mensch & pferd international
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2010.art12d
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Die Bedeutung früher Erfahrungen in der Mutter-Kind-Interaktion für die pädagogische Arbeit - dargestellt am Beispiel des Heilpädagogischen Reitens
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Eva Solmaz
Die frühen Erfahrungen, die ein Kind mit seinen Bezugspersonen macht, haben einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung seiner Selbst- und Objektrepräsentanzen, also seiner Vorstellung von sich selbst und von anderen, und auf seine Fähigkeit, eine Beziehung als gut zu erleben. Unzureichende Erfahrungen in der frühen Mutter-Kind-Interaktion* können das Erleben und Verhalten der betroffenen Person bis ins Erwachsenenalter hinein beeinflussen. Das Wissen um die Bedeutung von Bindung und Beziehung für die menschliche Entwicklung hilft dem Pädagogen, in beziehungsrelevanten Situationen angemessen zu reagieren und dem Klienten somit korrigierende Beziehungserfahrungen zu ermöglichen. Bei der heilpädagogischen Arbeit am Pferd bietet sich eine solche verstehende Herangehensweise an. * Wenn hier immer wieder von der "Mutter" gesprochen wird, ist damit eine wichtige, frühe Bezugsperson des Kindes gemeint. Dies können ebenso der Vater, Großeltern, Adoptiveltern oder andere Bezugspersonen sein.
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mup 4|2010|145-154|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378/ mup2010.art12d | 145 Eva Solmaz Die frühen Erfahrungen, die ein Kind mit seinen Bezugspersonen macht, haben einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung seiner Selbst- und Objektrepräsentanzen, also seiner Vorstellung von sich selbst und von anderen, und auf seine Fähigkeit, eine Beziehung als gut zu erleben. Unzureichende Erfahrungen in der frühen Mutter-Kind-Interaktion* können das Erleben und Verhalten der betroffenen Person bis ins Erwachsenenalter hinein beeinflussen. Das Wissen um die Bedeutung von Bindung und Beziehung für die menschliche Entwicklung hilft dem Pädagogen, in beziehungsrelevanten Situationen angemessen zu reagieren und dem Klienten somit korrigierende Beziehungserfahrungen zu ermöglichen. Bei der heilpädagogischen Arbeit am Pferd bietet sich eine solche verstehende Herangehensweise an. Schlüsselbegriffe: Mutter-Kind-Interaktion, Spiegeln, Heilpädagogisches Reiten, Affektabstimmung, Beziehung dargestellt am Beispiel des Heilpädagogischen Reitens * Wenn hier immer wieder von der „Mutter“ gesprochen wird, ist damit eine wichtige, frühe Bezugsperson des Kindes gemeint. Dies können ebenso der Vater, Großeltern, Adoptiveltern oder andere Bezugspersonen sein. Die Bedeutung früher Erfahrungen in der Mutter-Kind- Interaktion für die pädagogische Arbeit - 146 | mup 4|2010 Solmaz - Die Bedeutung früher Erfahrungen in der Mutter-Kind-Interaktion für die pädagogische Arbeit Spiegeln in der Mutter-Kind-Interaktion - Halt und Gemeinsamkeit Mahler hat anhand der Beobachtung von Interaktionsprozessen eines sieben bis acht Monate alten Kindes mit seiner Mutter nachgewiesen, dass deren Beziehung zu diesem Zeitpunkt weitgehend auf Spiegelung beruht (Gerspach 2002, 140). Es beinhaltet die einfühlsame Aufmerksamkeit der Mutter gegenüber den kindlichen Äußerungen, die Imitation der affektgetönten Mimik und Gestik bis hin zum modalitätsübergreifenden Übersetzen der kindlichen Signale. Das Spiegeln ist für ein Kind deshalb besonders bedeutsam, weil es ihm die Gewissheit vermittelt, dass seine innere Welt von seiner Mutter verstanden und von ihr „aufbewahrt“ wird. Diese Erfahrung ermöglicht ihm eine verlässliche affektive Bindung (Mertens 1998, 230). Gelungenes Spiegeln ist also eine gute Vorraussetzung für eine sichere Bindung, da es dem Kind Sicherheit in Bezug auf die Antwortbereitschaft und Verfügbarkeit seiner Bindungsperson vermittelt. Spitz hat aufgezeigt, dass Kinder mehr brauchen als nur Nahrung und Wärme, nämlich einen Dialog mit einer Pflegeperson. Die Mutter ist somit mehr als ein sinnliches Triebobjekt, das nur die Grundbedürfnisse befriedigt und seine Bedeutung für das Kind dadurch erlangt. Neben dem integrationsfördernden Übersetzen der kindlichen Regungen lässt sich nach Winnicott und Kohut als weiterer Aspekt des Spiegelns die ganzheitliche und freudige Bestätigung der kindlichen Seinsweise von Seiten der Eltern benennen. Sie verleihen dem Kind narzisstische Bestätigung in Form ihrer Funktion als Selbstobjekte (Mertens 1998, 230). Der Begriff des Spiegelns wird somit im Lehrbuch „Psychoanalytische Grundbegriffe“ von Mertens (1998) sehr weit gefasst. In Anlehnung daran habe ich unter „Spiegeln“ alle die Abläufe in der Mutter-Kind-Interaktion zusammengefasst, in denen die Mutter versucht, die kindlichen Affekte wahrzunehmen und diese Wahrnehmung mit dem Kind zu teilen. Dieses Verhalten ist, neben dem körperlichen Halten und dem Schutz des Kindes vor Reizüberflutung, eine weitere Möglichkeit, dem Kind Halt in der Beziehung zu geben und die Kontinuität seines Sein-Gefühls zu gewährleisten. Spiegeln als Affektabstimmung Das Spiegeln ist, in diesem Sinne, kein einfaches Nachahmen des Affekts des Kindes. Es ist nach Dornes ein Verstärken und Kommentieren, bei dem der Säugling nicht nur über das informiert wird, was er hat, sondern auch etwas Neues entstehen kann (Gerspach 2002, 140). Dornes beschreibt die Affektabstimmung als ein Ziel des Spiegelns und hebt ihre Bedeutung für die kindliche Entwicklung hervor, indem er vermutet, dass die Genauigkeit des Zusammenpassens ein Ziel an sich und entwicklungsfördernd sei. „Man könnte auch spekulieren, ob „Fit“ und „Attunement“, also die Prozesse der Feinabstimmung, nicht die wichtigsten Situationen sind, in denen der Säugling ein Objekt und eine Beziehung als gut erfährt. „Gutes“ Objekt und „gute“ Beziehung würden sich dann nicht in erster Linie auf bedürfnisbefriedigende oder spannungslösende Handlungen des Objekts und damit verknüpfte intensive Lustgefühle beziehen, sondern auf die eher unterschwelligen, subkutanen Muster des harmonischen Zusammenspiels“ (Dornes 1993, 159). Beim Attunement zwischen Mutter und Kind geht es allerdings nicht nur um Teilen und gemeinsam Haben in einer Situation. Mütter wenden das Attunement, bewusst oder unbewusst, auch absichtsvoll an. Angelehnt an Stern (1985) beschreibt Dornes zwei Formen des beeinflussenden Gebrauchs des Attunements. Selektives Attunement und Tuning Beim selektiven Attunement stimmen sich die Eltern auf bestimmte Affektäußerungen des Kindes ein und auf andere nicht. Sie kommunizieren somit auf averbalem Weg ihre bewussten und unbewussten Wünsche und Abneigungen. Das Kind lernt, dass gewisse Affekte teilbar sind, andere nicht. Solmaz - Die Bedeutung früher Erfahrungen in der Mutter-Kind-Interaktion für die pädagogische Arbeit mup 4|2010 | 147 Als für die kindliche Selbstentwicklung problematischer schätzt er das Tuning ein. Dabei antwortet die Mutter auf bestimmte Gefühlsäußerungen des Kindes positiv, die Antwort fällt aber entweder etwas stärker oder etwas schwächer als der kindliche Ausdruck aus. Dies sei ein Weg, in das Kind und sein Gefühlsleben hineinzukommen und es von innen heraus zu verändern. Sein Gefühlsleben kann so von außen modifiziert werden, was der Anfang eines falschen Selbst (Winnicott) sein kann. Über die verschiedenen Arten des Attunements werden dem Kind die elterlichen Fantasien mitgeteilt und auf es übertragen (Dornes 1993, 155 ff). Das affektive Einstimmen der Eltern auf ihr Kind, das keinen anderen Zweck als gemeinsames Sein hat und keine Veränderung oder Beeinflussung des wahrgenommenen Zustandes anstrebt, also das Annehmen und die Freude über das Kind, führt zu einer Stärkung des Gefühls für sein eigenes Selbst beim Kind. Das Konzept des Containments Ein weiterer Aspekt, den man unter dem Oberbegriff „Spiegeln“ zusammenfassen kann, ist das Konzept des Containments nach Bion. Beim Containment lädt das Kind seine als bedrohlich erlebte körperliche Erregung (Beta-Elemente) auf die Mutter ab, die sie als Behälter (Container) aufnimmt und stellvertretend für das Kind verarbeitet, um sie dann, mit Bedeutung gesättigt, zurückzugeben (Alpha- Elemente) (Michels 1992, Umschlag). Die Mutter stellt sich also zur Verfügung, um die noch nicht bewussten und unintegrierbaren Affekte des Säuglings eine Zeitlang in sich zu bewahren, „um so das Kind vor einem ‚Überflutet werden‘ von seinen Affekten zu schützen und ihm ein Gefühl der Kontinuität seiner Existenz in Beziehung zu seiner Umwelt zu ermöglichen“ (Trescher / Finger- Trescher 1992, 94). Dem Zustandekommen des Containments ist genau wie auch beim Attunement eine Disposition von Seiten der Mutter vorausgesetzt. Eine gewisse intuitive Erwartungshaltung und ein ausreichendes Maß an Empathie sind nötig, damit die Mutter erfolgreiches Containment bereitstellen kann. Die Mutter muss die Gefühle des Kindes nicht nur empathisch aufnehmen, sie muss auch in der Lage sein, sie auszuhalten und sie nicht gleich abzuwehren. Sie muss die Gefühle solange in sich behalten und emotional darüber nachdenken, bis sie eine Ahnung vom Befinden des Kindes bekommt. „Das Containment ist zentraler Teil früher strukturbildender Interaktionserfahrungen. Auf diesem Fundament beginnen sich die Selbst- und Objektrepräsentanzen zu entwickeln“ (Gerspach 2002, 152). Zu den Fähigkeiten der Mutter, die gelungenes, strukturbildendes Spiegeln möglich machen, gehört auch ihre reflexive Kompetenz und ihre Fähigkeit, eine intentionale Haltung dem Kind gegenüber einzunehmen, wie sie von Fonagy (Fonagy / Target 2003) beschrieben wird. Die Bedeutung des Spiegelns für die kindliche Entwicklung All diese Haltungen und Handlungen der Mutter gegenüber dem Kind, die ich unter dem Begriff „Spiegeln“ zusammengefasst habe, gewähren dem Kind ein Gefühl von Sicherheit und Halt. Sie haben gemeinsam, dass sie dem Kind signalisieren, dass es von der Mutter wahrgenommen wird und mit seinen noch unverständlichen Regungen nicht alleine gelassen wird, sondern dass diese, teilweise sogar lustvoll, mit anderen geteilt werden können. Die Mutter hilft dem Kind somit, ein Verständnis für sich selbst zu entwickeln, zu lernen, seine Affekte selbst zu regulieren und allmählich zu ertragen, von der Mutter getrennt zu sein, weil seine eigenen Strukturen stabil genug sind. Es lernt auch, dass es durch sein Handeln in der Lage ist, sein Umfeld zu beeinflussen und dass dieses Umfeld verständlich und voraussagbar reagiert. Was das Kind also im gelungenen frühen affektiven Dialog mit der Mutter erfährt, kann als Grundlage für seine Fähigkeit zur Exploration, also zur lustvollen Hinwendung zur Außenwelt, verstanden werden. Das Kind braucht nicht 148 | mup 4|2010 Solmaz - Die Bedeutung früher Erfahrungen in der Mutter-Kind-Interaktion für die pädagogische Arbeit ständig besorgt zu sein, den Kontakt zur Mutter und somit auch seine eigene innere Struktur zu verlieren, weil es erfahren hat, dass die Mutter wiederkommt, wenn es sie braucht. Man kann also sagen, ein gelungener Dialog erhöht die Sicherheit des Kindes und führt zu einer sicheren Bindung, das Bindungsbedürfnis des Kindes ist befriedigt. Die Energie des Kindes ist dann nicht mehr in Beziehungsthemen gebunden, und es kann sich der Umwelt zuwenden. Dies setzt eine sichere Bindungsrepräsentation und eine hohe reflexive Kompetenz der Mutter voraus. „Die Bindungserfahrungen werden verinnerlicht, ins eigene Selbst transformiert und steuern als innere Arbeitsmodelle und Erwartungen wiederum den Umgang des Individuums mit sich selbst, den Zugang zu seinen Gefühlen und werden handlungsleitend beim Aufbau eigener Beziehungen“ (Cassidy / Shaver 1999, zit. nach Scheuerer-Englisch 2001, 315). Mangelhafte spiegelnde und haltende Erfahrungen und ihre Bedeutung für die pädagogische Arbeit - Reitpädagogische Arbeit als Beziehungsarbeit Kinder, die im Laufe ihrer Entwicklung weder eine haltende Umwelt erlebten, in der sie Hilfe beim Regulieren ihrer Affekte und beim Aufbau von Selbst- und Objektrepräsentanzen bekamen, noch eine gemeinsame affektive Übereinstimmung mit einer Bezugsperson finden konnten und die keine äußere Struktur erfahren haben, die ihnen ein Gefühl von Sicherheit geben könnte, haben wahrscheinlich nicht genügend Rüstzeug an die Hand bekommen, um mit den Anforderungen, die eine postmoderne Gesellschaft an sie heranträgt, zurechtzukommen (Trescher / Finger-Trescher 1992, 90 f). Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Eltern selbst unzureichende Erfahrungen mit ihren Bezugspersonen gemacht haben, sie durch äußere, z. B. ökonomische oder politische Umstände (Baldeo / Schlichtmeier 2010) nicht in der Lage sind, ausreichend für ihre Kinder zu sorgen, oder wenn sie psychisch krank sind (Schnorbach 2009). Die heilsame Wirkung der beschriebenen Herangehensweise besteht darin, dass die Kinder in der Beziehung zur Pädagogin, zum Pferd und eventuell zu den anderen Gruppenmitgliedern die Möglichkeit bekommen, ihre Selbst- und Objektrepräsentanzen, also ihre Vorstellungen von sich selbst und von anderen, und ihre Erwartungen, die sie an Beziehungen haben, zu verändern. Das Kind bildet im Kontakt zu seinen frühen Bezugspersonen eine gewisse Erwartungshaltung heraus, die auf seinen realen Erfahrungen mit den Bezugspersonen beruht. Diese Erwartungshaltung überträgt es auch auf spätere Beziehungen. Sind die frühen Erfahrungen von traumatischen Erlebnissen geprägt, kann sich das auf das gesamte Beziehungsverhalten im weiteren Leben auswirken. Auch das Selbstbild des Kindes wird stark davon beeinflusst, wie es von frühen Bezugspersonen wahrgenommen wurde und wie ihm diese Wahrnehmung mitgeteilt wurde. Das kleine Kind kann seine eigenen Affekte noch nicht verstehen und regulieren. Es ist auf eine Bezugsperson angewiesen, die das Kind mit seinen Affekten wahrnimmt und ihm diese spiegelt und übersetzt. Erst dann kann es stabile innere Strukturen entwickeln. Durch ein bewusstes und reflektiertes Verhalten der Pädagogin in beziehungsrelevanten Situationen kann sie dem Kind die Möglichkeit bieten, korrigierende Beziehungserfahrungen zu machen und seine Erwartungen an Beziehung und sein Bild von sich selbst und von Anderen zu verändern (Solmaz 2010). Bewusst wurde in dem vorliegenden Text in erster Linie die pädagogische Haltung der Reitpädagogin beleuchtet und theoretisch begründet. In dem Text ist eine pädagogische Herangehensweise beschrieben, die sich aus Sicht der Autorin besonders für die Arbeit im Heilpädagogischen Reiten eignet. Die Gegenwartsorientierung und die Präsenz, die sich im Umgang mit Pferden ganz natürlich einstellt, unterstützt die beschriebene pädagogische Herangehensweise hervorragend. Die Begegnung zwischen Klient und Pferd ist immer Solmaz - Die Bedeutung früher Erfahrungen in der Mutter-Kind-Interaktion für die pädagogische Arbeit mup 4|2010 | 149 auch eine leibliche. Genau wie die frühen Mutter- Kind-Interaktionen immer den Leib und das leibliche Erfahren beinhalten, wird der Mensch im Umgang mit Pferden immer wieder auf seine Leiblichkeit zurückgeworfen. Die Einbeziehung des Pferdes in die pädagogische Arbeit ermöglicht es der Pädagogin, die beschriebene pädagogische Haltung ganz natürlich einzunehmen und aufkommende beziehungsrelevante Ereignisse für den pädagogischen Prozess zu nutzen. In der pädagogischen Arbeit mit diesen Kindern sollte es ein Ziel sein, an den frühen Mutter-Kind- Dialog anzuknüpfen bzw. ihn neu zu eröffnen. Damit ist die Möglichkeit gegeben, den Kindern ein Angebot zu machen, dass die Entwicklung einer inneren Struktur, eines kontinuierlichen Gefühls für die eigene Identität, zulässt, es möglich macht, Gefühle als zu sich gehörig zu erleben und einen befriedigenden Umgang mit sich selbst und mit anderen zu finden. Konkrete Beziehungsarbeit ist also nötig. Kupper-Heilmann (2002) fasst diese Tatsache bezogen auf das Heilpädagogische Reiten folgendermaßen zusammen: „Das Wesentliche ist das Beziehungsangebot durch die Pädagogin und das Pferd. Bestimmend sind ‚Die Neugier am und Zuwendung für das Kind Die emotionale und affektive Präsenz und Zuverlässigkeit Die Zurückhaltung gegenüber eigener Bedürftigkeit Die Übernahmen von Holding- und Containingfunktionen Die Übernahme struktursetzender Funktionen und Der professionelle Selbstzweifel‘ (Trescher 1993) Hierdurch unterscheidet sich das psychoanalytisch orientierte Heilpädagogische Reiten von anderen Maßnahmen im therapeutischen Reiten. Die Wahrnehmung der Gefühle setzt die Achtung derselben voraus. Sie verlangt, wahrzunehmen und zu fühlen statt zu verdrängen. Und - es erfordert Aufwand. Es kostet Überwindung wahrzunehmen, Kraft, mit Hilfe von Supervision zu reflektieren, und Zeit, Notizen zu machen“ (Kupper Heilmann 2002, 45). Ich fasse noch einmal die verschiedenen Aspekte im spiegelnden Mutter-Kind-Dialog zusammen und versuche einen Zusammenhang zur pädagogischen Arbeit herzustellen. Das „gemeinsame Sein“ beim Heilpädagogischen Reiten - Spiegeln, Affektabstimmung und Attunement Ein wesentlicher entwicklungsfördernder Aspekt ist das gemeinsame Sein, die Affektabstimmung um ihrer Selbst willen, das Erleben einer Beziehung als „gut“, ohne das Kind manipulieren zu wollen. Dabei geht es darum, das Kind so zu sehen, wie es ist, und anzunehmen, was aus ihm herauskommt, und sich daran zu freuen. Auch für die pädagogische Arbeit kann das ein elementarer Bestandteil und eventuell die Grundlage für weitere Förderung sein. Hier kommt neben der Haltung der Pädagogin auch dem Pferd eine immense Bedeutung zu. Das Pferd geht unvoreingenommen auf den Klienten zu und versucht nicht, ihn zu manipulieren. Es lässt sich auf einen Bewegungsdialog mit ihm ein, der an den frühen Bewegungsdialog zwischen Mutter und Kind erinnert (Solmaz 2010). Die Kommunikation mit dem Pferd läuft auf nonverbaler Ebene ab und ist immer direkt mit Bedeutung verknüpft. Das Beziehungserleben mit dem Pferd kann somit als heilsam und nachnährend erlebt werden. Das Pferd bietet gemeinsames absichtsloses Sein auf ganz natürliche Art und Weise an, da dieses in seinem Wesen liegt. Lisa wird auf Schero durch einen von der Reitpädagogin aufgebauten Geschicklichkeitsparcours geführt. Sie soll vom Pferd aus Fahnen in dafür vorgesehene Eimer stecken. Versehentlich wirft 150 | mup 4|2010 Solmaz - Die Bedeutung früher Erfahrungen in der Mutter-Kind-Interaktion für die pädagogische Arbeit sie einen Eimer mit der Fahne um. Der Eimer fällt vom Hocker, woraufhin Schero sofort versucht, in dem Eimer nach Futter zu suchen. Verwundert und etwas irritiert schaut Lisa ihm vom Sattel aus zu. Die Reitpädagogin ahmt darauf hin ihren verwunderten Gesichtsausdruck nach - sie spiegelt Lisas Affekte, indem sie die affektgetönte Mimik und Gestik imitiert und in Sprache übersetzt: „Huch! Was macht der den da? Hoppla, jetzt will er seinen ganzen Kopf da reinstecken. So was.“ Die Pädagogin schaut Lisa in die Augen und zeigt somit ihre einfühlsame Aufmerksamkeit gegenüber den kindlichen Äußerungen. Daraufhin schmunzelt Lisa. Die Reitpädagogin macht das amüsierte Gesicht nach und sagt: „Der denkt wohl, da ist was zu fressen drin. Der will wohl seine Belohnung jetzt schon haben. Der ist aber frech.“ Sie nimmt die Affekte des Kindes wahr und teilt diese Wahrnehmung mit ihm, was dem Kind ein Gefühl von Halt und Sicherheit in der Beziehung vermittelt. Gemeinsam lachen Lisa, die Pädagogin und die Pferdeführerin. Eine gelungene Affektabstimmung hat stattgefunden, und die Beziehung wird als gut erlebt. Die „Containing-Funktion“ beim Heilpädagogischen Reiten Neben dem lustvollen gemeinsamen Sein ist ein weiterer Aspekt in der Mutter- Kind-Beziehung, die Fähigkeit der Mutter, die Affekte des Kindes auszuhalten und sie in sich aufzunehmen, um sie stellvertretend zu verarbeiten. Auch der Pädagoge kann diese Containing- Funktion erfüllen, indem er die massiven Affekte, die das Kind in ihm auslöst, aushält, eine Weile in sich bewahrt und einen „verdaulichen“ Umgang damit findet. Trescher / Finger-Trescher (1992, 107-113) heben die Bedeutung von Holding- und Containing-Funktion für die sozialpädagogische Arbeit heraus: „Holding und Containing beinhalten hier die Fähigkeit, eigene Ohnmacht und das eigene Scheitern so lange zu ertragen, bis eine Form der psychischen Verarbeitung gefunden ist. Es beinhaltet die Fähigkeit, äußere Struktur da zu schaffen, wo die innere Struktur versagt, Grenzen zu setzen, ohne diese als Medium für eigene unkontrollierbare Aggressions- und Racheimpulse zu benutzen, konstante Beziehungsangebote aufrechtzuerhalten (d. h. im Winnicott’ schen Sinne unzerstörbar zu sein), die eine Triangulierung der Objektbeziehungen zumindest partiell ermöglichen“ (Trescher / Finger-Trescher 1992, 107). Die „gute Mutter“ nach Winnicott stellt eine haltende Umwelt zur Verfügung. Sie gewährt dem Kind gute, verfügbare und konstante Objektbeziehungen, einen Reizschutz, ein übersichtliches Umfeld mit eindeutigen Grenzen und Beziehungen, in denen sich das Kind nicht hilflos ausgeliefert fühlen muss. In der pädagogischen Arbeit kann ein Rahmen diese Funktion übernehmen. Er kann das subjektive Sicherheitsgefühl aller Beteiligten erhöhen. Nach Scheuerer-Englisch (2001, 319) muss es das Ziel jeder pädagogischen Maßnahme sein, die Sicherheit der Betroffenen zu erhöhen. Er geht davon aus, dass das Grundmotiv des Bindungssystems, nämlich Sicherheit herzustellen und das Bedürfnis des Kindes, feinfühlige und altersangemessene Zuwendung, einschließlich der Erfahrung von Grenzen, zu erleben, immer aktiv ist. Selbst dann, wenn in den Erwartungen und im Verhalten scheinbar gegenläufige Strategien verfolgt werden. Für das Heilpädagogische Reiten heißt das konkret, dass die Reitpädagogin einen Rahmen vorgeben muss, der Sicherheit vermittelt und für alle Beteiligten überschaubar ist. Dies ist Teil ihrer Holding- und Containing-Funktion. Sie muss klar festlegen, wo, wann, mit wem und mit welchen Pferden das Reiten stattfindet. Diese Bedingungen muss sie verlässlich erfüllen. Auch im Falle von Krankheit des Pferdes sollte sie nicht einfach ein anderes Pferd einsetzen, sondern vielmehr gemeinsam mit dem Kind einen geeigneten Umgang damit finden. Für Kinder, für die Trennungen, Bezugspersonenwechsel, undurchsichtige Situationen und ohnmächtige Positionen traumatische Qualitäten haben, ist dieser Solmaz - Die Bedeutung früher Erfahrungen in der Mutter-Kind-Interaktion für die pädagogische Arbeit mup 4|2010 | 151 Halt, durch die bestehende Verlässlichkeit, ein wesentliches Element, um Vertrauen fassen zu können und den eigenen Wert zu erleben (Kupper- Heilmann 2002, 67). Zu den Rahmenbedingungen gehört aber auch, dass die Pädagogin für sich klärt, in wessen Auftrag sie arbeitet (Institution, Verein, Eltern), welche Erwartungen an sie herangetragen werden und ob sie bereit und in der Lage ist, diese zu erfüllen (Kupper-Heilmann 2002, 61). Für die Dauer der Maßnahme muss ein Vertrag mit den Auftraggebern geschlossen werden, der eine regelmäßige Teilnahme und Bezahlung gewährleistet. Außerdem sollte sich die Pädagogin ein Umfeld (z. B. ein Netz aus anderen Reittherapeuten oder Supervision) schaffen, in dem sie fachliche Probleme reflektieren kann (Kupper-Heilmann 2002, 59). Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang auch eine gute Ausbildung der Pferde. Die Pädagogin muss sich auf ihre Pferde verlassen können, um Unsicherheit und Stress zu vermeiden, sowohl für sich selbst als auch für ihre Pferde. Die Struktur der einzelnen Stunden kann individuell und nach Bedarf gestaltet werden. Immer wiederkehrende Abläufe oder Rituale mit eingebauten Gestaltungsfreiräumen können den Überblick erleichtern (Kupper-Heilmann 2002, 59). Alle diese Bedingungen gewährleisten ein erhöhtes Sicherheitsgefühl sowohl für die teilnehmenden Kinder als auch für die Pädagogin. In diesem Rahmen kann Kontakt und Öffnung ohne Angst stattfinden. Beim Reiten ergeben sich viele Rahmenbedingungen von selbst und erklären sich aus den natürlichen Gegebenheiten, wie der Natur des Pferdes, den Begebenheiten der Reitanlage sowie den Sicherheitsvorkehrungen im Umgang mit dem Pferd. Eine gewisse Regelmäßigkeit im Ablauf stellt sich aufgrund der realen Situation am Pferd immer von selbst ein. Mit dem Pferd hat man eine wesentliche Konstante in der Arbeit. Das Pferd ist in seiner natürlichen Art und Weise zu reagieren immer gleich und verlässlich. Wenn man sich über die Bedeutung dieser Tatsache als strukturbildende Rahmenbedingung im Klaren ist, kann man sie in der pädagogischen Arbeit bewusst einsetzen und sich zu Nutze machen. In diesem Rahmen können die Kinder einen Raum finden, in dem sie in ihrem So-Sein willkommen und erkannt sind und, vor allem, in dem sie ausgehalten werden. Die Erfahrung, vom Pferd getragen zu werden, beinhaltet das Erleben, in Beziehungen ausgehalten zu werden. „Die neue Beziehungserfahrung ist eine wesentliche: Kein Klient ist zu schwer, eklig, böse, gemein etc., um nicht vom Pferd - und in der Folge auch von der Pädagogin - ausgehalten zu werden“ (Kupper- Heilmann 2002, 155). Der Klient wird ausgehalten, sein Verhalten provoziert keinen Beziehungsabbruch, sondern stößt auf eine verstehende Haltung seitens des Pädagogen. In der Beziehung kann Sicherheit erfahren werden. Aber der Klient erlebt nicht nur, dass er in der Beziehung ausgehalten wird, er erfährt auch, dass er auf das Pferd Einfluss ausüben kann. Der Reiter kann sich als mächtig erleben, lenken und bestimmen. Seine Ohnmachtsgefühle, die im Umgang mit dem großen, starken, eigenwilligen Pferd leicht aktiviert werden können, kann er durch Aktivität überwinden. Beim Therapeutischen Reiten sind immer wieder Situationen zwischen Klient und Therapeut zu beobachten, die auf den Betrachter spielerisch und leicht wirken. Anders als es sich Eltern und andere Kostenträger vielleicht vorstellen, wird oft nicht geübt und trainiert, wie man es in unserer Gesellschaft gewohnt ist. Es wird vielmehr gespielt, gefühlt, abgewartet und beobachtet, und gerade dadurch stellt sich häufig ganz unerwartet ein Therapieerfolg ein. Das Wissen um die Bedeutung früher Mutter-Kind-Interaktionen für die menschliche Entwicklung trägt zum Verständnis dessen bei, was beim Heilpädagogischen Reiten geschehen kann, und liefert ein Theoriegerüst, an dem sich die praktische Arbeit orientieren kann. 152 | mup 4|2010 Solmaz - Die Bedeutung früher Erfahrungen in der Mutter-Kind-Interaktion für die pädagogische Arbeit Fallbeispiel aus dem Heilpädagogischen Reiten Zum oben Beschriebenen möchte ich nun ein Beispiel anführen. Es ist dem Buch „Getragenwerden und Einflussnehmen“ von Susanne Kupper-Heilmann (Kupper-Heilmann 2002, 148- 151) entnommen. Es beinhaltet selbstverständlich nicht alle genannten Aspekte, zeigt meiner Meinung nach aber sehr schön die Bedeutung der Beziehung zwischen Kind und Pädagogin für die Arbeit am Pferd. Alina, die Klientin im Fallbeispiel, lebt in dem Internat der Schule für Blinde und Sehgeschädigte. Sie war ein „Frühchen“ und musste die erste Zeit ihres Lebens im Krankenhaus in einem Brutkasten zubringen. Von der Lehrerin wird sie als „hysterisch“ beschrieben, womit diese meint, dass Alina auf Neues, Unbekanntes mit starker Angst, Schreien, Auf-den-Boden-Werfen u. a. reagiere. Dieses Verhalten könne sie überall „überfallen“ und sei unkontrollierbar, auch dann, wenn mit ihr über die auf sie zukommende Situation ausführlich gesprochen wurde. Die Lehrerin zeigt dafür kein Verständnis. 1. Termin „Als Alinas alleinige Zeit mit dem Pferd gekommen war, fragte ich (die Reitpädagogin; Anmerkung der Autorin) sie, ob sie auf Vicky aufsitzen wolle. Von Alina kam keine Antwort. Der Lehrerin, die sich vermittelnd einschalten wollte, sagte ich, dass Alina für ihre Antwort Zeit habe und dass nichts eile. Wir warteten ab. Alina nagte an ihrer Unterlippe, ihr ganzes Gesicht war in Bewegung, während ihr Körper wie erstarrt war. Nach vier Minuten sagte Alina: ‚Aber sie muss stehen bleiben.‘ Ich erklärte Alina, dass ich dies versuchen werde, ein Pferd aber ein eigenständiges Lebewesen sei, und es schon passieren könnte, dass sie sich doch etwas bewege und nicht völlig ruhig stehen bleibe. Ich fragte, ob sie das aushalten würde. Alina überlegte kurz und antwortete: ‚Ja.‘ Ich hob die steife Alina auf Vickys Rücken. Alina saß verkrampft mit viel Angst auf dem Pferd. Bei der kleinsten Bewegung von Vicky zuckte sie zusammen und fragte, was das Pferd mache. Ich erklärte ihr die Bewegungen und Geräusche des Pferdes. Alina wirkte erleichtert, als sie wieder absitzen konnte. Ohne Vicky zu klopfen, verließ sie fluchtartig deren Nähe“ (Kupper- Heilmann 2002, 148-149). 2. Termin: „Als sie an der Reihe war, drängelte sie sofort, sie wolle gleich hoch. Alina war zwar angespannt, sie wirkte jedoch nicht unangemessen angstvoll. Nachdem sie einige Zeit auf Vicky gesessen hatte, fragte sie, was denn jetzt passieren würde. Ich fragte sie, was sie denn wolle. Alina sagte: ‚Ich will, dass sie losgeht.‘ Ich fragte sie, ob sie das wirklich wolle, worauf Alina antwortete: ‚ICH will! ‘ Ich erklärte ihr, was ‚Treiben‘ sei und wie es wirke und übte mit ihr das Antreiben des Pferdes. Alina konnte all dies gut umsetzen, und sie saß gut in den Bewegungen des Pferdes. Als ich Vicky anhalten wollte, trieb Alina sofort weiter. Ich protestierte lachend und griff dies als Spiel auf: Ich kündigte das Anhalten von Vicky an, woraufhin Alina energisch vorwärts trieb und ich mich lauthals darüber ‚ärgerte‘. Es entstand eine gelöste und lustige Atmosphäre. Nach dem Absitzen klopfte Alina Vicky freundlich auf den Hals. Bei der Verabschiedung rief sie mir zu: ‚Tschüß, Frau Kupper-Heilmann, bis nächstes Mal, dann will ich aber schneller reiten! ‘ Die begleitende Lehrerin fragte mich, was denn mit Alina passiert sei, das sei ja unglaublich, ob dies denn nur das Pferd ausmache? “ (Kupper- Heilmann 2002, S. 149). Ich denke, in diesen inhaltlich unspektakulären zwei Stunden passiert auf der Beziehungsebene zwischen Alina und der Reitpädagogin Wesentliches. Die Reitpädagogin versucht nicht, Alina im Sinne einer Förderabsicht in eine bestimmte Richtung zu drängen. Sie ist am Kind und nicht an ihrer Ängstlichkeit interessiert und bringt ihre Haltung in der Interaktion zum Ausdruck, indem sie Alina fragt, ob sie aufsteigen wolle. Durch ihr Abwarten, bis Alina eine Entscheidung getrof- Solmaz - Die Bedeutung früher Erfahrungen in der Mutter-Kind-Interaktion für die pädagogische Arbeit mup 4|2010 | 153 fen hat, signalisiert sie, dass sie die Frage ernst gemeint hat und an der Antwort interessiert ist. Sie respektiert dann auch den Wunsch Alinas und informiert sie darüber, was tatsächlich passieren könnte. So zeigt sie, dass sie Alina ernst nimmt und konfrontiert sie gleichzeitig mit der Realität. Indem sie die Lehrerin davon abhält, für Alina zu antworten, stellt sie noch einmal klar, dass sie Alina als eigenständige Persönlichkeit wahrnimmt und ihr zutraut, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Die Reitpädagogin ist auch in der Lage, die Angst des Kindes auszuhalten, ohne gleich abwehrend zu reagieren (Containment). So hat Alina die Möglichkeit, ihre Angst selbst zu spüren, sie differenziert wahrzunehmen und einen Umgang damit zu finden. In den vier Minuten, die sie für ihre Entscheidung braucht, ist sie offensichtlich innerlich sehr intensiv bewegt und beschließt letztlich, dass sie die Überwindung aufbringen kann, auf das Pferd aufzusteigen, nicht aber, um loszugehen. Im Anschluss an die Fallbeschreibung erläutert Kupper-Heilmann, dass sie versuchte, sich vorzustellen, welchen Übergriffen und Ängsten Alina nach ihrer Geburt, während der Behandlung im Krankenhaus, ganz ohne Einflussmöglichkeiten, ausgesetzt war. Sie verstand ihre Angst vor Neuem und Unberechenbarem als Erinnerung an diese traumatisierenden Erlebnisse. Etwas, das sie überfällt, überrascht, etwas mit ihr macht, reaktiviere so ihr frühstes Trauma (Kupper-Heilmann 2002, 150). Sie sieht also Alinas Angst nicht als etwas Sinnloses, das schnell „weg-therapiert“ werden muss, sondern verleiht der Angst vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte eine Bedeutung. Sie nimmt ihr gegenüber eine intentionale Haltung ein, da sie annimmt, dass sich ihr Verhalten am besten aufgrund von geistigen Prozessen erklären lässt. Daraufhin bietet sie ihr die Möglichkeit zur Einflussnahme und vermittelt ihr eine reiterliche Hilfe zur Beeinflussung des Pferdes. Ich vermute, dass Alina die frühe Erfahrung des gemeinsamen, absichtslosen Seins mit ihrer Mutter wahrscheinlich größtenteils genommen wurde. Die medizinische Versorgung musste in den Vordergrund treten und Mutter und Kind wurden getrennt. Sie hatte nicht die Möglichkeit, ihre Umwelt und ihre Beziehungen als gut zu erleben. Die Mutter konnte nicht als verfügbar und feinfühlig erfahren werden, ihre Affekte fanden keine Regulation in den Handlungen der Mutter, da gewisse medizinische Behandlungen gewährleistet werden mussten (Brisch 2000, 91-103). Ich denke, dass man vor diesem Hintergrund dem gemeinsamen „Anhalten und losgehen lassen“-Spiel eine besondere Bedeutung beimessen kann. Eine Affektabstimmung hat stattgefunden und das gemeinsame Sein um seiner Selbst willen wurde genossen (Attunement). Alina konnte ihren Wert, sich selbst als liebenswert erfahren und Gemeinsamkeit ohne Angst vor dem Ausgeliefert-Sein erleben. Dass sie bei der Verabschiedung ruft, sie wolle nächstes Mal sogar schneller reiten, zeigt, dass sie gestärkt aus dieser Erfahrung herausgeht. Eine solche Entwicklung ist nur aufgrund der akzeptierenden, verstehenden Haltung der Pädagogin möglich. Hätte sie versucht, Alina zur Überwindung ihrer Angst zu bewegen, hätte sie das Kind wieder in eine Position gedrängt, in der es sich passiv ausgeliefert fühlen muss. Die Reitpädagogin räumt aber den frühen Interaktionserfahrungen des Kindes, seinem Verhalten und dem aktuellen Beziehungsgeschehen in der pädagogischen Situation Platz ein und gesteht ihm Bedeutung zu. Ich denke, eine solche Haltung einzunehmen ist ihr nur aufgrund entsprechenden theoretischen Hintergrundwissens über frühe Interaktionsprozesse und Bindungsbeziehungen möglich. Schlussbemerkung Wenn das Wissen um die Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Interaktion während der praktischen Arbeit präsent ist, können beziehungsrelevante Situationen als solche erkannt werden und bei entsprechender Reaktion der Pädagogin von dem Klienten als 154 | mup 4|2010 Solmaz - Die Bedeutung früher Erfahrungen in der Mutter-Kind-Interaktion für die pädagogische Arbeit heilsam erlebt werden. Gerade unspektakulär wirkende und spielerische Momente werden so nicht mehr nur vage als bedeutungsvoll erlebt, sondern es wird möglich, ihre Bedeutung klar zu erkennen und theoretisch zu begründen. Gerade Pädagoginnen, die sich mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, sie spielen ja nur - sei es von außen oder durch ihre eigene kritische Haltung -, erkennen so die Bedeutung ihrer Arbeit. In vielen Fällen kann das gemeinsame absichtslose Sein im Hier und Jetzt gemeinsam mit dem Pferd wesentlich wertvoller für die Persönlichkeitsentwicklung des Klienten sein als das Üben und „Beseitigen“ von Defiziten. Literatur Baldeo, C, Schlichtmeier, V. (2010): Reit- ■ therapie für Flüchtlingskinder. In: Mensch und Pferd international 2, 52-62 Brisch, K. H. (2000): Schutz- und Risikofaktoren ■ für die Bindungsfähigkeit von Frühgeborenen - Grundlagen und präventive Psychotherapie. In: Koch-Kneidl, L.; Wiesse, J. (Hrsg.): Frühkindliche Interaktion und Psychoanalyse. 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V. tätig Anschrift: Eva Solmaz · Im Fiedlersee 37 D-64291 Darmstadt E-Mail: evasolmaz@hotmail.com Die Autorin
