mensch & pferd international
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Praxistipp: Stundenbild zur Arbeit mit bindungsgestörten Kindern in der Reittherapie
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Annette Gomolla
Die Arbeit mit bindungsgestörten Kindern ist komplex, und der Therapeut muss neben fachlicher Kompetenz sehr flexibel in der Stundengestaltung sein. Einen einfachen "Fahrplan" gibt es für diese Kinder nicht. Sie sind in der grundlegenden Fähigkeit der Beziehungsaufnahme und -gestaltung schwer beeinträchtigt, und dies ist keine Fertigkeit, die sich durch spezielle Aufgaben "trainieren" lässt. Daher wird an dieser Stelle der Fall eines siebenjährigen Mädchens mit Bindungsstörung exemplarisch vorgestellt, ohne dass dies als Standardanleitung angesehen werden darf.
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Annette Gomolla mup 2|2011|85-87|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel | 85 Praxistipp Stundenbild zur Arbeit mit bindungsgestörten Kindern in der Reittherapie Fallbeispiel Regine Die Arbeit mit bindungsgestörten Kindern ist komplex, und der Therapeut muss neben fachlicher Kompetenz sehr flexibel in der Stundengestaltung sein. Einen einfachen „Fahrplan“ gibt es für diese Kinder nicht. Sie sind in der grundlegenden Fähigkeit der Beziehungsaufnahme und -gestaltung schwer beeinträchtigt, und dies ist keine Fertigkeit, die sich durch spezielle Aufgaben „trainieren“ lässt. Daher wird an dieser Stelle der Fall eines siebenjährigen Mädchens mit Bindungsstörung exemplarisch vorgestellt, ohne dass dies als Standardanleitung angesehen werden darf. Fallgeschichte Regine (Name geändert), 6 Jahre, Verdacht auf Bindungsstörung Regine lebt seit vier Jahren bei einer Pflegemutter. Die leibliche Mutter hat Regine als 19-Jährige bekommen, das Kind wurde innerhalb einer Vergewaltigung gezeugt. Daher lehnte die Mutter das Kind von Geburt an ab. Nach zwei Jahren wurde deutlich, dass Regine immer wieder emotional vernachlässigt wurde und wenig Zuwendung und Förderung erhielt. Sie zeigte neben extremen Trotzanfällen eine deutlich rückständige Sprachentwicklung. So kam Regine zu ihrer heutigen Pflegemutter, bei der sie in Vollzeitpflege lebt. Das Erstgespräch bei der Reittherapeutin verdeutlicht die weiterhin bestehenden Schwierigkeiten des Kindes. Es zeigt sich zuerst sehr unsicher gegenüber der fremden erwachsenen Person und drückt sich an die Pflegemutter. Dann löst sie sich von ihr ab und rennt ungestüm über den Hof. Sie lässt sich auf die Ermahnungen der Pflegemutter nicht ein, und erst ein sehr strenger Tonfall lässt sie zurückkehren. Dabei ist ihr Gesichtsausdruck eindeutig - sie ist wütend und zieht sich beleidigt zurück. Wenn sie spricht, ist es für Außenstehende sehr schwer verständlich. Eine Fehlartikulation und Dysgrammatismus bedürfen der Übersetzung durch die Pflegemutter. Diese berichtet, dass Regine bereits in einer Spieltherapie war und sich zur Zeit in logopädischer Behandlung befindet. Regine wurde bereits dreimal im Sozialpädiatrischen Zentrum vorgestellt, und sie hat eine Integrationsbegleitung im Kindergarten. Regine spielt wenig bis gar nicht mit anderen Kindern und ist extrem egozentrisch. Der Auftrag für die Reittherapie wird festgelegt auf die Fernziele der stabilen Beziehungsaufnahme zu einem Pferd, einer verbesserten emotionalen Regulation und sprachlichen Ausdrucksfähigkeit. Stundenbeschreibung Der Beginn mit Begrüßung der Reittherapeutin und des Pferdes folgt einem Ritual, um dem Kind das Gefühl von Struktur und damit Sicherheit zu vermitteln: Ich treffe das Kind immer am Parkplatz und begleite es zusammen mit der Pflegemutter zum Stalleingang. Dort trennt es sich von der Pflegemutter, indem es sie kurz in den Arm nimmt. Dann 86 | mup 2|2011 Gomolla - Stundenbild zur Arbeit mit bindungsgestörten Kindern in der Reittherapie geht sie mit mir zusammen zum Paddock, auf welchem sich das Bezugspferd, eine Norweger- Stute, allein befindet. Wir bleiben zuerst vor dem Zaun stehen und überlegen, wie es dem Pferd und auch dem Kind heute geht. Dann betreten wir den Paddock und streicheln das Pferd, um den Kontakt zu intensivieren. Regine hat gelernt, sich langsam dem Pferd zu nähern, anfänglich war sie sehr stürmisch, so dass das Pferd einige Schritte zurückging. Mittlerweile kann sie sich langsam annähern und lässt sich von der Stute zur Begrüßung am Handrücken beschnuppern. Auch darf sie sich dann an die Brust des Pferdes kuscheln. Danach bringen wir das Pferd zusammen an Strick und Halfter an den Putzplatz. Das nachfolgende Putzen intensiviert die Kontaktaufnahme zum Pferd und gibt dem Kind wieder eine positive Struktur. Das Putzen hat eine gebende Rolle, was Kindern mit Bindungsstörungen nicht immer leicht fällt. Beim Putzen soll das Kind begleitet werden, indem gemeinsam geputzt wird. Falls die Motivation sehr schnell nachlässt, kann das Kind zum Beispiel durch Schmücken des Pferdes wieder gebunden werden. Regine lässt sich schnell ablenken und möchte nicht weiter putzen. Sie rennt in den Stall und wirft mit Einstreu um sich. Sie möchte Fohlen spielen, wiehert unangenehm laut und kreischend, rennt in der Box auf und ab. Ich führe ihr Bezugspferd zum Stalleingang und warte ab. Dann betrete ich die (geräumige) Box mit dem Pony, und durch diese direkte Konfrontation hört Regine auf zu rennen und streichelt ihr Bezugspferd. Die Gelegenheit nehme ich wahr und sage ihr die Regel, dass wir erst das Pferd fertig machen, danach zum Reiten auf den Reitplatz gehen und sie zum Ende der Stunde noch einmal zehn Minuten Zeit bekommen wird, um mit mir zusammen Stute und Fohlen zu spielen. Regine lässt sich darauf ein und geht mit mir und dem Pferd zurück zum Anbindeplatz. Die Arbeit mit Regine hat verdeutlicht, dass ein stetiges reines Begleiten der Dynamiken des Kindes nicht sinnvoll ist, da sie sich in verschiedene Aktivitäten steigert und dann in Gefahrensituationen hineinmanövriert. Sie aus diesen Situationen mit deutlich klarem Verhalten herauszuholen bewirkt bei ihr meist wütende Reaktionen und extremen Rückzug bis hin zu temporärem Beziehungsabbruch. Daher wird Regine von Beginn an mit überschaubaren Aufgaben konfrontiert, ohne dass zu lange Pausen entstehen. Das engmaschige und durch klare Abmachungen gestaltete Vorgehen führte über etwa zwölf Einheiten zu einem Nachlassen der Trotzreaktionen und einer positiven Beziehung zur Reittherapeutin. Zum Pferd war die Beziehung von Beginn an wahrnehmbar. Gegenüber der Stute wurde nie mit Rückzug oder „Spielchen“ reagiert, das Interesse war konstant gleichbleibend, daher war es die Aufgabe des Pferdes, das Kind immer wieder in schwierigen, unregulierten Momenten aus seinem Rückzug zu befreien. Regine sitzt auf dem Pferd, und ich schlage ihr vor, sich umzudrehen und rückwärts zu reiten. Das lehnt sie vehement ab. Ich nehme mir ein Chiffontuch und sage ihr, dass sie ihr Pony mit dem Tuch schmücken könnte. Sie nimmt das Tuch und hängt es über die Mähne des Pferdes. Das nächste Tuch knotet sie an den Voltigiergurt, wieder ein Tuch hängt sie hinter sich über die Kruppe. Ich bewundere den Schmuck. Sie möchte nun das Pony anschauen und will absteigen. Ich sage, dass sie dann nicht wieder aufsteigen kann, denn ich habe bereits gelernt, dass Regine ansonsten ständig nur noch rauf und wieder runter klettern möchte. Sie bleibt sitzen und wir vereinbaren, dass wir noch ein Spiel auf dem Pferderücken machen und sie danach absteigen kann. Bei dem Spiel darf sie mir sagen, zu welchen Buchstaben in der Halle ich das Pferd führen soll. Dann steigt sie ab und beginnt, in der Halle mit lautem Kreischen und Wiehern herumzulaufen. Ich nehme das Pad und den Voltigier- Gomolla - Stundenbild zur Arbeit mit bindungsgestörten Kindern in der Reittherapie mup 2|2011 | 87 gurt vom Pferd ab, wobei die Tücher auf dem Rücken des Pferdes liegen bleiben. Dann lasse ich das Pony vom Strick los und es nähert sich in meiner Begleitung langsam dem Mädchen. Regine bleibt stehen, schaut, rennt dann wieder los. Die Stute folgt ihr erst, dreht dann aber ab und legt sich zum Wälzen auf den Boden. Regine sieht das und bleibt erstaunt stehen. Dann lacht sie, freut sich, läuft zu mir und sagt „Sie liegt im Dreck! “ Ich erkläre ihr, dass sich Pferde gerne wälzen und sich dabei wohl fühlen. Das Pony steht wieder auf, schüttelt sich und brummelt. Regine schüttelt sich auch, macht das Pferd nach und wirkt emotional ganz gelöst. Danach können wir zusammen das Pony aus der Halle führen. Bei Regine haben sich einfache Spiele und Aufgaben bewährt, mit einzelnen Materialien wie Tüchern oder einem Schwungband. Ebenfalls lernte sie das Rückwärtsdrehen auf dem stehenden Pferd, und sie konnte sich über mehrere Stunden das entspannte Liegen auf der Kruppe erarbeiten. Bei diesem großflächigen Körperkontakt wurde sie sehr ruhig und sichtlich entspannt. Bei Spaziergängen in den Wald haben wir immer ein ganz einfaches Kinderlied gesungen. Zusammenfassender Rückblick nach zwanzig Therapiestunden Regine hat sich innerhalb des Settings gut entwickelt. Sie hat nach einer längeren Phase der Vertrauensbildung gelernt, adäquat auf das Pferd zuzugehen, und hat von Beginn an eine positive Beziehung zum Pferd aufgebaut. Zur Reittherapeutin wurde dies durch klare Abmachungen ebenfalls über die Zeit stabiler. Die Handlungsabläufe wurden von Regine kontinuierlicher durchgeführt und sie lernte, längere Aufgabenstellungen umzusetzen. Im Alltag gab es, laut Aussage der Pflegemutter, kleine Veränderungen in der emotionalen Regulation, wobei es immer wieder Höhen und Tiefen gab. Allerdings gab es vermehrt gute Tage ohne extreme Wutausbrüche. Sprachlich gab es große Fortschritte. Das Mädchen erweiterte seinen Wortschatz und verbesserte die Artikulation. Auch ihre Sprechfreude nahm deutlich zu. Die Reittherapie endete aufgrund fehlender Folgefinanzierung. Allerdings wurde das Mädchen vor Auslaufen der Reittherapie zu einer Psychotherapeutin in Behandlung gegeben, so dass sie weiterhin therapeutisch begleitet wurde. Den Schuleintritt in eine Sprachheilschule meisterte Regine ohne weitere Probleme, und sie fand dort eine Freundin. Sicherlich wurde die Bindungsproblematik nicht vollständig aufgehoben, doch wurde sichtbar, wie gut und stabil Regine die Beziehung zum Pferd aufgenommen hatte. Des Weiteren führten die gleichmäßigen Schrittbewegungen und das entspannte Liegen auf der Kruppe zu einer verbesserten inneren Regulation. Durch die verbesserten Sprachfähigkeiten wurde der Kontakt im sozialen Umfeld für das Mädchen einfacher, so dass abschließend von einer erfolgreichen Intervention gesprochen werden kann, was sich in der Rückmeldung von Kind und Pflegemutter bestätigte. Dr. rer. nat. Annette Gomolla Dipl.-Psychologin, Leiterin des Fort- und Weiterbildungsinstituts für Pferdegestützte Therapie - IPTh in Konstanz, langjährige reittherapeutische Arbeit mit Kindern und Erwachsenen mit dem Schwerpunkt Kombination Reittherapie und Traumatherapie Anschrift: Dr. rer. nat. Annette Gomolla · Robert-Gerwig-Str. 12 D-78465 Konstanz · 07531-3616120 · A.Gomolla@ipth.de Kontakt
