teil dem aktuell gegenüberstehenden Pferd entsprechen, zum anderen Teil jedoch auf Erinnerungen basieren, die durch die Ausstrahlung des Pferdes unbewusst berührt werden und mit dem Wesen des aktuellen Pferdes vielleicht kaum etwas zu tun haben. Bei Menschen, die schon einmal konkret mit Pferden zu tun hatten, können sich diese Erinnerungen auf frühere Situationen mit einem Pferd beziehen und die aktuelle Wahrnehmung entsprechend beeinflussen. Aber auch Pferdebilder, Pferdegeschichten, Märchen oder Mythen mit Pferden können - wie die Analyse zahlreicher Mensch-Pferd-Begegnungen zeigte - die Wahrnehmung des aktuellen Pferdes und die damit in Zusammenhang stehende Emotion beeinflussen. Wenn ein Patient ein Pferd als besonders mütterlich erlebt, hat dies wahrscheinlich vor allem damit zu tun, dass er sich nach mütterlicher Geborgenheit sehnt, und nicht unbedingt mit der besonders mütterlichen Eigenschaft dieses Pferdes. Ich habe erlebt, wie sich ein Patient in ein Pferd verliebte, weil er in diesem Pferd besondere weibliche Eigenschaften idealisierte und sich davon angezogen fühlte. Dahinter steht vielleicht die Sehnsucht nach dem anderen Geschlecht. Man könnte - im Sinne C. G. Jungs - sagen, dass das Pferd symbolhaft den Anima-Ar- Bild 1: Bild einer erwachsenen Patientin mit schwerem Psychotrauma, spontan gemalt nach einer Gruppenpsychotherapie mit Pferden Scheidhacker - Der Pferd-Komplex mup 4|2010 | 141 chetyp konstelliert hat. Das konkrete Geschlecht des Pferdes kann dabei unwichtig sein, aber auch extrem bedeutsam, und sowohl Idealisierung als auch Entwertung beinhalten. Die Übertragung: „Der psychologische Vorgang der Übertragung ist eine spezifische Form des allgemeineren Vorganges der Projektion.“ (Jung 1993, GW 18 / I, 153, § 312) „Bekanntlich sprechen wir erst dann von Übertragung, wenn eine menschliche Beziehung mit illusionären Elementen durchsetzt ist, wenn z. B. der Analytiker nicht nur in seiner persönlichen, begrenzten Realität als Dr. X. erlebt wird, sondern auch so, als ob er allwissend oder allmächtig wäre. Je mehr Wahnhaftes sich in die Übertragung einnistet, um so weniger ist es dem Patienten möglich, den Analytiker zugleich als realen Dr. X. wahrzunehmen. Er wird zur Verkörperung der jeweiligen Projektion, die nicht mehr hinterfragt werden kann - ein Zeichen dafür, dass die Fähigkeit des Patienten zu symbolischer Alsob-Erfahrung verschüttet ist. All die erwähnten Übertragungsformen (Spiegel-, idealisierende, archetypische Übertragung) können also sowohl auf illusionäre als auch auf wahnhafte Weise auftreten.“ (Jacoby 2000, 105) Im Gedankengang der analytischen Psychologie ähneln diese vielschichtigen, vom Pferd ausgelösten Gefühle, Bilder und Ideen einer Übertragung auf das Pferd (Jung 1993, GW 18 / I, 158, § 324). Das Pferd wird zum Beispiel nicht mehr in seiner natürlichen Begrenztheit erlebt, sondern als „hellsichtig“ und „allwissend“, als besonders verständig und klug, wie es ja auch in manchen Märchen und Mythen beschrieben wird (Jung 1991b, GW 16, 164, § 347). Oft höre ich die Aussage von Patienten: „Das Pferd ist der bessere Mensch.“ Es wird eine Nähe erlebt, die in der Bedeutung für den einzelnen sehr tief geht und weit mehr ist als die real beobachtete Nähe. Viele Patienten fangen dann zu weinen an und wissen nicht warum. Sie sprechen von einer allumfassenden Berührtheit, die sie aus der Situation heraus nicht verstehen und der sie nichts Reales entgegenzusetzen haben. Diese häufige Beobachtung legt den Gedankengang nahe, dass diese Patienten eine spezifische Form der Projektion, d. h. eine Übertragung auf das Pferd ausleben, dass gleichermaßen aber auch ein noch unbekannter, affektgeladener Komplex berührt wurde, hinter dem ein noch nicht definierbarer Archetyp steht, der autonom wirkt. Das Pferd hat als archetypisches Symbol die Psyche des Patienten tief berührt. Der Patient ist in diesem Augenblick sehr offen und verletzbar, muss vom Therapeuten eher „geschlossen“ als weiter „geöffnet“ werden. Erst in der weiteren analytischen Bearbeitung wird deutlich, welche Facette des Pferd-Komplexes berührt worden ist und welcher Archetyp sich symbolhaft durch die Begegnung mit dem Pferd konstelliert hat (vgl. Bild 2). Für die konstruktive Entwicklung des Patienten ist wesentlich, dass der Psychotherapeut nicht nur die „Öffnung“ des Patienten durch das Pferd auf der bewussten Beziehungsebene nutzt, sondern die Dimension der archaischen Berührtheit durch das Pferd erkennt und die tiefergehende, noch unbewusste Problematik des Patienten dadurch besser versteht. Bild 2: Bild einer erwachsenen Patientin mit teil-remittierter Psychose, spontan gemalt nach einer Gruppenpsychotherapie mit Pferden 142 | mup 4|2010 Scheidhacker - Der Pferd-Komplex Konsequenzen für Psychotherapeuten, die mit dem Pferd als Medium arbeiten Die Konsequenzen für den Psychotherapeuten bei der psychotherapeutischen Arbeit mit dem Medium Pferd sind offensichtlich. Dieser wird nämlich nicht nur mit der Übertragung des Patienten und der eigenen Gegenübertragung konfrontiert, sondern auch mit der eigenen Übertragung auf das Pferd. Die Gegenübertragung: „Mit Gegenübertragung sind alle bewussten und unbewussten Gefühle, Empfindungen und Reaktionen des Therapeuten auf den Patienten gemeint. … Während in allen menschlichen Beziehungen bewusste und unbewusste Übertragungsprozesse zumeist unkontrolliert ablaufen, dient in der Analyse und Therapie die kontrollierte Wahrnehmung dieser Prozesse dazu, die unbewussten Inhalte nicht einfach weiterhin auf andere Menschen zu projizieren, sondern als eigene Persönlichkeitsanteile zu integrieren. Damit dies kontrolliert geschehen kann, muss der analytische Psychotherapeut eine lange Lehranalyse machen, um sich selber und seine Komplexe kennen zu lernen.“ (Hark 1994, 63) Bleibt diese Übertragung, d. h. der Pferd-Komplex des Therapeuten, unbewusst, reduziert sie das Wesen eines Pferdes auf die Sicht- und Erlebensweise des Psychotherapeuten und beschneidet so die Wirkpotenz des Pferdes. Wenn etwa ein Patient ein Pferd in seiner persönlichen Wirkung auf sich beschreibt, geht es nicht um eine „richtige oder falsche Beurteilung“ des Pferdes, sondern um die Wahrnehmung des Pferd-Komplexes des Patienten durch den Therapeuten. Das individuelle Erleben des Patienten muss immer wertfrei angenommen werden - außer es ist von psychotischen Wahninhalten geprägt -, auch wenn der Psychotherapeut die Situation mit dem Pferd anders erlebt. Dies gelingt einem Psychotherapeuten umso besser, je klarer ihm sein eigener Pferd-Komplex ist. Er kann dann das Erleben seines Patienten aus der Meta-Ebene betrachten und die Bedeutung des Pferd-Komplexes des Patienten in einem übergeordneten Zusammenhang sehen und therapeutisch einsetzen. Ein Beispiel aus einer Selbsterfahrungsgruppe mit Fortbildungskandidaten: Isabella (Name geändert), eine angehende Psychotherapeutin, zeigte anlässlich der Konfrontation mit einem Schimmel in einer Selbsterfahrungsgruppe mit Pferden eine tiefe, agitierte Traurigkeit sowie eine inadäquate Besorgnis um das Wohlergehen dieses Schimmels. In der analytischen Gruppenarbeit erinnerte sie sich an einen anderen Schimmel, den sie selbst ausgebildet und gepflegt hatte, der ihr dann „weggenommen“ worden war. Sie berichtete von einem unbändigen Hass auf die Besitzerin des Schimmels, die diesen, ohne sie zu fragen, verkauft hatte. Sowohl die Trauer um den Schimmel als auch der Hass auf die Frau waren so heftig, dass alle glaubten, dies hätte sich erst kürzlich ereignet. Aber es waren schon viele Jahre vergangen und ein derartig heftiger Emotionsausbruch war ungewöhnlich. Die weitere Analyse deckte auf, dass Isabella ihren Vater im Alter von drei Jahren verloren und nie betrauert hatte, da er ihr bewusst nie gefehlt hatte. In der Begegnung mit dem Schimmel der Selbsterfahrungsgruppe wurde Isabellas Pferd-Komplex berührt, was zunächst die Erinnerung an den traurigen Verlust des von ihr ausgebildeten und gepflegten Schimmels und den Hass auf die Besitzerin, die sie bei einer wichtigen Entscheidung nicht einbezogen hatte, beinhaltet. Die heftige, nahezu unkontrollierbare Emotion wird nur dadurch erklärbar, dass der Schimmel symbolhaft für den Vater-Archetyp stand. Die gefühlsmäßige Erregung, die durch eine Berührung mit dem Vater-Archetyp ausgelöst werden kann, brach umso gewaltiger auf sie herein, als der Verlust des persönlichen Vaters tabuisiert war. Die Übertragung auf „Schimmel“ konnte aufgelöst und eine adäquate Trauerarbeit um den früh verlorenen Vater und ihre vaterlose Kindheit eingeleitet werden. Durch diesen wichtigen Prozess wurde der jungen Therapeutin ein Scheidhacker - Der Pferd-Komplex mup 4|2010 | 143 wichtiger Teil ihres eigenen Pferd-Komplexes bewusst und sie konnte sich von dem „Schimmel- Verlust-Trauer-Komplex“ befreien. So kann man von einem persönlichen Pferd- Komplex sprechen, der bei der aktuellen Begegnung mit einem Pferd berührt wird und rückkoppelnd diese Begegnung mit gestaltet (im obigen Fall mit Verlustangst, Trauer, Besorgnis). Der Pferd-Komplex ist also für Patienten und Therapeuten gleichermaßen bedeutsam. Den einen dient er zur Gesundung, den anderen ist er Herausforderung zur Selbsterkenntnis und Grundlage ihrer Arbeit. Aufgabe des Psychotherapeuten ist es, die eigenen Projektionen auf das Pferd und die Identifikationen mit Eigenschaften des Pferdes in einem tieferen Sinn zu erkennen und vom aktuellen Pferd zurückzunehmen, d. h. die eigene Übertragung auf das aktuelle Pferd zu erkennen. Nur dann ist er in der Lage, seinem Patienten möglichst viele Spielarten der Mensch-Pferd-Begegnung wertfrei anzubieten. Je mehr ein Psychotherapeut sich seines persönlichen und kollektiven Pferd-Komplexes bewusst ist, desto freier kann er das Pferd dem Patienten zur Verfügung stellen und desto breiter wird das Wirkspektrum des Pferdes. Bedeutung für das Therapiepferd Ich habe von meinen Patienten gelernt, dass man ein Pferd von sehr unterschiedlichen Standpunkten aus sehen und erleben kann, und dass dieses Erleben immer mit der aktuellen Begegnung, der möglichen Beziehungsfähigkeit und -gestaltung, den Projektionen auf das Pferd und den Identifikationen mit Eigenschaften des Pferdes und mit der Fähigkeit zur Symbolisierung in Zusammenhang steht. Ein Therapiepferd muss somit vielerlei Übertragungen von Patienten aushalten, und daher ist es wesentlich für die psychische und physische Gesundheit des Therapiepferdes, dass zumindest der Therapeut danach strebt, die eigenen Projektionen auf das Pferd zurückzunehmen. Bleibt der Therapeut offen für die tieferen, gefühlsmäßigen Reaktionen, die ein Pferd in einer aktuellen Begegnung in ihm selbst auslöst, d. h. offen dafür, die eigene Übertragung auf das Pferd zu spüren, und macht er sich Mühe, diese wertfrei zu analysieren, so wird die Beziehung zu diesem Pferd immer klarer und echter. Auf diese Weise kann der Therapeut auch vermeiden, dass das Therapiepferd „therapiemüde“ wird, weil es nicht mehr dazu in der Lage ist, all die an es herangetragenen Wünsche und Fantasien durch sein natürliches Dr. Dr. Michaela Scheidhacker Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, Balintgruppenleiterin, Lehrtherapeutin, Gruppenlehrtherapeutin und Supervisorin bei der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK), Mitglied im Deutschen Arbeitskreis für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik (DAGG), Amateurreitlehrerin (FN), Zusatzausbildung im Heilpädagogischen Reiten (DKThR), Leitende Ärztin des Psychotherapeutischen Reitens im Isar-Amper-Klinikum, Klinikum München-Ost, Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München, zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen in Fachzeitschriften, Leiterin der Münchner Schule für Psychotherapeutisches Reiten, Anbieterin von Fort- und Weiterbildungsseminaren im Psychotherapeutischen Reiten Anschrift: Dr. Dr. Michaela Scheidhacker · Trivastraße 2 D-80637 München E-Mail: info@psychotherapeutisches-reiten.de Internet: www.psychotherapeutisches-reiten.de Die Autorin 144 | mup 4|2010 Scheidhacker - Der Pferd-Komplex Eva Solmaz Feedback in einen realen Zusammenhang zu stellen. Es kostet viel Mut und Kraft, sich von Mal zu Mal von seinem realen Gegenüber „Pferd“ überraschen zu lassen und sich zuzugestehen, es nie wirklich voll und ganz in seiner Bedeutsamkeit zu kennen, und ihm gleichzeitig Halt in der schwierigen Aufgabe mit den Patienten zu geben. Wenn ein Therapeut es schafft, seine Therapiepferde immer wieder unter neuen Blickwinkeln zu betrachten, deren sich wandelnde Fähigkeiten, Schwächen und Bedürfnisse im Laufe eines Pferdelebens zu erkennen und zu verstehen und seine eigenen Wünsche dazu in Relation zu setzen, hat er schon viel dazu getan, sein Therapiepferd zu achten und zu schützen und gleichzeitig seinen eigenen Pferd-Komplex zu entmachten. Und dennoch wird dieser ihm immer wieder in einem neuen Zusammenhang begegnen. Literatur Baum, M. (1991): Das Pferd als Symbol. ■ Fischer, Frankfurt Benecke, N. (1994): Der Mensch und seine ■ Haustiere. Die Geschichte einer Jahrtausende alten Beziehung. Konrad Theiss, Stuttgart Hark, H. (Hrsg.) (1994): Lexikon Jungscher ■ Grundbegriffe. Walter, Solothurn / Düsseldorf Jacoby, M. (2000): Übertragung und Beziehung ■ in der Jungschen Praxis. Walter, Düsseldorf/ Zürich Jung, C. G. (1991a): Archetypen. Deutscher ■ Taschenbuch Verlag, München Jung, C. G. (1991b): Praxis der Psychotherapie. ■ Walter, Solothurn / Düsseldorf Jung, C. G. (1993): Das symbolische Leben. ■ Walter, Solothurn / Düsseldorf Jung, C. G. (1994): Psychologische Typen. ■ Walter, Solothurn / Düsseldorf Kast, V. (2002): Die Dynamik der Symbole. ■ Deutscher Taschenbuch Verlag, München Scheidhacker, M. (1998): Das Pferd - reales ■ Beziehungsobjekt und archetypisches Symbol. In: Scheidhacker, M. (Hrsg.): „Ich träumte von einem weisen Schimmel, der mir den Weg zeigte …“, Eigenverlag BKH Haar, S. 55-63 von Franz, M.-L. (2005): Archetypische Dimen- ■ sionen der Seele. Daimon, Einsiedeln